Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Aussetzung der Vollziehung einer Milch-Referenzmengen-Feststellung

 

Leitsatz (NV)

1. Die Mitwirkung der Landeslandwirtschaftsstellen im Rahmen der Milch-Garantiemengen-Regelung ist keine Teilhabe an der Finanzverwaltung i. S. des Art. 108 Abs. 1 Satz 1 GG.

2. Das Bescheinigungserfordernis nach § 9 Abs. 2 NR. 1 MGVO gilt für jede gemeinschaftsrechtliche Härtefallregelung, d. h. auch für eine etwaige ungeschriebene, durch Auslegung dem Recht zu entnehmende und über die Gerichte zu erstreitende Regelung, die für außergewöhnliche Ereignisse eine besondere Referenzmengenzuteilung vorsieht.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4, Art. 108 Abs. 1 S. 1; FGO § 69; MGVO §§ 4, 9 Abs. 2

 

Tatbestand

Der Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) ist Landwirt. Die Molkerei, an die er die in seinem Betrieb erzeugte Milch abliefert, berechnete laut ihrem Schreiben vom 2. Juli 1984 für den Antragsteller eine Anlieferungs-Referenzmenge nach der Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGVO) in Höhe von 37 000 kg. Mit Bescheid vom 18. April 1985 bescheinigte die Landesbehörde X dem Antragsteller das Vorliegen der Voraussetzungen für eine zusätzliche Referenzmenge nach § 6 Abs. 8 MGVO in Höhe von 2 000 kg. Die Molkerei berechnete daraufhin die Referenzmenge des Antragstellers neu auf 39 000 kg. Gegen diese Festsetzung legte der Antragsteller Einspruch beim Antragsgegner und Beschwerdeführer (Hauptzollamt - HZA -) ein, über den noch nicht entschieden ist. Den Antrag des Antragstellers auf Aussetzung der Vollziehung lehnte das HZA mit Bescheid vom 15. Juli 1985 ab.

Auf Antrag des Antragstellers setzte das Finanzgericht (FG) die Vollziehung der Referenzmengen-Feststellung auf 39 000 kg aus mit der Maßgabe, daß einstweilen von einer Referenzmenge in Höhe von 56 700 kg auszugehen ist. Zur Begründung führte das FG u. a. aus: Die Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 und 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) seien gegeben. In Übereinstimmung mit dem HZA und der Landwirtschaftsverwaltung sei das FG der Auffassung, daß dem Antragsteller zur erfolgreichen Umstrukturierung eine zusätzliche Referenzmenge nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 (VO Nr. 857/84) des Rates vom 31. März 1984 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - AblEG - L 90/13) zuzuweisen sei. Die Erhaltung des auf die Milchwirtschaft angewiesenen kleinbäuerlichen Hofes des Antragstellers sei mit der ihm zugewiesenen zusätzlichen Referenzmenge von 2 000 kg Milch nicht möglich. Es sprächen gewichtige Gründe dafür, daß der Antragsteller bei vertrags- und grundrechtskonformer Auslegung des Art. 4 Abs. 1 Buchst. c VO Nr. 857/84 einen Anspruch auf die Zuteilung einer zusätzlichen Referenzmenge von mindestens 19 700 kg habe. Die Aussetzung der Vollziehung sei auch deswegen gerechtfertigt, weil ihre Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (§ 69 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 FGO). Das FG hat diesen Beschluß im wesentlichen ebenso begründet wie seinen Beschluß vom 11. Juni 1986 III 47/85 Aus Z, eA (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1985, 618, Zeitschrift für Zölle + Verbrauchsteuern - ZfZ - 1986, 278). Das FG hat die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Das HZA begründet seine Beschwerde wie folgt: Das FG sei zu Unrecht von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (Beschluß vom 17. Dezember 1985 VII B 116/85, BFHE 145, 289; Urteil vom 28. Oktober 1986 VII R 41/86, BFHE 148, 84) abgewichen. Danach dürfe die Zollverwaltung in Härtefällen die Referenzmenge nur nach Maßgabe einer von der zuständigen Landesstelle nach § 9 Abs. 2 MGVO ausgestellten Bescheinigung heraufsetzen. Da eine solche Bescheinigung bisher nicht vorgelegt worden sei, könne dem Begehren des Antragstellers nicht entsprochen werden. Das HZA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung den Antrag abzuweisen.

