Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Für die Entscheidung der Frage, ob die nach Ablehnung der Vollziehungsaussetzung (§ 251 Satz 2 AO) angerufene Beschwerdeinstanz dem Steuerpflichtigen wegen Verzögerung ihrer Entscheidung berechtigten Anlaß zur "Untätigkeitsklage" bei dem Finanzgericht gegeben hat, kann von maßgebender Bedeutung sein, daß das Finanzamt dem Steuerpflichtigen mit dessen Einverständnis wegen der streitigen und im Laufe des Verfahrens bereits getilgten Steuern bis zur Entscheidung der Hauptsache andere - unstreitige - Steuern gestundet hat.

 

Normenkette

AO § 261; FGO § 46/1

 

Tatbestand

I. Bescheid Beide Bf. waren zunächst für die Veranlagungszeiträume II/1948 und 1949 nach durchgeführten Berichtigungsveranlagungen zur Einkommensteuer (einschließlich Abgabe "Notopfer Berlin") veranlagt worden. Im Rechtsmittelverfahren erwirkten sie ein obsiegendes Urteil des Finanzgerichts vom 31. August 1955 dahingehend, daß sich die Steuer um 27.145,80 DM ermäßigte.

Bereits mit Schreiben vom 26. Januar 1953 hatten die Bf. im Hinblick auf das in der Hauptsache schwebende Rechtsmittelverfahren beantragt, die Vollziehung wegen rückständiger Einkommensteuer II/1948 und 1949 gemäß § 251 AO auszusetzen. Diesem Antrag hatte die Oberfinanzdirektion auf Beschwerde mit Entscheidung vom 15. April 1953 nur insoweit stattgegeben, als sie wegen eines Teilbetrages von je 3.000 DM, insgesamt also wegen eines Betrages von 6.000 DM, die Vollziehung aussetzte. Hinsichtlich des danach noch verbleibenden und inzwischen bereits getilgten Betrages von 21.145,80 DM hatte die Beschwerde keinen Erfolg. Der Senat geht in Anbetracht des auch für die Beteiligten kaum mehr bis ins einzelne überschaubaren Zahlenmaterials davon aus, daß es sich bei der hier streitigen Frage der Vollziehungsaussetzung im Sinne des § 251 AO im wesentlichen um diesen Steuerbetrag von 21.145,80 DM handelt, wozu noch Steuersäumniszuschläge kommen. Auf die sich nunmehr anschließende Berufung, mit der sich die Bf. gegen die ablehnende Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion vom 15. April 1953 wandten, hob das Finanzgericht durch Urteil vom 22. Dezember 1954 die Beschwerdeentscheidung auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an die Oberfinanzdirektion zurück. Das Urteil, gegen das von keinem der Beteiligten Rechtsmittel eingelegt wurde, ging der Oberfinanzdirektion am 3. Februar 1955 zu.

Mit Schreiben vom 10. September 1955 wandten sich die Bf., da bis zu diesem Zeitpunkt noch keine erneute Entscheidung der Oberfinanzdirektion ergangen war, an das Finanzgericht mit dem Antrag, nunmehr auch ohne vorangegangene Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion unmittelbar zu entscheiden, da die Oberfinanzdirektion als Beschwerdeinstanz ihre Entscheidung über Gebühr hinauszögere.

Das Finanzgericht verwarf die Berufung als unzulässig, indem es ausführte: Nach der gegenwärtig geltenden Rechtslage müsse für den Bereich des Steuerrechts die Zulässigkeit einer "Untätigkeitsklage", wie sie von dem Bf. beabsichtigt sei, verneint werden. Es seien in dem Gesetz keinerlei Fristen festgelegt, innerhalb deren eine Einspruchsentscheidung oder eine Beschwerdeentscheidung zu erlassen sei. Von einer Rechtsverletzung im Sinne des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) könne aber nur dann gesprochen werden, wenn eine im Gesetz festgelegte Frist verstrichen sei. Es würde zu einer überforderung der Gerichte führen, wenn sie ohne gesetzliche Regelung im einzelnen Falle bestimmen sollten, ob die Rechte des Steuerpflichtigen durch eine noch nicht getroffene Einspruchs- oder Beschwerdeentscheidung verletzt seien.

 

Entscheidungsgründe

Dagegen richtet sich die Rb. Sie ist unbegründet.

Die Entscheidung über eine Vollziehungsaussetzung nach § 251 AO ist eine nach Recht und Billigkeit zu treffende Ermessensentscheidung. Nach dem Gutachten des Großen Senats des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951 (BStBl 1951 III S. 107, Slg. Bd. 55 S. 277) setzt die Anrufung der Steuergerichte bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden grundsätzlich voraus, daß die nach § 237 AO zulässigen Rechtsbehelfe bei den Verwaltungsbehörden ausgeschöpft sind. Nachdem das Finanzgericht die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion vom 15. April 1953 aufgehoben hatte, mußte nunmehr grundsätzlich eine erneute Entscheidung der Oberfinanzdirektion ergehen. Wie der Bundesfinanzhof jedoch in der Entscheidung I 76/57 S vom 3. März 1959 (BStBl 1959 III S. 251, Slg. Bd. 68 S. 661) - im Gegensatz zu der von der Vorinstanz vertretenen Auffassung - entschieden hat, kann der Rechtsmittelführer nach Art. 19 Abs. 4 GG auch ohne vorangegangene Entscheidung der Verwaltung Berufung an das Finanzgericht einlegen, wenn die Behörde ihre Entscheidung ohne zwingenden Grund verzögert. Was in der genannten Entscheidung für das Einspruchsverfahren ausgeführt ist, muß auch gelten, wenn die Beschwerdeinstanz - hier die Oberfinanzdirektion - ihre Beschwerdeentscheidung ohne zureichenden Grund verzögert. Zur Frage der Verzögerung ist in der genannten Entscheidung I 76/57 S vom 3. März 1959 ausgeführt:

