Beteiligte

… Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I.

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Der im Jahre 1951 in der Türkei geborene Kläger erkrankte im Alter von vier Jahren an einer Polyomyelitis, die zu einer bleibenden Behinderung des rechten Beines führte. Seit 1967 war der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeiter, zuletzt als Kranführer, versicherungspflichtig beschäftigt. Im Jahre 1978 wurde er erstmals am rechten Bein operiert und wegen dieser Erkrankung in der Folgezeit mehrmals stationär behandelt.

Auf seinen im Oktober 1978 gestellten Antrag auf Gewährung von Versichertenrente stellten die Gutachter der Beklagten fest, das rechte Bein sei praktisch gelähmt; außerdem bestünden noch Reizerscheinungen und Belastungsschmerzen im Sprunggelenk mit erheblichen Mineralisationsstörungen, so daß der Kläger nur mit zwei Armstützen gehen könne. Hierauf gewährte die Beklagte dem Kläger Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bis zum 31. Dezember 1979. Diese Rente wurde bis zum 31. August 1982 verlängert.

Den im August 1982 gestellten Antrag des Klägers auf Weitergewährung der Rente lehnte die Beklagte durch den streitigen Bescheid vom 7. März 1983 ab, weil Berufsunfähigkeit (BU) nicht vorliege. Sie stützte sich hierbei auf einen Entlassungsbericht vom 2. Juli 1982 über eine vom 18. Mai bis 15. Juni 1982 durchgeführte stationäre Heilmaßnahme, wonach der Kläger als Kranführer nicht mehr tätig sein könne und eine Umschulung für einen sitzenden Beruf, der ganztags zumutbar sei, empfohlen werde.

Die hiergegen erhobene Klage auf Weitergewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) über den 31. August 1982 hinaus hatte in den Vorinstanzen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Köln vom 11. Oktober 1984; angefochtenes Urteil des Landessozialgerichts -LSG- für das Land Nordrhein-Westfalen vom 31. Januar 1986). In seinem Urteil führt das LSG aus, wegen Lähmung des rechten Beins sei dem Kläger lt. Gutachten des orthopädischen Sachverständigen Dr. S. … vom 25. Oktober 1985/31. Januar 1986 der Zugang zu einem für ihn geeigneten Arbeitsplatz besonders stark erschwert, so daß der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei. Der Kläger könne nur noch Fußwege bis zu 500 Meter ohne zumutbare Schmerzen zurücklegen. Einen Pkw besitze er nicht. Die Benutzung eines Fahrrades scheide insbesondere deshalb aus, weil Gründe der Verkehrssicherheit entgegenstünden. Das Bundessozialgericht (BSG) sei in mehreren Entscheidungen davon ausgegangen, daß die Fähigkeit eines Versicherten, Fußwege bis zu 500 Meter zurückzulegen, nicht ausreiche, um einen entsprechenden Arbeitsplatz oder ein öffentliches Verkehrsmittel zu erreichen. Dabei handle es sich um abstrakte Erfahrungswerte, so daß hierzu keine Ermittlungen hätten durchgeführt werden müssen. Im Interesse der Rechtssicherheit sei es notwendig, die Grenze des zumutbaren Arbeitsweges bei 500 Metern allgemein zu ziehen. Da der Kläger keinen längeren Fußweg zurücklegen könne, sei er erwerbsunfähig.

Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Sie rügt die Verletzung der §§ 1246 Abs 2, 1247 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie trägt vor, der Kläger könne noch vollschichtig leichte Arbeiten im Sitzen verrichten; er sei auch nicht daran gehindert, einen Arbeitsplatz mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Aufgrund seines Wohnsitzes (Köln) in einem Ballungsgebiet sei davon auszugeben, daß die Wegstrecke von seiner Wohnung bis zu einem Arbeitsplatz unter Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht mehr als 500 Meter, wenn nicht sogar deutlich weniger betrage. Zu Unrecht habe das LSG seinem Urteil abstrakte Erfahrungswerte zugrunde gelegt. Es hätte vielmehr ermitteln müssen, wie weit üblicherweise im Durchschnitt ein in Köln wohnender Versicherter gehen muß, um eine Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen und von dieser aus an einen Arbeitsplatz zu gelangen. Weiter hätte das LSG die Fähigkeit zur Benutzung eines Fahrrades durch den Kläger nicht mit Gründen der Verkehrssicherheit unter Berufung auf den medizinischen Sachverständigen verneinen dürfen, zu denen sich dieser gar nicht geäußert habe.