Der Antragsteller beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen. Er führt im wesentlichen aus:

Unterstelle man entsprechend den Entscheidungen des erkennenden Senats, daß wegen größerer Sachkunde die Landwirtschaftsverwaltung zuständig sein solle, so könne das tatsächlich nur für die tatbestandlichen Feststellungen im Rahmen des Art. 4 Abs. 1 Buchst. c VO Nr. 857/84 gelten. Die Landwirtschaftsverwaltung könne also allenfalls darüber befinden, ob die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umstrukturierung der Milcherzeugung gegeben seien. Daß diese Voraussetzungen erfüllt seien, habe die Landesbehörde X mit Bescheid vom 18. April 1985 festgestellt. Keinesfalls könne aber die zuständige Landesstelle zusätzliche Referenzmengen zuteilen, da es sich insoweit funktional um Abgabenangelegenheiten i. S. des § 33 FGO und des Art. 108 des Grundgesetzes (GG) handle. Der durch § 9 Abs. 2 Nr. 6 MGVO geschaffenen Mischverwaltung stehe die nach Wortlaut und Sinn eindeutige Vorschrift des Art. 108 GG entgegen. Dieses Verfahren könne nicht durch eine Rechtsverordnung, die zudem noch ohne Zustimmung des Bundesrates erlassen worden sei, geregelt werden. Bei der Verteilung von Zusatzkontingenten nach § 9 Abs. 2 Nr. 6 MGVO habe er, der Antragsteller, einen Anspruch darauf, daß über seinen Antrag nach Kriterien entschieden werde, deren wesentliche Grundaussagen vom Normengeber selbst getroffen worden seien. Das gebiete bereits Art. 4 Abs. 1 Buchst. c VO Nr. 857/84. Das Verfahren nach § 9 Abs. 2 Nr. 6 MGVO sei auch mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG und dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar.

Die Auffassung des HZA, die Vorentscheidung verstoße gegen das Senatsurteil in BFHE 148, 84, treffe nicht zu. Das Gegenteil sei der Fall. Wenn der Senat ausführe, bei der Ausstellung der in § 9 Abs. 2 MGVO vorgesehenen Bescheinigungen spielten eigentliche abgabenrechtliche Fragen keine Rolle, so gelte das sicherlich nicht für die Bescheinigung nach § 9 Abs. 2 Nr. 6 MGVO, da in Übereinstimmung mit dem Senat die zuständigen Landesstellen lediglich landwirtschaftliche Sachverhalte zu beurteilen hätten.

Zutreffend habe das FG festgestellt, daß eine erfolgreiche Umstrukturierung die Erhaltung eines Betriebs umfasse, der sich für eine Umstellung auf alternative Bewirtschaftungsformen nicht eigne. Auch das HZA habe nicht bestritten, daß der landwirtschaftliche Betrieb in seiner Fortführung bereits kurzfristig extrem gefährdet sei. Die unterlassene weitere Zuweisung von mindestens 19 700 kg Referenzmenge verstoße gegen Art. 14, 12 und 3 GG. Da seine, des Antragstellers, Existenz durch die Versagung einer ausreichenden Referenzmenge ernsthaft bedroht sei, habe die Vollziehung der Referenzmengenfeststellung auch eine unbillige Härte i. S. des § 69 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 FGO zur Folge.

Falls der Senat die Auffassung vertrete, er, der Antragsteller, müsse in jedem Fall eine Bescheinigung der Landesstelle für die Erteilung der Referenzmenge vorlegen, die über die Bescheinigung vom 18. April 1985 hinausgehe, würde sich in Anbetracht der einschlägigen und gefestigten Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH) ein negativer Kompetenzkonflikt ergeben, der mit der Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht in Einklang zu bringen sei. Wenn Bescheinigungen vorzulegen seien, die in den einschlägigen Regelungen überhaupt nicht vorgesehen seien, würde die Anwendung der Rechtsprechung des BFH einerseits und der Rechtsprechung des BayVGH andererseits dazu führen, daß den Betroffenen gegenwärtig überhaupt kein Rechtsschutz zur Verfügung stünde.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung des Antrags. Zu Unrecht hat das FG die Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 und 3 FGO für gegeben erachtet. An der Rechtmäßigkeit des Referenzmengen-Feststellungsbescheids bestehen weder ernstliche Zweifel noch hat der Bescheid eine unbillige Härte zur Folge. Zur Begründung verweist der Senat auf sein Urteil in BFHE 148, 84, in dem er sich auch mit den wesentlichen Argumenten der Vorinstanz und des Antragstellers auseinandergesetzt hat.

