Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

ß 92 Abs. 3 AO kommt nicht zur Anwendung, wenn bei der Bildung des Entscheidungswillens Fehler unterlaufen sind; nur Fehler bei Erklärung des Entscheidungswillens können durch Berichtigung nach ß 92 Abs. 3 AO behoben werden.

AO § 92 Abs. 3.

 

Normenkette

AO § 92 Abs. 3, § 92/2

 

Tatbestand

Der Beschwerdeführer (Bf.) ist Gesellschafter der X.-OHG. Für II/1948 und 1949 hatte er die Steuervergünstigung des nicht entnommenen Gewinns in Anspruch genommen, die ihm gewährt worden war, und zwar durch vorläufige Veranlagung vom 24. April 1952. Für 1950 entfiel auf den Bf. nach der Mitteilung über die einheitliche Feststellung ein Gewinn von 364 DM, während die Entnahmen mit 22.076 DM festgestellt wurden. Mit Bescheid vom 12. Mai 1952 führte das Finanzamt die endgültige Veranlagung für 1950 durch, jedoch ohne eine Nachversteuerung wegen der Mehrentnahmen vorzunehmen. Warum diese unterblieben war, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Erst bei der endgültigen Veranlagung für II/1948 und 1949, die durch Bescheid vom 24. Oktober 1952 stattfand, bemerkte das Finanzamt, daß die Nachversteuerung unterblieben war und erteilte dem Bf. am 24. Oktober 1952 einen nach § 92 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung (AO) berichtigten Bescheid für 1950, mit dem eine Steuer von 2.652 DM gefordert wurde.

Mit der dagegen eingelegten Sprungberufung wurde geltend gemacht, daß eine Berichtigung des rechtskräftigen Einkommensteuerbescheides für 1950 gemäß § 92 Abs. 3 AO unzulässig sei, da ein Schreib- oder Rechenfehler oder eine ähnliche offenbare Unrichtigkeit nicht vorliege. Weiterhin wurde bemängelt, daß die Nachversteuerung hinsichtlich der Höhe unrichtig sei.

Die Berufung blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht kann nach Anhörung des zuständigen Bezirksbearbeiters zu der Überzeugung, daß die Nichtdurchführung der Nachversteuerung lediglich darauf zurückzuführen sei, daß der Bearbeiter nicht an diese Vorschriften gedacht habe. Dieser offenkundige Flüchtigkeitsfehler könne nur einem mechanischen Versehen gleichgestellt werden; von einem Rechtsirrtum könne nicht gesprochen werden, denn Überlegungen und Erwägungen in rechtlicher Hinsicht über die Anwendung einer Vorschrift seien nicht angestellt worden. Die Behandlung eines Schreib- oder Rechenfehlers und die Nichtbeachtung einer jedenfalls in ihrem Prinzip klaren und einwandfreien Gesetzesvorschrift könnten nicht verschieden sein. Demgemäß sei das Finanzamt zur Berichtigung nach § 92 Abs. 3 AO berechtigt gewesen. Die zu § 319 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ergangene Rechtsprechung komme für die Auslegung des § 92 Abs. 3 AO, obwohl dieser dem § 319 ZPO nachgebildet sei, nicht in Betracht, weil die Vorschriften sich in ihrer Wirkung - Rückwirkung bei § 319 ZPO - unterschieden, auch im Steuerrecht Massenarbeit vorherrsche.

 

Entscheidungsgründe

Die Rechtsbeschwerde (Rb.) ist begründet.

Der Bundesfinanzhof hat in seiner Entscheidung II 113/53 U vom 12. Juni 1953, Slg. Bd. 57 S. 558, Bundessteuerblatt (BStBl.) 1953 Teil III S. 214, fußend auf der Entscheidung des erkennenden SenatsIV 355/51 vom 7. Februar 1952 (abgedruckt in der Rundschau für GmbH 1952 S. 78), den § 92 Abs. 3 AO, anknüpfend an die ältere Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs, dahin ausgelegt, daß für eine Berichtigung nach § 92 Abs. 3 AO kein Raum ist, wenn auch nur die Möglichkeit eines Rechtsirrtums gegeben sein kann.

