Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensfehler bei Urteilszustellung 28 Monate nach Abschluß der mündlichen Verhandlung

 

Leitsatz (NV)

Ein Urteil ist i. S. des § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO auch dann nicht mit Entscheidungsgründen versehen, wenn zwischen seiner Beratung und Verkündung einerseits und der Vorlage seiner schriftlichen Abfassung andererseits ein Zeitraum von 28 Monaten liegt.

 

Normenkette

FGO §§ 104, 195, 119, 126 Abs. 3 Nr. 2

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf

 

Tatbestand

Das FG hat auf die Klage der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) gegen den Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) durch Urteil den Hinterziehungsfestsetzungsbescheid vom 18. Dezember 1981 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aufgehoben, ohne die Revision zuzulassen. Das Urteil erging aufgrund mündlicher Verhandlung und wurde noch in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wurde (11. Juni 1986), durch Verlesung der Formel verkündet (§ 104 Abs. 1 Satz 2 FGO). Das schriftlich abgefaßte Urteil ging bei der Geschäftsstelle des zuständigen Senats des FG erst am 17. Oktober 1988 ein und wurde dem FA am 20. Oktober 1988 zugestellt.

Gegen das Urteil legte das FA am 2. November 1988 beim FG die auf §§ 116 Abs. 1 Nr. 5 und 119 Nr. 6 FGO gestützte Revision ein. Als Revisionsbegründung wird unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 10. November 1987 VII R 47/87 (BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283) ausgeführt, das angefochtene Urteil gelte als nicht mit Gründen versehen, weil zwischen der Verkündung des Urteils und der Übergabe seiner schriftlichen Abfassung an die zuständige Geschäftsstelle mehr als zwei Jahre verstrichen seien.

Das FA beantragt, die Entscheidung des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision abzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

A. Die Revision ist zulässig.

Gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO bedarf es der Zulassung zur Einlegung der Revision nicht, wenn als wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird, daß die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Das FA hat eine entsprechend begründete Revision eingelegt. Die Rüge, die Entscheidung sei nicht mit Gründen versehen, ist - wie an anderer Stelle noch auszuführen sein wird - i. S. des § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO ausreichend begründet. Aus der Revisionsbegründung ergeben sich alle Tatsachen, aus denen das FA den wesentlichen Mangel des Verfahrens ableitet.

B. Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Eine Sachentscheidung, wie sie das FA mit seinem im Wortlaut weitergehenden Revisionsantrag begehrt, kann nicht getroffen werden.

1. Ein vom FG in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wurde, verkündetes Urteil ist den Beteiligten zuzustellen (§ 104 Abs. 1 Satz 1 Satz 2 FGO). Das zuzustellende Urteil muß schriftlich abgefaßt sein (§ 105 Abs. 1 Satz 2 FGO). Es muß u. a. den Tatbestand und die Entscheidungsgründe enthalten (§ 105 Abs. 2 Nrn. 4 und 5 FGO).

2. In Rechtsprechung und Schrifttum ist anerkannt, daß ein Urteil i. S. des § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO auch dann nicht mit Entscheidungsgründen versehen ist, wenn zwischen seiner Beratung und Verkündung einerseits und der Vorlage seiner schriftlichen Abfassung andererseits ein so langer Zeitraum liegt, daß die zutreffende Wiedergabe des Beratungsergebnisses nicht mehr gewährleistet erscheint (vgl. BFH in BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283; v. Wallis in Hübschmann /Hepp /Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 116 FGO Rdnr. 10 a; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 104 FGO Rdnr. 3; Gräber /v. Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 104 Rdnr. 10; Herrmann, Die Zulassung der Revision und die Nichtzulassungsbeschwerde im Steuerprozeß, 1986, Rdnr. 83). Nach der neueren Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist in der Zustellung eines Urteils erst ein Jahr nach seiner Verkündung der absolute Revisionsgrund des Fehlens von Gründen zu sehen (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 22. Januar 1981 10/8 b RAr 1/80, BSGE 51, 122, 124, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1982, 81; Urteile des Bundesarbeitsgerichts - BAG - vom 24. Februar 1982 4 AZR 313/80, BAGE 38, 55, 58, HFR 1982, 534, und vom 11. November 1986 3 AZR 228/86, Betriebs-Berater - BB - 1987, 1394 ff.; Urteile des BFH in BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283; vom 23. August 1988 VII R 40 /88, BFHE 154, 422, BStBl II 1989, 43; Beschluß vom 10. November 1987 VII B 75 /87, BFHE 151, 331, BStBl II 1988, 285; Urteil vom 29. November 1988 VII R 36 /88, nicht veröffentlicht). Der erkennende Senat folgt dieser Auffassung insoweit, als jedenfalls bei einer um mehr als 28 Monate verspäteten Vorlage des schriftlich abgefaßten Urteils die Entscheidungsgründe regelmäßig nicht mehr die Beurkundungsfunktion haben, die die schriftlichen Gründe eines richterlichen Urteils erfüllen sollen. In einem solchen Fall wird der Angriff gegen das Urteil unzumutbar erschwert, weil das Ergebnis der mündlichen Verhandlung auch in der Erinnerung der Beteiligten verblaßt. Dieser Mangel schließt es regelmäßig aus, die Gründe der Entscheidung hinzunehmen, selbst wenn sie ausführlich gehalten sind.

3. Entgegen der Auffassung der Klägerin kommt es bei einem Verzug der Vorlage des schriftlich abgefaßten Urteils um mehr als 28 Monate nicht mehr darauf an, ob weitere konkrete Umstände dafür sprechen, daß den Urteilsgründen kein ausreichender Beurkundungswert zugesprochen werden kann. Mit Rücksicht auf die überlange Zeitspanne ist von einem absoluten Verfahrensfehler auszugehen, von dem § 119 FGO unwiderleglich vermutet, daß die angefochtene Entscheidung auf ihm beruht. Die Klägerin kann sich insoweit nicht auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerfG) vom 7. Februar 1980 6 CB 101.78 (Die Öffentliche Verwaltung - DÖV - 1980, 569) berufen, weil dieses Urteil nur eine Zeitspanne von rd. 10 Monaten zwischen Verkündung und Zustellung betrifft. Im übrigen erkennt auch das BVerwG an, daß mit zunehmendem Zeitablauf eine Übereinstimmung der beratenen mit den schriftlich niedergelegten Gründen immer weniger gewährleistet ist (vgl. BVerwG, Beschluß vom 23. August 1983 3 B 94 /82, HFR 1985, 241).

4. Liegt aber ein absoluter Revisionsgrund i. S. des § 119 Nr. 6 FGO vor, so muß der erkennende Senat nach § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO verfahren, ohne über materielle Rechtsfragen entscheiden zu können (vgl. BFH-Urteile vom 7. Dezember 1988 I R 15/85, BFHE 155, 470, BStBl II 1989, 424, und vom 24. Mai 1989 I R 90/85, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt).

5. Da die Kosten des Revisionsverfahrens bei richtiger Behandlung der Sache durch das FG nicht entstanden wären, waren sie gemäß § 8 des Gerichtskostengesetzes nicht zu erheben. Im übrigen folgt die Übertragung der Entscheidung über die Kosten des gesamten Verfahrens auf das FG aus § 143 Abs. 2 FGO.

 

Fundstellen

BFH/NV 1990, 179

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