Leitsatz

1. Beträgt die positive oder die negative Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und § 24a EStG, jeweils mehr als 800 DM (410 €), ist eine Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG von Amts wegen durchzuführen.

2. Eine künftige mit Rückwirkung versehene Gesetzesänderung ist kein Rechtsverhältnis, dessen Bestehen oder Nichtbestehen für die Entscheidung des Rechtsstreits vorgreiflich ist (Anschluss an BFH-Urteil vom 17.5.1984, IV R 75/80, juris).

 

Normenkette

§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG, § 74 FGO

 

Sachverhalt

Der Kläger reichte seine ESt-Erklärung für das Streitjahr 1997 im Jahr 2003 beim FA ein. Neben Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit i.H.v. 58.836 DM erklärte er negative Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 44.432 DM. Daneben machte er einen Verlustabzug gem. § 10d EStG lt. Feststellungsbescheid zum 31.12.1996 i.H.v. 213.664 DM (!) geltend.

Das FA lehnte die Durchführung der ESt-Veranlagung ab. Die Klage hatte keinen Erfolg.

 

Entscheidung

Entsprechend den Grundsätzen in den Urteilen in BFH-PR 2006, 474 und BFH-PR 2006, 475 hob der BFH die Vorentscheidung auf und verpflichtete das FA, den Kläger zur ESt 1997 zu veranlagen. Aus Gründen des individuellen Rechtsschutzes sei es nicht geboten, die Rechtsänderung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG abzuwarten.

 

Hinweis

1. In seinen Urteilen vom 21.9.2006, VI R 47/05, BFH-PR 2006, 474 und VI R 52/04, BFH-PR 2006, 475 hatte der VI. Senat entschieden, dass eine Veranlagung von Amts wegen gem. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nicht nur dann durchzuführen ist, wenn die positive Summe der Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren (Nebeneinkünfte), den Betrag von 800 DM (410 €) übersteigt, sondern auch dann, wenn die negative Summe der betreffenden Nebeneinkünfte diesen Betrag übersteigt. Diese vom BFH für notwendig erachtete verfassungskonforme Auslegung des 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG führt dazu, dass ein Arbeitnehmer eine Steuererstattung auch ohne Einhaltung der Zwei-Jahres-Frist einer Antragsveranlagung (§ 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG) erhalten kann. Auf die ausführliche Urteilsbesprechung in BFH-PR 2006, 474 wird Bezug genommen.

2. Im Verfahren VI R 47/05 hatte der VI. Senat zunächst einen Gerichtsbescheid mit der angeführten Rechtsauffassung erlassen. In Reaktion hierauf hatte der Finanzausschuss beim Bundesrat bereits am 29.9.2006 zum JStG 2007 die Empfehlung ausgesprochen, § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG insoweit zu ändern, als bei der Prüfung der Einkünftegrenze von 410 € (800 DM) "allein positive Einkünfte entscheidend und negative Einkünfte nicht zu berücksichtigen seien".

Der Finanzausschuss des Bundestags hat diese Empfehlung in seinen Beschluss vom 19.10.2006 aufgenommen. Zwischenzeitlich wurde die vorgenannte Gesetzesänderung im Rahmen des JStG endgültig (und zwar mit Rückwirkung) beschlossen.

3. Wie bereits in BFH-PR 2006, 474 ausgeführt, wird dadurch die gleichheitswidrige Beschränkung des Verlustausgleichs durch die Zwei-Jahres-Frist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG verschärft. Je höher die geltend gemachten Verluste (aus den sog. Nebeneinkünften) sind, desto mehr wird die verfassungsrechtlich gebotene gleichheitsgerechte Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit verfehlt.

4. Durch die inzwischen verabschiedete Änderung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG 2007 ist die bisher vorgenommene verfassungskonforme Auslegung nicht mehr möglich. Wie bereits in BFH-PR 2006, 474 angedeutet, wird der VI. Senat demnach (in noch nicht entscheidungsreifen Revisionen) zu prüfen haben, ob die Erweiterung des Ausschlusses von Erstattungsansprüchen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Geht man von der in den Vorlagebeschlüssen (beide vom 22.5.2006, VI R 46/05, BFH-PR 2006, 476 und VI R 49/04, BFH-PR 2006, 477) vertretenen Rechtsauffassung aus, erscheint es konsequent, auch die Neuregelung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG 2007 wegen Verfassungswidrigkeit dem BVerfG vorzulegen.

5. Im Streitfall stand der VI. Senat vor der Frage, ob die o.a. Neuregelung abgewartet (bzw. das Verfahren ausgesetzt) oder sofort entschieden werden sollte. Für den VI. Senat war entscheidend, dass eine Verfahrensaussetzung die prozessuale Lage des Klägers im Hinblick auf die vorgesehene, mit Rückwirkung versehene Gesetzesänderung wesentlich verschlechtert und das Gericht seine Verpflichtung zur Neutralität gegenüber allen Beteiligten verletzt hätte.

Aus Gründen des Rechtsschutzes schied demnach ein Zuwarten (bzw. eine Aussetzung) aus.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 29.11.2006, VI R 14/06

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