Leitsatz (amtlich)

Nach der Erledigung der Hauptsache eines Rechtsstreites, in dem die Klage nach § 46 FGO trotz Mitteilung eines für das Ausbleiben der Einspruchsentscheidung zureichenden Grundes erhoben worden war, kann bei der gemäß § 138 Abs. 1 FGO nach billigem Ermessen zu treffenden Kostenentscheidung auch berücksichtigt werden, daß § 46 FGO den Bürger vor der Gefahr schützen soll, daß ihm der durch Art. 19 Abs. 4 GG eröffnete Weg zum Gericht durch Verzögerung des in der Hand der Behörde liegenden Vorverfahrens verlegt wird.

 

Normenkette

FGO §§ 46, 138 Abs. 1

 

Tatbestand

Im Jahre 1966 fertigte eine Zollstelle des Beklagten und Beschwerdegegners ((HZA) auf Antrag der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) Gerste zum freien Verkehr ab. Sie ließ die Ware abschöpfungsfrei, weil die Klägerin eine Erstattungszusage der Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel (EVSt) vorlegte. Die EVSt widerrief am 29. Dezember 1967 die Abschöpfungsfreiheit gegenüber der Klägerin. Auf ihre Veranlassung forderte ein dem HZA unterstelltes ZA durch Bescheide vom 29. Dezember 1967 und 4. Januar 1968 von der Klägerin 27 693,70 DM Abschöpfung nach. Hiergegen erhob die Klägerin am 5. Januar 1968 Einspruch. Mit Schreiben vom 30. Januar 1968 teilte das HZA der Klägerin mit, es setze die Entscheidung über den Einspruch bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den von der Klägerin gegen den Widerrufsbescheid der EVSt erhobenen Einspruch aus.

Die Klägerin erhob am 27. Dezember 1968 Klage unter Berufung auf § 46 FGO. Während des Klageverfahrens nahmen am 5. Mai 1971 die EVSt die Widerrufsverfügung und das ZA den Nachforderungsbescheid zurück. Daraufhin erklärten die Klägerin und das HZA das Verfahren in der Hauptsache für erledigt. Das FG stellte durch Beschluß vom 12. Juli 1971 das Verfahren ein, erlegte dessen Kosten der Klägerin auf und lehnte deren Antrag ab, die Zuziehung ihrer Prozeßbevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären. Zur Begründung führte es aus:

Über die Kosten des Verfahrens sei nach § 138 Abs. 1 FGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu entscheiden gewesen. Dieser sei nach dem mutmaßlichen Ausgang des Prozesses im Falle seiner Nichterledigung zu würdigen gewesen. Die Klage hätte ohne die Erledigung in der Hauptsache als unzulässig abgewiesen werden müssen, weil das HZA für die Verzögerung der Einspruchsentscheidung einen zureichenden Grund gehabt und diesen der Klägerin am 30. Januar 1968 auch mitgeteilt habe (§ 46 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das HZA sei im Hinblick auf die sich aus dem Gesetz ergebende Verteilung der Zuständigkeit gehalten gewesen, für die Entscheidung über den Einspruch gegen den Nachforderungsbescheid den Ausgang des Verfahrens bei der EVSt abzuwarten. Es sei auch nicht in der Lage gewesen, von sich aus den Nachforderungsbescheid selbst bereits früher aufzuheben. In diesen Umständen habe ein zureichender Grund im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO gelegen. Der zureichende Grund habe auch bei Klageerhebung und über den Ablauf der Jahresfrist des § 46 Abs. 2 erster Halbsatz FGO hinaus bis zum erledigenden Ereignis fortbestanden. In der Aussetzung des Verfahrens durch das HZA gemäß § 244 AO liege mindestens konkludent die Zusage, nach Wegfall des den Erlaß der Einspruchsentscheidung hindernden Umstandes unverzüglich das Verfahren abzuschließen. Unter diesen besonderen Verhältnissen des Einzelfalles gelte die Jahresfrist des § 46 Abs. 2 erster Halbsatz FGO nicht (Beschluß des BFH vom 9. April 1968 I B 48/67, BFHE 92, 170, BStBl II 1968, 471).

Die Voraussetzungen für eine Kostenentscheidung nach § 138 Abs. 2 FGO lägen nicht vor.