Das Finanzgericht stellte tatsächlich fest, daß der zuständige Bearbeiter bei der Vornahme der ursprünglichen Veranlagung für 1950 an die Vorschriften über die Nachversteuerung nicht gedacht hat. In diesem Nichtbeachten einer Rechtsvorschrift sieht das Finanzgericht keinen Rechtsirrtum, sondern einen Flüchtigkeitsfehler, der dem Begriff einer einem Schreib- oder Rechenfehler "ähnlichen" offenbaren Unrichtigkeit unterzuordnen wäre. Das ist nicht zu billigen. Dies würde bedeuten, daß lediglich die falsche Anwendung einer bestehenden Rechtsvorschrift, nicht aber deren Außerachtlassen einen Rechtsirrtum darstellte. Eine solche Auffassung würde zu widersinnigen Folgerungen führen, wenn man sie z. B. bei der Frage der Zulässigkeit einer Rb. anwenden wollte. Abgesehen davon würde diese Ansicht letzten Endes wieder einmünden in die heute vom gesamten Schrifttum und der Rechtsprechung abgelehnte Ansicht Finanz-Rundschau 1953 S. 240) des Gutachtens des Großen Senats des Reichsfinanzhofs Gr.S.D 9/36 vom 7. August 1936 (Reichssteuerblatt - RStBl. - 1936 S 919), nach der die Zulässigkeit einer Berichtigung von den Kenntnissen eines durchschnittlich brauchbaren Veranlagungsbeamten abhängig gemacht wird. Wie die oben erwähnte Entscheidung des Bundesfinanzhofs erkennen läßt, ist es in Wahrung der notwendigen Rechtssicherheit unumgänglich, zu einer objektiven und engen Auslegung des § 92 Abs. 3 AO zu kommen. Damit scheidet eine Anwendung des § 92 Abs. 3 AO in allen Fällen aus, in denen Mängel bei der Bildung des Entscheidungswillens vorliegen; nur bei Mängeln in der Erklärung des Entscheidungswillens kann der § 92 Abs. 3 AO zu Raum kommen. Diese Auslegung entspricht auch der zu ß 319 ZPO ergangenen Rechtsprechung des Reichsgerichts (vgl. z. B. Entscheidung des ReichsgerichtsVII 240/06 vom 15. März 1907). Die beiden Vorschriften sind eng verwandt, die des § 92 Abs. 3 AO ist wörtlich dem § 319 ZPO nachgebildet. Daß § 319 ZPO im Gegensatz zu ß 92 Abs. 3 AO die Rückwirkung kennt, kann nicht dazu führen, dem gleichen Ausdruck "Schreibfehler oder Rechenfehler oder ähnliche offenbar Unrichtigkeiten" einen anderen, viel weitergehenden Sinn zu geben.

Bei der ursprünglichen Veranlagung für 1950 hat der Bearbeiter an das Bestehen der Voraussetzungen einer Nachversteuerung nicht gedacht und ist daher zu einer "O"-Veranlagung für 1950 gekommen. Zwischen seinem Entscheidungswillen und Erklärungswillen klafft keine Lücke, sie befanden sich in Übereinstimmung. Lediglich bei der Bildung des Entscheidungswillens hat sich ein Fehler durch die Nichtbeachtung der Nachversteuerungsvorschriften eingeschlichen. Dieser Fehler kann nicht auf dem Wege des § 92 Abs. 3 AO geheilt werden. Das Finanzamt war nicht berechtigt, den bereits rechtskräftig gewordenen Bescheid für 1950 zu ändern; er wies keinen "Schreib- oder Rechenfehler oder eine ähnliche offenbare Unrichtigkeit" aus. Seine Unrichtigkeit beruhte auf einem Rechtsirrtum, dessen Beseitigung jedoch die inzwischen eingetretene Rechtskraft entgegenstand.

Demgemäß wird mit Recht die ersatzlose Aufhebung des nach § 92 Abs. 3 AO berichtigten Bescheides vom 24. Oktober 1952 begehrt.

 

Fundstellen

BStBl III 1954, 133

BFHE 1954, 585

BFHE 58, 585

StRK, AO:92 R 8

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