Leitsatz (amtlich)

1. Voraussetzungen für eine Verbindung mehrerer Verfahren nach § 73 FGO.

2. Eine Ersatzzustellung nach § 183 ZPO, die nicht als solche beurkundet wird, ist unwirksam.

 

Normenkette

FGO § 73; VwZG §§ 3, 9; ZPO §§ 183, 191 Nr. 4, § 418

 

Tatbestand

Streitig ist im Verfahren über die Einkommensteuervorauszahlungen 1973 bis 1975, ob der Kläger und Revisionskläger (Kläger) fristgerecht Klage erhoben hat.

Der Kläger ist Inhaber eines Textilwarengeschäfts. Zusammen mit seinem Sohn ist er Eigentümer zahlreicher bebauter Grundstücke; die Gebäude werden überwiegend als Wohnheime für Gastarbeiter genutzt. Nach einer Steuerfahndungsprüfung erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) einen Einkommensteuervorauszahlungsbescheid für die Streitjahre 1973 bis 1975. Die OFD wies die Beschwerde des Klägers mit Verfügung vom 25. September 1974 zurück. Laut Postzustellungsurkunde (PZU) ist die Beschwerdeentscheidung dem Kläger persönlich am 1. Oktober 1974 unter der von ihm angegebenen Geschäftsadresse übergeben worden.

Das FG wies die am 7. November 1974 erhobene Klage als unzulässig ab. Nach Auffassung der Vorinstanz hatte der Kläger die Rechtsmittelfrist von einem Monat seit Zustellung des Schriftstücks am 1. Oktober 1974 versäumt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nicht gewährt werden. Die Behauptung des Klägers, er habe sich am 1. Oktober 1974 zur Kur im Ausland aufgehalten, die Postbeamtin müsse ihn daher mit seinem Sohn verwechselt haben, hielt das Gericht nicht für entscheidungserheblich.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers. Er hält die Klage für zulässig, da das FG nach der Rechtsprechung des BVerfG den Wiedereinsetzungsantrag nicht hätte ablehnen dürfen und beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Einkommensteuervorauszahlungen auf das sich aus der Buchführung ergebende Ergebnis herabzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

1. Das FG hat in der mündlichen Verhandlung vom 10. März 1975 beschlossen, das der Revision zugrunde liegende Klageverfahren mit dem Aussetzungsverfahren in gleicher Sache "zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung" zu verbinden. Der erkennende Senat ist dadurch jedoch nicht gehindert, ohne Trennung der Verfahren gesondert über die Revision zu entscheiden, da es sich nicht um eine Verbindung im gesetzestechnischen Sinne (§ 73 Abs. 1 FGO) handelt. Eine derartige Verbindung setzt voraus, daß beide Verfahren mit einer einheitlichen Entscheidung abgeschlossen werden können und daß diese Entscheidung - soweit ein Rechtsmittel gegeben ist - mit einem einheitlichen Rechtsmittel angefochten werden kann. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Das FG hat durch "Urteil und Beschluß" entschieden und den Kläger über die Anfechtungsmöglichkeiten durch Revision und Beschwerde belehrt.

2. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist die Klagefrist nicht versäumt, da die Beschwerdeentscheidung nicht wirksam zugestellt worden ist. Die ordnungsgemäße Zustellung der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ist als Sachurteilsvoraussetzung in jeder Verfahrenslage von Amts wegen zu prüfen (Urteil des BFH vom 9. September 1970 I R 113/69, BFHE 100, 179, BStBl II 1971, 9).

a) Der Senat sieht es als erwiesen an, daß die an den Kläger als Adressaten und Zustellungsgegner gerichtete Beschwerdeentscheidung ihm entgegen der Bestätigung in der PZU nicht persönlich ausgehändigt worden ist (§ 3 VwZG). Denn die mit der Zustellung beauftragte Postbeamtin hat in einer beim FG eingereichten Erklärung bestätigt, daß sie den Sohn des Klägers mit dem Kläger verwechselt und ihm das Schriftstück als Zustellungsempfänger übergeben habe. Der Senat braucht nicht abschließend zu entscheiden, ob die in § 82 FGO nicht angeführte Vorschrift des § 418 ZPO im finanzgerichtlichen Verfahren (über § 155 FGO) anwendbar ist (ablehnend z. B. BFH-Urteil vom 7. Mai 1969 I R 68/67, BFHE 95, 395, BStBl II 1969, 444; bejahend Urteil vom 17. Oktober 1972 VIII R 36-37/69, BFHE 108, 141, BStBl II 1973, 271). Die Beweiskraft der öffentlichen Urkunde wäre im Streitfall widerlegt, die Unrichtigkeit der gegenteiligen, in der PZU bezeugten Tatsache erwiesen (§ 418 Abs. 2 ZPO).