Da die Klägerin die Kosten des Vorverfahrens selbst zu tragen habe, sei ihr Antrag, die Hinzuziehung ihrer Prozeßbevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären, abzuweisen.

Die Klägerin begründet ihre Beschwerde wie folgt:

Der BFH habe zwar entschieden, daß die angenommene Vorgreiflichkeit eines Verfahrens gegen einen Widerrufsbescheid der EVSt ein zureichender Grund im Sinne des § 46 Abs. 1 FGO sei und daß die Mitteilung eines solchen Grundes durch die Finanzbehörde die Sechsmonatsfrist des § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO hinausschiebe. Er habe aber nicht entschieden, ob der Steuerpflichtige in einem solchen Falle nicht nach § 46 Abs. 2 FGO klagen könne und zur Wahrung der in dieser Vorschrift erwähnten Jahresfrist auch klagen müsse. Die Klägerin habe im vorliegenden Falle die Klage erkennbar wegen des drohenden Ablaufs dieser Jahresfrist erhoben.

Bei der Auslegung des § 46 Abs. 2 FGO müsse Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beachtet werden, aus dem hervorgehe, daß Klagefristen aus dem Gesetzestext klar erkennbar sein müßten. Deshalb sei die unklare Formulierung des § 46 FGO dahin auszulegen, daß der Steuerpflichtige nach Ablauf von sechs Monaten klagen könne und bis zum Ablauf eines Jahres klagen müsse, und zwar auch dann, wenn ihm die Behörde einen nach ihrer Meinung zureichenden Grund mitgeteilt habe. Die Frage, wann geklagt werden darf, könne nicht von einer Ermessensentscheidung der Behörde abhängen.

Die Jahresfrist des § 46 Abs. 2 FGO unterscheide sich von der Klagefrist des § 46 Abs. 1 FGO dahin, daß sie selbst dann nicht verlängert werde, wenn höhere Gewalt oder besondere Verhältnisse des Einzelfalles ihrer Einhaltung entgegenstünden. Das ergebe sich aus der Verweisung auf § 56 Abs. 2 FGO. Denn diese Vorschrift spreche nur von einer versäumten Rechtshandlung, die nach Wegfall des Hindernisses nachgeholt werden müsse. Da der Gesetzgeber durch die Verweisung auf § 56 Abs. 2 FGO von einer "versäumten" Frist ausgegangen sei, könne er nicht gewollt haben, daß durch die Mitteilung eines zureichenden Grundes die im § 46 Abs. 2 FGO für die Erhebung der Klage gesetzte Jahresfrist hinausgeschoben werde und eine vorher erhobene Klage unzulässig sei. Es könne nicht unzulässig sein, wenn ein Steuerpflichtiger eine Frist nicht versäumen wolle, sondern vor ihrem Ablauf klage.

Die Klägerin hat beantragt, den Beschluß des FG in dem angefochtenen Umfang aufzuheben, die Kosten des Verfahrens dem HZA aufzuerlegen und die Zuziehung der Prozeßbevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Das HZA hat beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist zulässig und zum Teil begründet.

Obgleich die zur Erledigung des Rechtsstreits führende Rücknahme des angefochtenen Nachforderungsbescheides dem Antrag der Klägerin entsprach, war die Kostenentscheidung nicht nach § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO, sondern nach § 138 Abs. 1 FGO zu treffen. Die Rechtmäßigkeit des Nachforderungsbescheides hing vom Fortbestand des Widerrufsbescheides der EVSt ab, auf Grund dessen er erlassen worden war. Deshalb war die Rücknahme des Nachforderungsbescheides nicht Ausdruckeines Willens, dem Antrag der Klägerin stattzugeben, sondern nur die zwangsläufige Folge der Rücknahme des Widerrufsbescheides der EVSt (vgl. BFH-Beschlüsse vom 13. September 1968 VI B 101/67, BFHE 93, 298, BStBl II 1968, 780, und vom 3. Februar 1970 VII K 13/68, BFHE 98, 328, BStBl II 1970, 328).

Nach § 138 Abs. 1 FGO ist die Kostenentscheidung unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu treffen. Die Vorschrift räumt dem Gericht einen erheblichen Spielraum ein. Das Gericht kann unter einer Vielzahl von Verhaltensweisen wählen. Für seine Entscheidung muß das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden maßgebend sein. Dabei sind auf den erledigten Rechtsstreit bezogene Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Von Bedeutung kann insbesondere die Frage sein, ob bei vernünftiger Würdigung ein Anlaß bestanden hatte, das Gericht anzurufen (vgl. BFH-Beschluß vom 10. November 1971 I B 14/70, BFHE 104, 39, BStBl II 1972, 222).

