Rz. 4

Die Vorlagepflicht besteht für Urkunden. Urkunde i. S. d. Norm ist eine in Schriftzeichen verkörperte oder auf Daten- und Bildträger festgehaltene Gedankenerklärung, die allgemein oder für Eingeweihte verständlich ist, den Urheber erkennen lässt und zum Beweis eines rechtlich erheblichen Sachverhalts geeignet ist.[1] Hierunter fallen nach der beispielhaften Aufzählung des § 97 Abs. 1 AO Bücher, Aufzeichnungen, Geschäftspapiere und andere Urkunden. Der Urkundenbegriff des § 97 AO ist umfassend. Erfasst werden nicht nur notarielle Urkunden und die nach § 147 Abs. 5 AO aufbewahrungspflichtigen Unterlagen, sondern neben Buchführungskonten, Journalen, Primanoten, Summen- und Saldenlisten[2] sowie statistischen Unterlagen für betriebsinterne Zwecke auch Protokolle über Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen[3], Handakten eines Notars[4], Spendenbescheinigungen und Konto- bzw. Depotauszüge der Banken.[5]

 

Rz. 5

Für die Urkundeneigenschaft ist es unerheblich, ob die Gedankenäußerung von vornherein für Beweiszwecke bestimmt war (sog. Absichtsurkunde, z. B. Quittung) oder aber erst im Verfahrensgang als Beweismittel bedeutend wurde (sog. Zufallsurkunde, z. B. Korrespondenz). Auf den Beweiszweck der Urkunde kommt es also nicht an.[6] Eine Urkunde muss weder ihren Aussteller erkennen lassen noch unterschrieben sein. Keine Urkunden i. S. d. § 97 AO sind dagegen bloße Beweiszeichen. Diese können nur Gegenstand einer Augenscheinseinnahme sein.[7]

 

Rz. 6

Die Vorlagepflicht umfasst alle tatsächlich vorhandenen Urkunden, die sich in der Verfügungsmacht des Beteiligten oder der anderen Person befinden bzw. hinsichtlich derer ein Herausgabeanspruch gegen den unmittelbaren Besitzer besteht.[8] Weigert sich der Vorlageverpflichtete, einen ihm zustehenden Herausgabeanspruch geltend zu machen, so läuft er Gefahr, sich dem Vorwurf der Beweisvereitelung und der Verletzung von Mitwirkungspflichten auszusetzen.[9] Regelmäßig unzumutbar ist aber ein Vorlageverlangen, das nur nach gerichtlicher Durchsetzung des Herausgabeanspruchs erfüllbar wäre.[10] Zudem muss die Finanzbehörde das Vorlageersuchen auf einen Anhaltspunkt stützen, dass die Existenz und Verfügungsbefugnis des Aufgeforderten bezüglich der Urkunde stützt und eine gewisse Auffindewahrscheinlichkeit rechtfertigt. Ermittlungen ins Blaue hinein belasten den Stpfl. unverhältnismäßig und sind daher unzulässig.[11] Die Finanzbehörde kann sich in solchen Fällen unmittelbar an den Dritten wenden. Bei Urkunden, die mit einem Auslandssachverhalt in Zusammenhang stehen, kann sich der Betroffene allerdings nicht darauf berufen, dass ihm die angeforderten Unterlagen nicht zur Verfügung stehen.[12] Er muss die Urkunden beschaffen.

 

Rz. 7

Die Pflicht zur Vorlage besteht nicht nur bei ausdrücklicher gesetzlicher Regelung, sondern in allen Fällen steuerlicher Relevanz. Sie ist auch nicht auf Unterlagen beschränkt, bezüglich derer nach speziellen steuerlichen Vorschriften eine Aufbewahrungspflicht besteht.[13] Denn § 97 AO ist Rechtsgrundlage für die Vorlage aller tatsächlich vorhandenen, verfügbaren Unterlagen.[14] So folgt aus der fehlenden Pflicht des Beteiligten, private Unterlagen oder Urkunden im steuerlichen Interesse aufzubewahren, auch nicht ein Beweisverbot des Inhalts, dass sich die Finanzbehörde die zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen Unterlagen nicht über einen Dritten beschaffen darf. Eine ggf. auch mit Zwangsmitteln durchsetzbare Vorlagepflicht entsteht erst mit der Konzentration auf eine oder mehrere konkret durch die Finanzbehörde benannten Urkunden. Inwieweit ein Beleg für eine erklärte Besteuerungsgrundlage angefordert wird, richtet sich stark nach der individuellen Arbeitsbelastung des FA und der dort eingesetzten Beschäftigten, sowie den Einstellungen des eingesetzten Risikomanagementsystems.

 

Rz. 8

§ 97 AO kann jedoch nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden, um den Betroffenen zur Herstellung und Aufbewahrung von Urkunden zu verpflichten.[15] Diese Pflichten ergeben sich vielmehr aus den Einzelsteuergesetzen, anderen Vorschriften der AO und sonstigen Normen.

[1] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 97 AO Rz. 2; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2022, § 97 Rz. 8; FG Münster v. 22.8.2000, 6 K 2712/00 AO, EFG 2001, 4.
[5] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 97 AO Rz. 2 mit weiteren Beispielen.
[6] Roser, in Gosch, AO/FGO, § 97 AO Rz. 4.
[7] Schuster, in HHSp, AO/FGO, § 97 AO Rz. 6; Helsper, in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 97 Rz. 3.
[8] BFH v. 11.8.1992, VII R 90/91, BFH/NV 1993, 346; BFH v. 23.8.1994, VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2022, § 97 Rz. 9; Roser, in Gosch, AO/FGO, § 97 AO Rz. 9.
[9] Koenig/Haselmann, AO, 4. Aufl. 2021, § 97 Rz. 6.
[10] BFH v. 23.8.1994, VII R 134/92, BFH/NV 1995, 570 zum Verhältnis Geschäftsführer/Konkursverwalter.
[11] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 97...

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