Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorläufiger Rechtsschutz bei negativem Referenzmengen-Feststellungsbescheid

 

Leitsatz (NV)

1. Vorläufiger Rechtsschutz bei einem negativen Referenzmengen-Feststellungsbescheid ist durch Aussetzung der Vollziehung zu gewähren.

2. Zum Bescheinigungserfordernis für Härtefallregelungen bei Berufung auf Verfassungsrecht.

 

Normenkette

FGO § 69; EWGV 857/84 Art. 4 Abs. 1 Buchst. c; MGVO § 9 Abs. 2

 

Verfahrensgang

FG München

 

Tatbestand

Die Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) bewirtschaften einen landwirtschaflichen Betrieb. Sie erhielten mit Bescheid vom 29. Juli 1980 für die Nichtvermarktung von Milch und Milcherzeugnissen in der Zeit vom 29. Januar 1981 bis 29. Januar 1986 Prämien. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Hauptzollamt - HZA -) stellte mit Bescheid vom 4. April 1986 für die Antragsteller die Anlieferungs-Referenzmenge nach der Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGVO) auf eine Höhe von 0 kg fest. Er bestätigte diesen Bescheid mit Einspruchsentscheidung vom 6. Mai 1986. Über die dagegen eingelegte Klage hat das Finanzgericht (FG) noch nicht entschieden. Mit Schriftsatz vom 3. Juni 1986 beantragten die Antragsteller beim FG, die Vollziehung der Referenzmengenfeststellung auszusetzen und bis zur Entscheidung in der Hauptsache eine Referenzmenge von 80 000 kg jährlich festzustellen.

Das FG setzte die Vollziehung der Bescheide des HZA aus mit der Maßgabe, daß einstweilig von einer Referenzmenge in Höhe von 31 570 kg jährlich auszugehen sei, und lehnte den Antrag im übrigen ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus:

Vorläufiger Rechtsschutz sei durch Aussetzung der Vollziehung zu gewähren (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 17. Dezember 1985 VII B 116/85, BFHE 145, 289). Die Gründe, die es nach der Rechtsprechung des BFH (Beschluß vom 17. Januar 1985 IV B 65/84, BFHE 143, 10, BStBl II 1985, 299) rechtfertigten, bei einem negativen Feststellungsbescheid vorläufigen Rechtsschutz durch Aussetzung der Vollziehung zu gewähren, griffen unabhängig davon durch, ob für die in einem Grundlagenbescheid zu treffende Entscheidung über einzelne Besteuerungsgrundlagen der Steuerbehörde ein Ermessensspielraum eingeräumt sei. Der Antrag sei teilweise begründet. Das HZA habe zu Unrecht die Zuteilung einer ,,zusätzlichen Referenzmenge" von der Voraussetzung abhängig gemacht, daß den Antragstellern bereits eine Referenzmenge zustehe (vgl. Beschluß des FG München vom 11. Juni 1986 III 47/85, Zeitschrift für Zölle + Verbrauchsteuern - ZfZ - 1986, 278). Das HZA habe daher unterlassen zu prüfen, ob bei den Antragstellern die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umstrukturierung nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 (VO Nr. 857/84) des Rates vom 31. März 1984 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - L 90/13) vorlägen, und habe demzufolge nicht von dem ihm nach dieser Vorschrift eingeräumten Ermessen für die Zuteilung einer zusätzlichen Referenzmenge Gebrauch gemacht. Das FG sehe die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umstrukturierung für gegeben an. Das HZA habe die Versagung einer Referenzmenge nicht darauf stützen dürfen, daß die Antragsteller keine Bescheinigung einer Landesstelle nach § 9 Abs. 2 MGVO vorlegen könnten. Die Landesstellen hätten bei der Festsetzung der Referenzmenge nicht in der Weise mitzuwirken, daß die Bescheinigung eine materiellrechtliche Voraussetzung für eine Neuberechnung durch das HZA bilde (vgl. Beschluß des FG München in ZfZ 1986, 278). Den Antragstellern sei eine Referenzmenge in Höhe von 31 570 kg zuzuweisen.

Das FG hat die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Das HZA begründet seine Beschwerde - der das FG nicht abgeholfen hat - wie folgt: Nach dem Urteil des Senats vom 28. Oktober 1986 VII R 41/86 (BFHE 148, 84) seien auch Nichtvermarkter gehalten, bei der Landesstelle die Ausstellung einer Härtefallbescheinigung entsprechend § 9 Abs. 2 MGVO zu beantragen. Ohne eine solche Bescheinigung dürfe es, das HZA, keine Referenzmenge zuweisen. Es beantrage daher, die Vorentscheidung aufzuheben und (sinngemäß) den Antrag abzuweisen.

Die Antragsteller beantragen sinngemäß, die Beschwerde zurückzuweisen. Sie tragen u. a. vor: Die Rechtsprechung des Senats sei unzutreffend. Wie aus dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH) vom 28. April 1987 entnommen werden könne, gehe auch der BayVGH davon aus, daß insbesondere für die Fälle, in denen den Milcherzeugern eine Milchquote 0 zugewiesen worden sei, der Finanzrechtsweg gegeben sei. Die Rechtsprechung des Senats werde auch von der Landwirtschaftsverwaltung nicht akzeptiert. Die betroffenen Milcherzeuger seien daher bei der derzeitigen Rechtslage genötigt, eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts und letztlich wohl des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes herbeizuführen, um nur die Rechtswegzuständigkeit zu klären. Der Senat werde daher gebeten, seine Rechtsprechung zu überdenken.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde des HZA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung des Antrags.

Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, daß auch im Falle eines negativen Referenzmengen-Feststellungsbescheides vorläufiger Rechtsschutz im Wege der Aussetzung der Vollziehung gewährt werden kann. Der Senat hat diese Frage bisher zwar unentschieden gelassen (vgl. Beschluß vom 18. Februar 1986 VII B 114/85, BFHE 146, 1). Inzwischen aber hat der Große Senat des BFH mit Beschluß vom 14. April 1987 GrS 2/85 (BFHE 149, 493, BStBl II 1987, 637) die parallele Frage, wie vorläufiger Rechtsschutz bei einem negativen Gewinnfeststellungsbescheid zu gewähren ist, zugunsten der Aussetzung der Vollziehung entschieden. Er hat dazu ausgeführt, in einem solchen Fall sei auszusprechen, die Vollziehung des angefochtenen Bescheids werde mit der Maßgabe ausgesetzt, daß vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptverfahren von einem Verlust von X DM auszugehen sei. Wegen der vom Senat in der Entscheidung in BFHE 146, 1 näher begründeten Vergleichbarkeit eines negativen Gewinnfeststellungsbescheides mit einem negativen Referenzmengen-Feststellungsbescheid folgt der Senat auch für einen solchen Bescheid der Auffassung des Großen Senats (vgl. auch Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 26. Mai 1986 3 V 7/86, Entscheidungen der Finanzgerichte 1986, 461).

Zu Unrecht hat das FG jedoch die Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 und 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) für gegeben erachtet. An der Rechtmäßigkeit des Feststellungsbescheids des HZA bestehen weder ernstliche Zweifel noch haben die Bescheide eine unbillige Härte zur Folge. Zur Begründung verweist der Senat auf sein Urteil in BFHE 148, 84 (vgl. auch Recht der Internationalen Wirtschaft 1987, 71), in dem er sich auch mit den Argumenten der Vorentscheidung auseinandergesetzt hat.

Nach Auffassung des BayVGH in dem von den Antragstellern zitierten Urteil vom 28. Apirl 1987 (nicht veröffentlicht) ist das Bescheinigungsverfahren nach § 9 Abs. 2 MGVO ,,jedenfalls keine Rechtsgrundlage für einen etwa verfassungsrechtlich gebotenen individuellen Härteausgleich . . . Insoweit muß sich der Kläger . . . darauf verweisen lassen, auf der Grundlage spezieller abgabenrechtlicher Härteregelungen im zollamtlichen und ggf. finanzgerichtlichen Verfahren einen Ausgleich zu suchen". Der Senat teilt diese Auffassung nicht. Wie er in seinem Urteil in BFHE 148, 84, 87 näher begründet hat, beschränkt die Regelung des § 9 Abs. 2 Nr. 1 MGVO das Bescheinigungserfordernis nicht auf bestimmte ausdrückliche und abschließend dargestellte Regelungen des Gemeinschaftsrechts. Dieses Erfordernis gilt vielmehr für jede gemeinschaftsrechtliche Härtefallregelung, d. h. auch für eine etwaige ungeschriebene, durch Auslegung dem Recht zu entnehmende und über die Gerichte unter Berufung auf Verfassungsrecht zu erstreitende Regelung, die für ein außergewöhnliches Ereignis eine besondere Referenzmengenzuteilung vorsieht. Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht auch der Umstand, daß die VO Nr. 857/84 - die zu den in §§ 1, 9 Abs. 2 Nr. 1 MGVO genannten Rechtsakten gehört - selbst die aufgezählten Härtefälle nicht als abschließend betrachtet; denn nach Art. 3 Unterabsatz 3 dieser Verordnung kann ,,die Aufzählung der Situationen nach Unterabsatz 2 . . . nach dem Verfahren des Art. 30 der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 (des Rates vom 27. 6. 1968, ABLEG L 148/13) ergänzt werden". Diese Auslegung des § 9 Abs. 2 Nr. 1 MGVO ist auch aus den in BFHE 148, 84, 87 genannten Gründen sinnvoll; denn falls mit den Antragstellern von der Existenz eines ungeschriebenen allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Härtefalltatbestandes für Nichtvermarkter auszugehen wäre, müßte dieser mit Sicherheit gewisse agrarspezifische Einschränkungen und Kautelen enthalten, deren Vorliegen zweckmäßigerweise von den sachverständigen örtlichen Landesbehörden bescheinigt werden sollte.

Auch eine Aussetzung der Vollziehung wegen unbilliger Härte ist im Gegensatz zur Auffassung des FG nicht möglich. Eine solche Aussetzung wäre nur zulässig, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes nicht ausgeschlossen werden könnten (vgl. BFHE 146, 1, 3 ff., mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Diese Voraussetzung ist hier aber, wie sich aus den obigen Ausführungen und dem Senatsurteil in BFHE 148, 84 ergibt, nicht erfüllt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415353

BFH/NV 1988, 66

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