Die Beklagte beantragt,die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 31. Januar 1986 und des Sozialgerichts Köln vom 11. Oktober 1984 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist darauf hin, daß das BSG erneut die Auffassung vertreten habe, entscheidend sei, welcher Weg zur Arbeitsstelle als üblich angesehen werden könne, wofür ein bloß noch zumutbarer Fußweg bis zu 500 Meter im allgemeinen nicht ausreiche (Entscheidung vom 6. Juni 1986 - BSG 5b RJ 52/85).

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

II.

Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.

Nach § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Zur "Fähigkeit zum Erwerb'' bzw zur Fähigkeit, "eine Erwerbstätigkeit auszuüben", gehört das Vermögen des Versicherten, eine Arbeitsstelle aufzusuchen, weil eine entgeltliche Tätigkeit regelmäßig nur außerhalb der Wohnung des Arbeitnehmers möglich ist (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl SozR Nr 21, 27 und 101 zu § 1246 RVO; Urteil vom 11. September 1979 - 5 RJ 86/78 -; SozR 2200 § 1247 Nr 47). Die Fähigkeit, zu Fuß eine Strecke nur "bis zu 500 Metern" zurückzulegen, reicht im Hinblick auf die auch in industriellen Ballungsgebieten üblichen Anmarschstrecken im allgemeinen nicht aus (BSG an den beiden letztgenannten Stellen). Hierauf hat das LSG im angefochtenen Urteil zutreffend hingewiesen.

Der Auffassung des Berufungsgerichts, nach den genannten BSG-Entscheidungen sei selbst ein in industriellen Ballungsgebieten wohnender Versicherter immer schon dann erwerbsunfähig iS von § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO, wenn ihm der medizinische Sachverständige "abstrakt" nur noch Fußwege von nicht mehr als 500 Metern zumutet, kann indessen nicht gefolgt werden.

Zunächst hat das LSG verkannt, daß das BSG in der Entscheidung SozR 2200 § 1247 Nr 47 mit der Aussage, ein noch "zumutbarer Fußweg" bis zu 500 Metern reiche "im allgemeinen" nicht aus, "um von der Wohnung zu einem Arbeitsplatz zu gelangen", keine rechtliche Bewertung vorgenommen, sondern eine allgemeine tatsächliche Feststellung getroffen hat, der unbedenklich zuzustimmen ist. Der erkennende Senat ist mit dem 5b Senat aaO der Auffassung, daß ein Versicherter selbst in einem industriellen Ballungsgebiet in einem Umkreis seiner Wohnung von nicht mehr als 500 Metern nicht damit rechnen kann, immer einen Arbeitsplätze bietenden Betrieb aufzufinden, den er durch "Fußweg" erreichen kann. Im Einzelfall können von den Tatsachengerichten zwar - für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG) - günstigere tatsächliche Verhältnisse festgestellt sein (vgl dazu BSG aaO Nr 47 S. 92 letzter Absatz und S. 93 oben); üblich aber - und hierauf ist abzustellen - sind solche Verhältnisse nicht.

Das BSG hat aaO auch nicht entschieden, wie das LSG im Zusammenhang seiner Ausführungen anzunehmen scheint, schon die Unfähigkeit des Versicherten, Wegstrecken von mehr als 500 Metern "in einem Stück" zurückzulegen, bedinge regelmäßig Erwerbsunfähigkeit. Eine solche Annahme verbietet sich schon deshalb, weil der Versicherte an jedem Arbeitstag nach Arbeitsende von der Arbeitsstelle wieder zu seiner Wohnung zurückkehren muß. Da das BSG aaO (Seite 92) den "noch zumutbaren Fußweg von 500 Metern" nur auf den "Weg von der Wohnung des Versicherten zu einer Arbeitsstelle" bezieht, wird dort als selbstverständlich zugleich unterstellt, daß der Versicherte pro Arbeitstag außerdem eine weitere gleichlange Strecke als Heimweg zurücklegen kann. Dieser Annahme ist beizupflichten. Es ist ein allgemeiner Erfahrungssatz, daß Gehbehinderte nach Einschaltung von Sitzpausen insgesamt Wegstrecken bewältigen können, die ihnen "an einem Stück" unmöglich gewesen wären. Entsprechend konnte das BSG aaO von der "Rückkehrfähigkeit" eines stark gehbehinderten Versicherten ausgehen, der tagsüber eine - vorwiegend - sitzende, den Bewegungsapparat schonende Tätigkeit ausübt. Im übrigen zählt das BSG aaO (Seite 92 unten) zu den Sitzpausen offensichtlich auch den Aufenthalt des gehbehinderten Versicherten in öffentlichen Verkehrsmitteln. Es hält dort für entscheidungserheblich, daß der Versicherte "von der Haltestelle aus, an der er aussteigen müßte, bis zu seinem Arbeitsplatz nur weniger als 500 Meter Fußweg zurückzulegen hätte". In der Tat ist davon auszugehen, daß ein gehbehinderter Schwerbeschädigter in einem öffentlichen Verkehrsmittel in aller Regel einen für ihn freizugebenden Sitzplatz in der Nähe des Einstiegs erhält.

Für den vorliegenden Fall folgt hieraus:

Der Kläger wohnt in Köln in einem industriellen Ballungsraum. Solche Ballungsgebiete sind nach gesicherter Erfahrung durch öffentlichen Personennahverkehr gut erschlossen, so daß für Arbeitnehmer als "Fußwege" zur und von der Arbeitsstelle im wesentlichen nur die An- und Abmarschwege zu öffentlichen Nahverkehrsmitteln in Frage kommen. Deshalb ist zur Ermittlung der in diesem Ballungsraum üblichen Fußwege zwischen Wohnung und Arbeitsplatz und zurück aufzuhellen, welche durchschnittliche Wegstrecken ein Versicherter von einem nicht ungewöhnlich liegenden Wohngebiet aus zu einer Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels und sodann von der Ziel-Haltestelle aus zu einem nach Lage, Art und Größe nicht untypischen Betrieb des Ballungsraums üblicherweise zurücklegen muß. Soweit nach den Gegebenheiten des Ballungsraums Betriebe mit weiten Betriebswegen in Betracht zu ziehen sind, wird zu klären sein, ob Werksverkehr mit Personenbeförderung auf dem Betriebsgelände insbesondere für Behinderte üblich oder möglich ist. Sollte sich ergeben, daß die zwischen Wohnung und öffentlichen sowie ggf betrieblichen Verkehrsmitteln üblicherweise "an einem Stück" zurückzulegenden Fußwege in der Regel mehr als 500 Meter betragen, ist mit dem 5b Senat des BSG aaO im allgemeinen davon auszugehen, daß der Versicherte iS von § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO erwerbsunfähig ist. Sollten die Ermittlungen aber ergeben, daß diese Fußwege in aller Regel nicht länger als 500 Meter sind, wird zunächst die durchschnittliche Dauer zu ermitteln sein, die ein Arbeitnehmer auf dem Wege zur und von der Arbeit im öffentlichen Nahverkehrsmittel oder im Werksfahrzeug - sitzend (s oben) - verweilt. Hernach wird eine Äußerung eines medizinischen Sachverständigen zu der Frage einzuholen sein, ob der Versicherte die pro Arbeitstag ermittelten üblichen An- und Abmarschwege unter Berücksichtigung der hierbei anfallenden Sitzpausen zurückzulegen in der Lage ist.

Sollte diese Frage verneint und deshalb auch für diesen Fall Erwerbsunfähigkeit des Versicherten zu bejahen sein, wird die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) ihrerseits Anlaß haben, die Frage zu prüfen, wieweit im Rahmen der vorrangig vor den Renten ua wegen Erwerbsunfähigkeit als Regelleistung zu erbringenden Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation (§ 7 Abs 1 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation - RehaAnglG) Hilfe zur Erlangung und Erhaltung eines Arbeitsplatzes bzw sonstige Hilfe zur Arbeits- und Berufsförderung (§§ 1235 Nr 1, 1236 Abs 1, 1237a Abs 1 Nr 1 und 4 RVO) - zB in Form der Kraftfahrzeughilfe (vgl Kraftfahrzeugrichtlinien der Beklagten vom 1. Januar 1981 - AmtlMitt LVA Rheinpr 1981, Sonderdruck Mai, S. 104) - zu gewähren ist.

Zur Nachholung der entsprechenden Ermittlungen und zur hernach abschließenden Entscheidung war die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen wie geschehen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Der Kostenausspruch bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.Bundessozialgericht

4a RJ 21/86

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518056

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