Rz. 426

[Autor/Stand] Das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Akteneinsichtsrechts (s. Rz. 396 ff.) wird häufig verkannt. Der Verteidiger hat einen sofortigen und umfassenden Einsichtsanspruch, der nur bis zum Abschlussvermerk im Ermittlungsverfahren (§ 169a StPO) und nur, "soweit dies den Untersuchungszweck gefährden kann"(§ 147 Abs. 2 StPO) begrenzt werden darf. Eine darüber hinausgehende Versagung ist rechtswidrig. Dies gilt auch, wenn der Verteidiger, z.B. der verteidigende Alt-Steuerberater des Beschuldigten, als Zeuge in Betracht kommt oder als solcher in der Anklage benannt wird; die Verteidigerstellung verdrängt das fehlende Akteneinsichtsrecht des Zeugen.[2]

 

Rz. 427

[Autor/Stand] Eine solche Gefährdung ist aber nur dann anzunehmen, wenn bei objektiver Beurteilung tatsächliche oder aufgrund allgemeiner Erfahrungen erkennbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass bereits vorbereitete Untersuchungshandlungen, deren Erfolg vom Überraschungseffekt abhängt, wie z.B. bei einer bevorstehenden Durchsuchung,[4] vereitelt werden könnten.

 

Rz. 428

[Autor/Stand] Zutreffender Ansicht nach wird man für eine Beschränkung gem. § 147 Abs. 2 StPO eine konkrete Gefahr voraussetzen müssen,[6] wobei selbst nach der Gegenansicht eine nur vage, sehr entfernte Möglichkeit einer Gefährdung nicht ausreicht.[7] Unzulässig sind auch lediglich taktische Erwägungen der FinB oder StA, wie z.B. die Absicht, aktuelle Ermittlungsergebnisse im Hinblick auf eine unmittelbar bevorstehende Vernehmung des Beschuldigten oder eines Zeugen vorzuenthalten.[8] Ebenfalls nicht ausreichend ist die allgemeine Gefahr, dass sich der Beschuldigte aufgrund der Kenntnis des Akteninhalts zur Verdunklung oder zur Flucht entschließen könnte. Insoweit besteht lediglich die Möglichkeit des Erlasses eines Haftbefehls (s. hierzu näher § 385 Rz. 497 ff.).

 

Rz. 429

[Autor/Stand] n der Folge entsprechender EGMR-Rspr.[10] bestehen gem. § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO die Restriktionen im Falle der U-Haft nicht mehr; der Verteidiger des inhaftierten Beschuldigten hat ein nicht beschränkbares Recht auf Zugang zu den für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen.[11] Eine mündliche Information oder schriftliche Zusammenfassung durch Gericht oder StA reicht nicht aus. Bei der Haftentscheidung dürfen Teile der Akten, die der Verteidigung zuvor vorenthalten wurden, nicht zugrunde gelegt werden.[12]

 

Rz. 430

[Autor/Stand] Ein unbeschränktes Einsichtsrecht, also selbst bei tatsächlicher Gefährdung des Untersuchungszwecks (!), hat der Verteidiger gem. § 147 Abs. 3 StPO in die Niederschriften über die Vernehmung des Beschuldigten und über richterliche Untersuchungshandlungen, bei denen der Verteidiger ein Anwesenheitsrecht hat (s. Rz. 383), sowie in vorliegende Sachverständigengutachten.

 

Rz. 431

[Autor/Stand] Die Beschränkung der Akteneinsicht muss aufgehoben werden, wenn der Versagungsgrund wegfällt, spätestens mit dem Abschluss der Ermittlungen (§ 147 Abs. 2 i.V.m. § 169a StPO). Die FinB oder StA hat dem Verteidiger unverzüglich mitzuteilen, sobald das Recht auf Akteneinsicht uneingeschränkt besteht (§ 147 Abs. 6 StPO). Soweit bereits ein Antrag auf Akteneinsicht gestellt und abgelehnt worden war, muss diesem nunmehr entsprochen werden; erst danach darf Anklage erhoben werden.[15] Stellt der Verteidiger dabei fest, dass die ihm gegenüber behauptete Gefährdung des Ermittlungszwecks nicht dokumentiert wurde oder ersichtlich nicht vorhanden war, kommt eine Dienstaufsichtsbeschwerde in Betracht.[16]

 

Rz. 432

[Autor/Stand] Akteninhalt, der entgegen bestehender Offenbarungsverpflichtung nicht zugänglich gemacht wurde, darf nicht zu Lasten des Beschuldigten/Angeklagten verwertet werden (s. Rz. 422, 432).

 

Rz. 433– 435

[Autor/Stand] Einstweilen frei.

[Autor/Stand] Autor: Heerspink, Stand: 01.05.2020
[2] Randt in JJR8, § 392 AO Rz. 79.
[Autor/Stand] Autor: Heerspink, Stand: 01.05.2020
[4] Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt62, § 147 StPO Rz. 25 m.w.N.; a.A. Burkhard, wistra 1996, 173; Eisenberg, NJW 1991, 1260.
[Autor/Stand] Autor: Heerspink, Stand: 01.05.2020
[6] Schlothauer in Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung2, § 3 Rz. 39; Burkhard, wistra 1996, 173; a.A. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt62, § 147 StPO Rz. 25 m.w.N.
[7] Schlothauer, StV 2001, 195; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt62, § 147 StPO Rz. 25; weitergehend Kempf, StraFo 2004, 300.
[8] So zutr. Randt in JJR8, § 392 AO Rz. 90.
[Autor/Stand] Autor: Heerspink, Stand: 01.05.2020
[10] Vgl. EGMR v. 13.2.2001 – 24479/94, NJW 2002, 2013 = StV 2001, 201 m. Anm. Kempf; EGMR v. 13.12.2007 – 11364/03, StV 2008, 475; bestätigt durch die Große Kammer des EGMR v. 9.7.2009 – 11364/03, EuGRZ 2009, 566 (578); vgl. auch BVerfG v. 11.7.1994 – 2 BvR 777/94, NJW 1994, 465; BVerfG v. 27.10.1997 – 2 BvR 1769/97, NStZ RR 1998, 108; BGH v. 28.9.1995 – 7 StB 54/95, NJW 1996, 734.
[11] Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt62, § 147 StPO Rz. 26 m.w.N.
[12] Vgl. BT-Drucks. 16/11644, 34.
[Autor/Stand] Autor: Heerspink, Stand: 01.05.2020
[Autor/Stan...

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