b) Es kann offenbleiben, ob die Möglichkeit bestanden hätte, dem Sohn des Klägers die Beschwerdeentscheidung als dessen "Gehilfe" im Wege der Ersatzzustellung zu übergeben (§§ 183 ZPO i. V. m. 3 Abs. 3 VwZG). Die Ersatzzustellung wäre nicht ordnungsmäßig erfolgt, weil sich aus der erstellten PZU (§ 3 Abs. 2 VwZG) nicht entnehmen läßt, daß der Kläger nicht im Geschäftsraum angetroffen und die Verfügung daher einer dritten Person ausgehändigt wurde. Ein derartiger Verstoß gegen zwingende Zustellungsvorschriften (§§ 191 Nr. 4 ZPO i. V. m. 3 Abs. 3 VwZG) macht die Zustellung unwirksam (Beschluß des RG vom 21. März 1929 VI B 7/29, RGZ 124, 22 [24]). Die Zustellungsurkunde ist nicht nur Beweisurkunde; die Beurkundung des Vorganges macht die Übergabe vielmehr erst zu einer Zustellung im Rechtssinne. Die beurkundete unmittelbare Aushändigung an den Kläger kann einer Ersatzzustellung nicht gleichgestellt werden; dazu sind beide ihrer Art nach zu verschieden. Vor allem bei der Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann von Bedeutung sein, ob das Schriftstück dem Zustellungsgegner persönlich ausgehändigt wird oder ob eine Weitergabe von dritter Hand erfolgen muß. Dieses Ergebnis entspricht der ganz überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur (Beschluß des BGH vom 13. Dezember 1955 V BLw 39/55, Lindenmaier/Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, Nr. 1 zu § 181 ZPO; Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 8. November 1962 RevReg. 1 St 556/62, Amtliche Sammlung 1962 S. 257; Urteil des BSG vom 9. November 1961 5 RKU 29/59, BSGE 15, 217 [221]; Beschluß des OLG Hamm vom 2. Mai 1969 15 W 71/69, MDR 1969, 850 [Nr. 46]; Beschluß des OLG Karlsruhe vom 8. September 1975 Ws 2/75 RhSch, BB 1976, 17; Stein/Jonas/Schönke/Pohle, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 19. Aufl., § 191 II Anm. 4; Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, 2. Aufl., § 191 ZPO Anm. B 2 d; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl., § 76 Anm. II 1, 2; Loewe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 22. Aufl., 1971, § 37 Anm. I 9 b; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 6. Aufl., 1974, § 56 Anm. 5; Meßmer in Mattern/Meßmer, Reichsabgabenordnung mit Nebengesetzen, § 3 VwZG Rdnr. 3131; Kohlrust/Eimert, Das Zustellungsverfahren nach dem Verwaltungszustellungsgesetz, § 3 Anm. 5 Fußnote 80).

c) Auch die Vorschrift des § 9 VwZG läßt erkennen, daß der Gesetzgeber im Interesse der Rechtssicherheit eine besondere Formstrenge gewahrt wissen will, wenn mit der Zustellung die Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels an das Gericht in Lauf gesetzt wird. Der Zustellungsmangel kann nicht geheilt werden (§ 9 Abs. 2 VwZG); eine Umdeutung in eine Bekanntgabe nach § 17 VwZG scheidet aus (vgl. BFH-Urteil I R 113/69). Aus den gleichen Gründen wäre die Zustellung auch dann nicht wirksam, wenn - was nicht abschließend geklärt ist - eine Zustellung an den Sohn als Vertreter des Klägers zulässig oder gar geboten gewesen wäre.

d) Die Unwirksamkeit der Zustellung nach § 3 VwZG hat nicht zur Folge, daß die Beschwerdeentscheidung selbst dem Kläger gegenüber nicht wirksam geworden wäre. Sie führt nur dazu, daß der Lauf der Klagefrist nicht beginnt (BFH-Urteil I R 113/69 und Beschlüsse vom 3. Oktober 1972 VII B 152/70, BFHE 107, 163, BStBl II 1973, 84, und vom 3. Dezember 1975 I R 144/74, BFHE 117, 350, BStBl II 1976, 194).

Auf die vom FG geprüfte Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt es danach nicht an.

3. Da das FG von anderen rechtlichen Erwägungen ausgegangen war, ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

 

Fundstellen

BStBl II 1976, 573

BFHE 1977, 41

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