Rz. 53

[Autor/Stand] Die Bestimmung des durch § 370 AO geschützten Rechtsguts wirkt sich im Wesentlichen für die Auslegung der Tatbestandsmerkmale, die Konkurrenzen und den Beginn der Verfolgungsverjährung aus. Die Frage ist nach wie vor umstritten. Weder die Begr. zum Regierungsentwurf (§ 353 RegE[2]) noch die Stellungnahme des BR[3] und der Bericht des Finanzausschusses[4] geben näheren Aufschluss. Nach h.M.[5], insb. nach der Rspr., sichert der Steuerhinterziehungstatbestand das "öffentliche Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen der einzelnen Steuern"[6] oder anders formuliert den "Anspruch des Staates auf den vollen Ertrag aus jeder einzelnen Steuerart"[7].

Demgegenüber sind die Ansichten im Schrifttum über das geschützte Rechtsgut geteilt. Geltend gemacht wird etwa, dass nach dem geltenden Steuersystem geschütztes Rechtsgut nur der Anspruch des Staates auf pflichtgemäße Offenbarung der Tatsachen sein könne, die der Sachverhaltsvermittlung an die FinB dienten und die in den einzelnen Steuergesetzen festgelegt seien[8]. Sicherte § 370 Abs. 1–5 AO aber tatsächlich nur den Anspruch auf Vermittlung des steuerlich erheblichen Sachverhalts, bleibt unverständlich, weshalb in § 370 Abs. 1 AO neben den unrichtigen oder unvollständigen Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen noch der Eintritt der Steuerverkürzung verlangt wird[9]. Bei § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO ist eine Sachverhaltsvermittlung an die FinB zudem gar nicht vorgesehen.

Nach anderer Auffassung ist geschütztes Rechtsgut der äußere Bestand der Ansprüche auf Entrichtung von Steuern, Zöllen und Einfuhrabgaben[10]. Die Steuerhinterziehung sei systematisch ein dem Diebstahl verwandtes Delikt, weil der Staat als Gläubiger der Ansprüche davor geschützt werden solle, dass ihm auf dem Wege der Verletzung steuerrechtlicher Sachaufklärungspflichten etwas entzogen werde; dies ergebe sich daraus, dass die Nichtentrichtung von Steuern, Zöllen und Einfuhrabgaben als solche nicht strafbewehrt sei. Gegen diese Auffassung wird geltend gemacht, dass § 370 AO nicht das Nehmen, sondern das Verhindern des "Nehmenlassens" bestrafe, die Vorschrift also eher der des § 170 StGB ähnele[11]. Durch das Täuschungserfordernis des § 370 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO wird aber insb. die Verwandtschaft zu § 263 StGB deutlich: Durch falsche bzw. unterlassene Angaben verzichtet der Staat auf das Geltendmachen ihm nach den Steuergesetzen zustehender Ansprüche und verfügt damit zu eigenem Nachteil über Vermögenswerte[12]. Als weitere Schutzgüter werden u.a. das beitragspflichtige Vermögen aller Stpfl.[13], das Besteuerungssystem als Ganzes[14], die Steuerhoheit[15] oder die soziale Funktion des Steueraufkommens genannt. Nach Auffassung von Salditt[16] schützt § 370 AO hingegen die gerechte und gleichmäßige Lastenverteilung nach dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit, was u.a. dazu führen soll, dass eine Bestrafung in Fällen der Verkürzung von als verfassungswidrig festgestellten Steuern zu unterbleiben habe, wenn auch nach den Regeln des Steuerrechts die Verfassungswidrigkeit für eine Übergangszeit pragmatisch geduldet werde. Da der Verbrauchsbesteuerung kein rationales Prinzip zugrunde liege, fehle insoweit einer ganzen Steuerart der Gerechtigkeitswert. Eine strafrechtliche Sanktion wegen Verkürzung derartiger Steuern müsse wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot unterbleiben. Gegen diese Auffassung spricht aber deutlich, dass die bloße Ungerechtigkeit einer nicht für verfassungswidrig und damit nichtig erklärten Steuer kaum die Nichtanwendung einer Strafnorm rechtfertigen kann[17]. Gleiches gilt dann, wenn die Weitergeltung einer für mit dem GG für unvereinbar erklärten Steuernorm für einen Übergangszeitraum angeordnet wird (s. Rz. 1482 ff., 1504 ff.)[18]. Dem Staat sollen dann die Einkünfte aus dieser Steuer für diesen Zeitraum weiterhin zufließen, was auch den strafrechtlichen Schutz dieses Vermögenswertes rechtfertigt. Auch die übrigen Erklärungsansätze zur Rechtsgutsbestimmung überzeugen nicht, handelt es sich dabei doch um bloße kriminalpolitische und steuerpolitische Schutzreflexe der gesetzlichen Regelungen[19]. Die Steuerhoheit und das Besteuerungssystem als Ganzes werden zudem durch die inkriminierten Handlungen nicht tangiert[20].

 

Rz. 54

[Autor/Stand] Selbst wenn man berücksichtigt, dass sich § 370 AO nicht nur auf inländische Steuern (Abs. 1–5) bezieht, sondern tatbestandlich ebenfalls Einfuhr- und Ausfuhrabgaben erfasst, die von einem anderen Mitgliedstaat der EU verwaltet werden oder die einem Mitgliedstaat der Europäischen Freihandelsassoziation bzw. einem mit dieser assoziierten Staat zustehen (Abs. 6), lässt sich als gemeinsames Rechtsgut der Norm zwanglos "das öffentliche Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen der Steuern" festmachen, das gegen die in § 370 Abs. 1 Nr. 1–3 AO bezeichneten Handlungen oder Unterlassungen geschützt wird[22]. Die Steuerhinterziehung ist ein Angriff auf die Vermögensinteressen des steuererhebenden Staates und damit ein Verm...

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