Ernstliche Zweifel an der Höhe der Säumniszuschläge
Hintergrund: Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Höhe der Säumniszuschläge
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der in den Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge.
Die X-KG beantragte die Erteilung von Abrechnungsbescheiden für alle ab 1.1.2020 angefallenen Säumniszuschläge. Diese seien hinsichtlich des Zinsanteils und auch des "Druckcharakters" verfassungswidrig.
Gegen die erlassenen Abrechnungsbescheide (USt Mai 2014 und 2014 bis 2017, in denen das FA die entstandenen und die noch zu verwirklichenden Säumniszuschläge auswies, legte die X Einspruch ein, der im Hinblick auf das beim BFH anhängige Revisionsverfahren VII R 55/20 (betr. Säumniszuschläge für 2012, 2015, 2016) ruht. Den Antrag auf AdV lehnte das FA ab.
Hierauf beantragte X die AdV beim FG. Dieses gab dem AdV-Antrag hinsichtlich der hälftigen nach dem 31.12.2018 entstandenen Säumniszuschläge statt. Im Übrigen (vor dem 1.1.2019 entstandene Säumniszuschläge) wies das FG den Antrag mangels ernstlicher Zweifel als unbegründet zurück. Das FG ließ die Beschwerde zu.
Entscheidung: Höhe der Säumniszuschläge möglicherweise verfassungswidrig
Die Beschwerde der X hatte insoweit Erfolg, als der BFH die AdV für die nach dem 31.12.2018 entstandenen Säumniszuschläge über den vom FG anerkannten hälftigen Teil hinaus (d.h. in vollem Umfang) anerkannte.
BVerfG-Beschluss v. 8.7.2021 zur Vollverzinsung
Nach der Auffassung des BVerfG verstößt § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO gegen Art. 3 Abs. 1 GG und ist daher verfassungswidrig, soweit er auf Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2014 zur Anwendung gelangt. Aufgrund einer Fortgeltungsanordnung für die Verzinsungszeiträume bis zum 31.12.2018 ist der Zinssatz von 6 % p.a. allerdings erst für Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2019 nicht mehr anwendbar (BVerfG v. 8.7.2021, 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, S. 282, BFH/NV 2021, S. 1455).
Verfassungsrechtliche Beurteilung der Säumniszuschläge
Die Grundsätze des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Vollverzinsung nach § 233a sind auf die Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 AO übertragbar. Zwar geht das BVerfG davon aus, dass andere Verzinsungstatbestände eigenständig verfassungsrechtlich bewertet werden müssen. Für die Säumniszuschläge hält der BFH indes auch nach der Entscheidung des BVerfG daran fest, dass die Höhe der Zuschläge verfassungsrechtlich zweifelhaft ist, und zwar soweit die Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels, sondern eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung haben (zinsähnliche Funktion, Anschluss an BFH v. 31.8.2021, VII B 69/21, n.v.). Es ist anerkannt, dass Säumniszuschlägen auch die Funktion einer Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zukommt (BFH v. 9.7.2003, V R 57/02, BStBl II 2003, S. 901).
Einheitlich Beurteilung der Säumniszuschläge
Da die gesetzlich festgelegte Höhe der Säumniszuschläge nur insgesamt verfassungsgemäß oder verfassungswidrig sein kann, weil es keine Teilverfassungswidrigkeit in Bezug auf einen bestimmten Zweck einer Norm gibt, erfassen die ernstlichen Zweifel die gesamte Höhe der Säumniszuschläge (BFH v. 4.7.2019, VIII B 128/18, BFH/NV 2019, S. 1060, Rz. 16 zu ernstlichen Zweifeln bei Aussetzungszinsen). Die vom FG gefundene Lösung, die AdV nur hälftig anzuerkennen, ist damit ausgeschlossen.
Hinweis: Neuregelung der Verzinsung von Steuernachforderungen nach § 233a AO
Am 8.7.2022 hat der Bundesrat dem Zweiten Gesetz zur Änderung der AO, mit dem die vom BVerfG geforderte Neuregelung des Zinssatzes bei Zinsen nach § 233a AO geregelt wird, zugestimmt. Danach soll die Angemessenheit des Zinssatzes regelmäßig überprüft werden. Die Frage, ob auch für andere Zinsen nach der AO oder den Einzelsteuergesetzen als Nachzahlungs- und Erstattungszinsen nach § 233a AO sowie für Säumniszuschläge nach § 240 AO eine Neuregelung des Zinssatzes erfolgen muss, soll nicht in diesem Gesetz beantwortet werden. Ob diese Regelungen nach der Entscheidung des BVerfG ebenfalls anzupassen sind, soll geprüft werden.
Unionsrecht
Aus dem Unionsrecht ergeben sich keine ernstlichen rechtlichen Zweifel. Das Unionsrecht enthält keine Normen zu steuerlichen Nebenleistungen i.S. des § 3 Abs. 4 AO. Diese gehören zum Verfahrensrecht, für das der Grundsatz der Autonomie der Mitgliedstaaten gilt. Danach legen die Mitgliedstaaten die verfahrensrechtlichen Bestimmungen und Abläufe grundsätzlich autonom fest. Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten wird allerdings durch die zum Unionsrecht gehörenden Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität begrenzt. Außerdem müssen die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsregelungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit berücksichtigen. Jedenfalls bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung anerkennt der BFH keine ernstlichen Zweifel an einem Verstoß des § 240 AO gegen diese unionsrechtlichen Grundsätze. Auch ein Verstoß gegen das Neutralitätsprinzip ist nicht ersichtlich. Der Grundsatz der Belastungsneutralität gilt für die USt, nicht aber für steuerliche Nebenleistungen wie Zinsen. Denn Zinsen zur USt haben keinen umsatzsteuerähnlichen Charakter i.S. von Art. 401 MwStSystRL.
BFH Beschluss vom 23.05.2022 - V B 4/22 (AdV) (veröffentlicht am 21.07.2022)
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