"Vor Ablauf einer angemessenen Frist liegt eine ungebührliche Verzögerung der Entscheidung durch das Finanzamt nicht vor. Welche Frist angemessen ist, muß im einzelnen Fall geprüft werden. Der Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Finanzgerichtsbarkeit (§§ 48 Abs. 1 Satz 2, 140) billigt dem Finanzamt in der Regel eine Frist von fünf Monaten zu. Diese Frist kann auch jetzt schon als Anhalt dienen. Entscheidet das Finanzamt innerhalb von fünf bis sechs Monaten nach Einlegung des Einspruchs, so liegt eine ungebührliche Verzögerung nicht vor. Eine ungebührliche Verzögerung liegt in der Regel ferner nicht vor, solange das Finanzamt sachdienliche Ermittlungen vornimmt oder der Steuerpflichtige mit der Hinausschiebung der Entscheidung einverstanden ist oder das Finanzamt den Umständen nach annehmen kann, daß der Steuerpflichtige auf eine alsbaldige Entscheidung keinen Wert legt."

Bei Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts nach diesen Grundsätzen vermag der Senat eine zur unmittelbaren Anrufung des Finanzgerichts berechtigende Verzögerung der Beschwerdeentscheidung durch die Oberfinanzdirektion nicht anzuerkennen. Zunächst muß - im Gegensatz zur Auffassung der Bf. - der bis zum Erlaß des Urteils des Finanzgerichts vom 22. Dezember 1954 abgelaufene Zeitraum außer Betracht bleiben. Es muß ferner berücksichtigt werden, daß der Oberfinanzdirektion das Urteil des Finanzgerichts vom 22. Dezember 1954 erst am 3. Februar 1955 zugegangen ist. Von diesem Zeitpunkt an bis zur Berufungseinlegung durch Schriftsatz vom 10. September 1955 waren etwa sieben Monate vergangen, ohne daß bis dahin die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion vorlag, die erst später - am 18. November 1955 - erging. Es ist zu prüfen, ob die Oberfinanzdirektion innerhalb des genannten Zeitraums von sieben Monaten die von ihr nach den Weisungen des Finanzgericht zu treffende erneute Entscheidung in ungebührlicher Weise verzögert hat. Das ist nach dem eindeutigen Akteninhalt zu verneinen. Der Oberfinanzdirektion war durch das Finanzgericht aufgegeben, eingehend zur Frage der Erfolgsaussichten der in der Hauptsache noch anhängigen Rechtsmittel Stellung zu nehmen und demgemäß "den Streitgegenstand der gegen die einheitlichen Gewinnfeststellungen II/1948 und 1949 schwebenden Rechtsmittel einer eingehenden Erörterung" zu unterziehen. Die dazu erforderlichen Gewinnfeststellungsakten wurden jedoch bereits am 17. März 1955 dem Finanzgericht auf dessen Ersuchen zur Entscheidung über die in der Hauptsache schwebenden Rechtsmittel übersandt, wo sie sich mit kurzfristiger Unterbrechung von wenigen Tagen befanden und von wo sie erst am 28. September 1955 an die Oberfinanzdirektion zurückgelangten. Wie die dem Senat vorliegenden Akten ergeben, war die Oberfinanzdirektion im übrigen seit dem 11. März 1955 unablässig in der Sache durch Fristüberwachung, vorbereitende Prüfung bzw. Erörterung und durch Berichtsanforderung an das Finanzamt tätig. Mit Bericht vom 28. Juni 1955 teilte das Finanzamt der Oberfinanzdirektion mit, "daß es in Höhe der bereits gezahlten strittigen Beträge Steuern der folgenden Veranlagungszeiträume nach § 251 AO aussetzen werde". Der Vertreter der Bf. habe sich mit dieser Regelung einverstanden erklärt und bestätigt, daß er unter diesen Umständen nicht mehr auf einer förmlichen Aussetzung der Vollziehung und damit auf entsprechender Steuererstattung bestehe. Nach den Akten sind derartige Aussetzungen auch bis zum Betrage von rund 18.000 DM erfolgt. Von dieser Mitteilung des Finanzamts durfte die Oberfinanzdirektion bei ihrer weiteren Sachbehandlung ausgehen. Unter diesen Umständen kann eine ungebührliche Verzögerung der Beschwerdeentscheidung durch die Oberfinanzdirektion nicht anerkannt werden, so daß das Finanzgericht die "Untätigkeitsklage" der Bf. im Ergebnis mit Recht als unzulässig verworfen hat.

II. Urteil Wegen des Sachverhalts wird auf den Bescheid vom 9. Juli 1959 Bezug genommen. Die mündliche Verhandlung, in der die Beteiligten im wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen wiederholt haben, hat keine neuen rechtlichen Gesichtspunkte ergeben, die dem Senat Anlaß bieten könnten, seine im Vorbescheid dargelegte Rechtsauffassung aufzugeben. Nach den in diesem Bescheid dargelegten Umständen ist in der Sachbehandlung der Oberfinanzdirektion keine Ermessensverletzung zu sehen. Insbesondere ist auch mit der von den Bf. in Anspruch genommenen Stundung der laufenden Steuern ihren berechtigten Interessen hinreichend Rechnung getragen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409541

BStBl III 1960, 122

BFHE 1960, 330

BFHE 70, 326

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