Der Senat hält an seiner Auffassung fest, daß die Mitwirkung der Landesstellen im Rahmen der Milch-Garantiemengen-Regelung nicht Teilhabe an der Finanzverwaltung i. S. des Art. 108 Abs. 1 Satz 1 GG ist (vgl. BFHE 148, 84, 85). Im Gegensatz zur Auffassung des Antragstellers stellen die Bescheinigungen der Landesstellen nach § 9 Abs. 2 MGVO auch insoweit keine Mitwirkung an der Abgabenerhebung dar, als sie nicht nur dem Grunde nach das Bestehen eines Härtefalles im Sinne der Milch-Garantiemengen-Regelung feststellen, sondern auch zum Ausdruck bringen, von welcher Milchmenge wegen dieses Härtefalles bei der Berechnung der Referenzmenge auszugehen ist. Die Bescheinigungen stellen keine Festsetzung der Referenzmenge dar, sondern geben lediglich die Grundlage für die Berechnung dieser Referenzmenge nach § 4 MGVO und für deren Feststellungen ab; letztere ist nach der Regelung der MGVO den Zollbehörden vorbehalten. Die Bescheinigungen gehen nur auf Fragen ein, die inhaltlich spezifisch landwirtschaftlicher Natur sind und das Steuerrecht nur mittelbar berühren. Ihre Ausstellung kann daher genausowenig als Mitwirkung bei der Abgabenerhebung angesehen werden wie die Ausstellung der zahlreichen sonstigen Bescheinigungen nichtabgabenrechtlichen Inhalts durch andere als Steuerbehörden, die nach dem speziellen Steuerrecht bei der Steuererhebung eine Rolle spielen (vgl. die Aufzählung in BFHE 148, 84, 86 und z. B. BFH-Urteile vom 29. August 1986 III R 71/82, BFHE 147, 572, BStBl II 1986, 920, und vom 20. März 1987 III R 16/82, BFHE 149, 371, BStBl II 1987, 506). Auch die rechtliche Qualifikation dieser Bescheide als Grundlagenbescheide im Sinne der Abgabenordnung (AO 1977) (vgl. BFHE 148, 84, 88) vermag daran nichts zu ändern (so im Ergebnis auch das Urteil des BayVGH vom 20. Februar 1987 9 B A. 3134, Bayerische Verwaltungsblätter 1987, 339, 340). Im Gegensatz zur Auffassung des Antragstellers ist dem Senatsurteil in BFHE 146, 298 nicht zu entnehmen, daß für Bescheinigungen nach § 9 Abs. 2 Nr. 6 MGVO etwas anderes gelte; der Senat hat in dem Urteil, wie der Wortlaut der Begründung klar ergibt, nicht danach unterschieden, auf welcher Regelung der MGVO die einzelnen Bescheinigungen beruhen.

Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ist nicht berührt. Zwar ist der BayVGH offenbar der Auffassung, das Bescheinigungserfordernis nach § 9 MGVO sei auf bestimmte ausdrückliche und abschließende Regelungen des Gemeinschaftsrechts beschränkt, so daß, soweit gerügt werde, es fehle an einer allgemeinen Härteklausel, das zuerst vor den Finanzbehörden geltend gemacht und ggf. die Hilfe der FG beansprucht werden müsse. Es ist schon fraglich, ob ein solcher Fall hier gegeben ist, da sich der Antragsteller in erster Linie auf einen bestimmten Härtefalltatbestand, nämlich den des Art. 4 Abs. 1 Buchst. c VO Nr. 857/84, beruft. Jedenfalls aber teilt der Senat die Auffassung des BayVGH nicht. Wie er in seinem Urteil in BFHE 148, 84, 87 näher begründet hat, gilt das Bescheinigungserfordernis nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 MGVO für jede gemeinschaftsrechtliche Härtefallregelung, d. h. auch für eine etwaige ungeschriebene, durch Auslegung dem Recht zu entnehmende und über die Gerichte unter Berufung auf Verfassungsrecht zu erstreitende Regelung, die für ein außergewöhnliches Ereignis eine besondere Referenzmengenzuteilung vorsieht. Der Senat verkennt nicht, welche Nachteile sich für die Rechtsuchenden daraus ergeben können, wenn die FG und die Verwaltungsgerichte diese Frage unterschiedlich beurteilen. Es bleibt aber abzuwarten, ob das Bundesverwaltungsgericht die Auffassung des BayVGH bestätigt. Erforderlichenfalls müßte der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes die Einheitlichkeit der Rechtsprechung auf diesem Gebiete sicherstellen. Die dadurch möglicherweise eintretende Verzögerung der Entscheidung belegt für sich allein keine Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG (vgl. auch Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. IV Rdnrn. 262, 263, 273 ff.), zumal aus dieser Vorschrift keine Erkenntnisse darüber zu gewinnen sind, wie die genannte Rechtsfrage zu entscheiden ist.

Auch eine Aussetzung der Vollziehung wegen unbilliger Härte ist im Gegensatz zur Auffassung des FG nicht möglich. Eine solche Aussetzung wäre nur zulässig, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts nicht ausgeschlossen werden könnten (vgl. Senatsbeschluß vom 18. Februar 1986 VII B 114/85, BFHE 146, 1, 3 ff., mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Diese Voraussetzung ist hier aber, wie sich aus den obigen Ausführungen und dem Senatsurteil in BFHE 148, 84 ergibt, nicht erfüllt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415386

BFH/NV 1988, 473

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