Im vorliegenden Falle hatte das HZA der Klägerin vor der Klage vom 27. Dezember 1968 für die Unterlassung einer alsbaldigen Einspruchsentscheidung einen zureichenden Grund im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO durch die Erklärung vom 30. Januar 1968 mitgeteilt, es setze die Entscheidung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den von ihr gegen den Widerrufsbescheid der EVSt erhobenen Einspruch aus (vgl. BFH-Beschluß vom 31. August 1971 VII R 36/70, BFHE 103, 381, BStBl II 1972, 20). Das HZA konnte sich wegen der Eigenschaft des Nachforderungsbescheides als Folgebescheid des Widerrufs der Abschöpfungsfreiheit durch die EVSt nicht anders verhalten. Gleichwohl ist andererseits anzuerkennen, daß die Klägerin einen vernünftigen Anlaß für die Klageerhebung vom 27. Dezember 1968 insofern hatte, als ihr wegen der nicht eindeutigen Fassung des § 46 FGO an der Wahrung der Jahresfrist des § 46 Abs. 2 FGO für den Fall gelegen war, daß der nach Meinung des HZA zureichende Grund wegfiel. Sie konnte befürchten, daß die Unterlassung der Klageerhebung eine gesetzliche Verlängerung der Jahresfrist selbst dann nicht bewirkt, wenn sie auf dem Vorliegen eines zureichenden Grundes für das Ausbleiben der Einspruchsentscheidung beruht. Denn auch für den Fall, daß die Erhebung der Klage wegen solcher besonderen Verhältnisse unterblieben ist, bestimmt § 46 Abs. 2 Satz 2 FGO, daß § 56 Abs. 2 FGO sinngemäß anwendbar sei, eine Vorschrift also in Betracht kommt, die einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand betrifft. Die sinngemäße Anwendung dieser Vorschrift wird selbst von Hübschmann-Hepp-Spitaler (Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. bis 6. Aufl., § 46 FGO, Rdnr. 13) dahin verstanden, daß in den Fällen des § 46 Abs. 2 Satz 1 FGO ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen ist. Die Klägerin konnte daher verständlicherweise befürchten, daß bei einem Wegfall des zureichenden Grundes für das Ausbleiben der Einspruchsentscheidung nach Ablauf der Jahresfrist die Erhebung der Klage erschwert und von einer die Einhaltung weiterer Frist- und Formvorschriften erfordernden Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abhängen werde.

Nach der Erledigung der Hauptsache eines Rechtsstreits, in dem die Klage nach § 46 FGO trotz Mitteilung eines für das Ausbleiben der Einspruchsentscheidung zureichenden Grundes erhoben worden war, kann bei der gemäß § 138 Abs. 1 FGO nach billigem Ermessen zu treffenden Kostenentscheidung schließlich auch berücksichtigt werden, daß § 46 FGO den Bürger vor der Gefahr schützen soll, daß ihm der durch Art. 19 Abs. 4 GG eröffnete Weg zum Gericht durch Verzögerung des in der Hand der Behörde liegenden Vorverfahrens verlegt wird. Angesichts des Art. 19 Abs. 4 GG und des Bemühens der Klägerin, die Jahresfrist des § 46 Abs. 2 FGO zu wahren, erscheint es dem Senat anders als in seinem Beschluß VII R 36/70 im gegenwärtigen Falle billig, die Folgen des Vorliegens eines zureichenden Grundes für das Ausbleiben der Einspruchsentscheidung nur zur Hälfte die Klägerin tragen zu lassen. Dem Antrag der Klägerin, die Zuziehung der Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären, war gemäß § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO zu entsprechen. Denn der Klägerin war nicht zuzumuten, ihre Rechte auf dem schwierigen Gebiet des Marktordnungsrechts, das dem Nachforderungsbescheid zugrunde lag, der Zollverwaltung gegenüber ohne den Beistand rechtskundiger Bevollmächtigter wahrzunehmen.

 

Fundstellen

BStBl II 1973, 262

BFHE 1973, 89

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