Entscheidungsstichwort (Thema)

Widerlegung der Drei-Tage-Vermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO bei Übergabe des Bescheids an einem Freitag an einen privaten Postdienstleister, der nicht an jedem Werktag innerhalb der Drei-Tage-Frist an der Wohnung des Bescheidadressaten zustellt

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Für den Beginn der Frist von drei Tagen nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO kommt es auf die Aufgabe des Verwaltungsakts zur Post und nicht auf das aufgedruckte Bescheiddatum an. Um den Tag der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post feststellen zu können, bedarf es nicht unbedingt eines Absendevermerks der Poststelle. Bei Fehlen eines solchen Vermerks kann die Behörde vielmehr darlegen, wie der Ablauf der Postversendung gestaltet war und welche Maßnahmen ergriffen worden waren, um die Gewähr für die Übereinstimmung von Bescheiddatum und tatsächlichem Aufgabetag zu bieten.

2. Post im Sinne des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO sind grundsätzlich auch private Postdienstleistungsunternehmen. Die Zugangsvermutung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO entfällt jedoch, wenn das Finanzamt den Bescheid durch einen privaten Postdienstleister versendet, dieser Postdienstleister generell nicht an sechs, sondern nur an fünf Tagen pro Woche zustellt, wenn deswegen innerhalb der Drei-Tages-Frist an einem Werktag generell keine Postzustellung an der Wohnung des Steuerpflichtigen durchgeführt worden ist und wenn der Steuerpflichtige glaubhaft darlegt, die Zustellung eines an einem Freitag vom Finanzamt dem privaten Postdienstleisters übergebenen Bescheids sei bei ihm erst am nächsten Dienstag erfolgt.

 

Normenkette

AO § 122 Abs. 2 Nr. 1, § 355 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

Abweichend vom Einkommensteuerbescheid 2017 vom 03.03.2020 wird die Einkommensteuer unter Berücksichtigung von weiteren Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 3.943,00 EUR festzusetzt. Die Berechnung der Steuer wird gemäß § 100 Abs. 2 Satz 3 Finanzgerichtsordnung –FGO– dem Beklagten übertragen.

Die Kosten des Verfahrens werden zu 10 % der Klägerin und zu 90 % dem Beklagten auferlegt.

Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten zum Vorverfahren war notwendig.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin die Einspruchsfrist nach dem Einkommensteuerbescheid 2017 vom 15.06.2018 gewahrt hat.

Die Klägerin erzielte im Streitjahr Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit als sog. Continuity bei einer Filmproduktionsgesellschaft. Sie war bereits im Jahre 2018 unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Anschrift wohnhaft.

Die Klägerin fertigte ihre Einkommensteuererklärung 2017 nach Aktenlage ohne Hilfe eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe an und erteilte keine Empfangsvollmacht für den Einkommensteuerbescheid. In ihrer Einkommensteuererklärung machte sie diverse Werbungskosten aus Fahrt- und Reisekosten bei den von ihr erzielten Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend.

Unter dem Freitag, dem 15.06.2018 erließ der Beklagte einen Einkommensteuerbescheid 2017, mit dem er die Einkommensteuer auf 9.214,00 EUR festsetzte, wobei er bei den Einkünften der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit nur Werbungskosten in Höhe des Arbeitnehmer-Pauschbetrages berücksichtigte. Den Bescheid übersandte er unmittelbar an die Klägerin. Diese war vom 02.05.2018 bis 19.06.2018 (Tag der Rückkehr an den Wohnort) beruflich in B… tätig.

Den Bescheid vom 15.06.2018 übersandte die Klägerin am Dienstag, dem 19.06.2018 gegen 11:40 Uhr per Telefax einer Steuerberatungsgesellschaft, die im weiteren Verlauf für die Klägerin auftrat. Die Bevollmächtigte legte am 19.07.2018 namens der Klägerin gegen diesen Bescheid Einspruch ein und beantragte die Änderung nach § 129 Abgabenordnung –AO–. Dabei gab die Bevollmächtigte an, dass der Bescheid am 19.06.2018 eingegangen sei. In der Sache begehrte sie die Berücksichtigung von Verpflegungsmehraufwand (auch mit dem Antrag nach § 129 AO) und von Fahrtkosten (nur mit dem Einspruch).

Der Beklagte hielt den Einspruch für verspätet und lehnte den Antrag auf Änderung nach § 129 AO ab, wogegen die Klägerin ebenfalls Einspruch einlegte.

Den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid vom 15.06.2018 verwarf der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 24.02.2020 als unzulässig. Der angefochtene Bescheid sei am Freitag, dem 15.06.2018 im Wege des Zentralversands dem Postdienstleister übergegen worden. Die Zugangsvermutung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO werde durch den Vortrag der Klägerin nicht erschüttert. Aus dem Tag der Faxübermittlung an die Steuerberatungsgesellschaft lasse sich nicht auf den Tag des Posteingangs bei der Klägerin schließen. Im Übrigen nimmt das Gericht Bezug auf die Gründe der Einspruchsentscheidung. Dem Einspruch betreffend den Antrag...

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