Entscheidungsstichwort (Thema)

Fehlende Schätzungsvoraussetzungen als Verfahrensfehler

 

Leitsatz (NV)

Wird mit der Anfechtung eines Bescheides geltend gemacht, das FA habe die Besteuerungsgrundlagen geschätzt, obwohl die Voraussetzungen für eine solche Schätzung -- Besteuerungsgrundlagen nicht zu ermitteln oder zu berechnen -- nicht vorgelegen hätten, wird kein materiell-rechtlicher Fehler des Bescheides, sondern lediglich ein Fehler des FA im Besteuerungsverfahren (Verfahrensfehler) gerügt. Nach den Wertungen des Gesetzgebers können derartige Verfahrensfehler regelmäßig nur dann zur Aufhebung des Verwaltungsaktes führen, wenn diese den Bescheid nichtig machen (§125 AO 1977). Im übrigen scheidet die Aufhebung eines Verwaltungsaktes wegen eines Verfahrensfehlers aus, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können (§127 AO 1977).

 

Normenkette

AO 1977 §§ 125, 126 Abs. 1 Nr. 3, §§ 127, 162

 

Tatbestand

Durch Bescheid vom 15. Dezember 1989 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) im Wege der Neuveranlagung Vermögensteuer gegen die zusammenveranlagten Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) fest. Wegen des drohenden Ablaufs der Festsetzungsfrist hatte das FA die Kläger nicht mehr zur Abgabe einer Vermögensteuererklärung aufgefordert, sondern die Besteuerungsgrundlagen auf der Grundlage von Vermögensteuererklärungen der Kläger für spätere Besteuerungszeiträume geschätzt.

Hiergegen wandten sich die Kläger mit ihrem Einspruch und ihrer Klage. Sie machten geltend, daß die Voraussetzungen für eine Schätzung nach §162 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht vorgelegen hätten. Das FA hätte sie auffordern müssen, eine Vermögensteuererklärung auf den 1. Januar 1985 vorzulegen. Dies sei unterblieben. §162 AO 1977 sei kein Freibrief für eine Schätzung, durch die lediglich das Eintreten der Festsetzungsverjährung verhindert werden solle. Sie hätten ihre Mitwirkungspflicht nicht verletzt, da der 1. Januar 1983 der Hauptveranlagungszeitpunkt gewesen sei und deshalb für sie auch keine Verpflichtung bestanden habe, von sich aus eine Steuererklärung auf den 1. Januar 1985 abzugeben. Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen komme nur in Betracht, wenn das FA diese unter Hinzuziehung der Steuerpflichtigen nicht ermitteln oder berechnen könne.

Das Finanzgericht (FG) ist dem gefolgt und hat der Klage stattgegeben, indem es den angefochtenen Vermögensteuerbescheid und die Einspruchsentscheidung aufgehoben hat. Die Entscheidung des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1985, 408 veröffentlicht.

Hiergegen richtet sich die -- vom FG zugelassene -- Revision des FA. Es rügt Verletzung von §162 Abs. 1 und 2 AO 1977.

Das FA beantragt, das Urteil des Niedersächsischen FG vom 24. Januar 1995 I 457/90 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind vom Berichterstatter auf die Vorschrift des §127 AO 1977 schriftlich hingewiesen worden; sie haben Gelegenheit gehabt, sich zu äußern.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

1. Der Senat vermag der Rechtsauffassung des FG nicht zu folgen, der angefochtene Vermögensteuerbescheid sei wegen Fehlens der Voraussetzungen für eine Schätzung nach §162 AO 1977 aufzuheben. Das FG hat bei seiner Entscheidung die Vorschrift des §127 AO 1977 nicht beachtet.

Wird mit der Anfechtung eines Bescheides geltend gemacht, das FA habe die Besteuerungsgrundlagen geschätzt, obwohl die Voraussetzungen für eine solche Schätzung -- Besteuerungsgrundlagen nicht zu ermitteln oder zu berechnen -- nicht vorgelegen hätten, wird kein materiell-rechtlicher Fehler des Bescheides, sondern lediglich ein Fehler des FA im Besteuerungsverfahren (Verfahrensfehler) gerügt. Nach den Wertungen des Gesetzgebers können derartige Verfahrensfehler regelmäßig nur dann zur Aufhebung des Verwaltungsaktes führen, wenn diese den Bescheid nichtig machen (§125 AO 1977). Im übrigen kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können (§127 AO 1977).

Dies hat das FG nicht beachtet und ohne Rücksicht auf die materielle Rechtslage Bescheid und Einspruchsentscheidung aufgehoben. Das Urteil ist deshalb aufzuheben.

2. Die Sache ist spruchreif.

Die Kläger haben ausschließlich Verfahrensfehler geltend gemacht. Dies gilt sowohl für den Hinweis der Kläger, das FA habe die Besteuerungsgrundlagen nicht schätzen dürfen, als auch für die Rüge, ihnen sei das rechtliche Gehör vor Erlaß des angefochtenen Vermögensteuerbescheides nicht gewährt worden. Der Senat kann offenlassen, ob das FA insoweit verfahrensfehlerhaft vorgegangen ist. Denn die gerügten Verfahrensfehler können als solche nicht zur Aufhebung der Steuerfestsetzung führen. Anhaltspunkte dafür, daß die angefochtene Steuerfestsetzung offenkundig an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und deshalb nichtig ist (vgl. §125 AO 1977), sind nicht gegeben. Hiervon ist offensichtlich auch das FG ausgegangen. Im übrigen steht der Aufhebung der Steuerfestsetzung der Umstand entgegen, daß in der Sache, d. h. in materieller Hinsicht, keine andere Entscheidung hätte getroffen werden können. Die Kläger haben zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht, sie seien durch den angefochtenen Bescheid materiell in ihren Rechten verletzt.

Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im übrigen auch unbeachtlich, da die Kläger im Einspruchsverfahren die Möglichkeit gehabt hätten, sich materiell- rechtlich zum Steuerbescheid zu äußern (vgl. §126 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977).

Die Klage ist deshalb abzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 66746

BFH/NV 1998, 416

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge