Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Aufhebung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1991 wegen Steuern auf Einkommen unterhalb des sozialhilferechtlichen Existenzminimums; Verfassungsmäßigkeit des Kinderlastenausgleichs 1991 für Eltern mit zwei Kindern bei ungekürztem Kindergeld

 

Leitsatz (NV)

1. Ein Einkommensteuerbescheid für eines der Jahre vor 1993 ist (aufgrund der bestehenden Gesetzeslage) auch dann zu Recht ergangen, wenn der Steuerpflichtige trotz eines Einkommens unterhalb des sozialrechtlichen Existenzminimums Steuern zahlen mußte.

2. Der steuerliche Kinderlastenausgleich im Jahre 1991 für Eltern mit zwei Kindern ist verfassungsgemäß, wenn die Eltern Anspruch auf ungekürztes Kindergeld hatten.

 

Normenkette

FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1; EStG i. d. für 1991 geltenden Fassung § 32 Abs. 6; EStG i.d.F. StandOG v. 13. 9. 93 § 32d; BKGG § 10

 

Tatbestand

Die Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) sind Eheleute und haben zwei 1982 und 1984 geborene Kinder. Sie wurden für das Streitjahr (1991) mit Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zur Einkommensteuer veranlagt. Der Besteuerung legte der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt -- FA --) ein zu versteuerndes Einkommen von 12 653 DM zugrunde. Außerdem wurden gemäß § 32 b des Einkommensteuergesetzes (EStG) 5 622 DM Kurzarbeiter- und Schlechtwettergeld in die Besteuerung einbezogen.

Der Einkommensteuerbescheid wurde insbesondere im Hinblick auf den Kinderlastenausgleich und die Anhängigkeit weiterer Verfassungsbeschwerden für teilweise vorläufig erklärt.

Nach erfolglosem Einspruch erhoben die Antragsteller Klage, über die das Finanzgericht (FG) noch nicht entschieden hat. Gleichzeitig mit der Klageerhebung beantragten sie die Aussetzung der Vollziehung. Dabei machten sie im wesentlichen geltend, das FA habe sie mit einem Einkommen zur Steuer herangezogen, das noch unterhalb des Existenzminimums für eine vierköpfige Familie liege. Das sei verfassungswidrig. Sie hätten daher Anspruch darauf, daß ihnen die einbehaltenen Lohnsteuern vorläufig in vollem Umfang zurückerstattet würden. Diese noch einbehaltenen Lohnsteuern bezifferten sie, nachdem sie aufgrund des Einkommensteuerbescheides eine Erstattung erhalten hatten, auf 924 DM Einkommensteuer und 34,65 DM Solidaritätszuschlag.

Das FG gab dem Antrag statt und hob die Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1991 mit der Maßgabe auf, daß den Antragstellern vorläufig 924 DM Einkommensteuer und 34,65 DM Solidaritätszuschlag zu erstatten seien. Zur Begründung führte das FG aus, daß es der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nicht folgen könne, wonach im Wege der Aufhebung der Vollziehung nicht die vorläufige Rückzahlung der durch den Steuerabzug erhobenen Lohnsteuer angeordnet werden kann (Hinweis auf die BFH-Beschlüsse vom 19. August 1969 VI B 51/69, BFHE 96, 465, BStBl II 1969, 685; vom 8. Juli 1982 IV B 6/82, BFHE 136, 190, BStBl II 1982, 660, und vom 26. November 1986 VIII B 114/86, BFHE 148, 129, BStBl II 1987, 179). Es -- das FG -- schließe sich vielmehr der Auffassung des X. Senats des BFH in seinem Vorlagebeschluß an den Großen Senat des BFH vom 23. Juni 1993 X B 134/91 (BFHE 172, 9, BStBl II 1994, 38) an, wonach die Anrechnung von Vorauszahlungen Teil der Vollziehung des Bescheides ist und über das Instrument der Aufhebung der Vollziehung die vorläufige Erstattung dieser Vorauszahlungen angeordnet werden kann. Die Voraussetzungen für die Aufhebung der Vollziehung seien im Streitfall auch gegeben, denn es sei ernstlich zweifelhaft, ob die Antragsteller mit ihrem steuerpflichtigen Einkommen unterhalb des sozialhilferechtlichen Existenzminimums hätten zur Einkommensteuer herangezogen werden dürfen. Aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 25. September 1992 2 BvL 5, 8, 14/91 (BStBl II 1993, 413) erscheine es als ernsthaft möglich, daß der Gesetzgeber Einkommen in der Höhe, wie sie die Antragsteller bezogen haben, von der Einkommensteuer freistelle. Angesichts der Einkommensverhältnisse der Antragsteller stehe auch das öffentliche Interesse einer Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides nicht entgegen.

Gegen den Beschluß des FG richtet sich die vom FG zugelassene Beschwerde des FA. Das FA macht geltend, trotz des Vorlagebeschlusses des X. Senats des BFH in BFHE 172, 9, BStBl II 1994, 38 sei an der bisherigen Rechtsprechung des BFH festzuhalten, daß im Wege der Aufhebung der Vollziehung keine Erstattung von Einkommensteuervorauszahlungsbeträgen, anzurechnenden Körperschaftsteuerbeträgen oder wie im Streitfall einbehaltenen Lohnsteuerabzugsbeträgen erreicht werden könne. Im übrigen seien im Streitfall auch die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Vollziehung nicht erfüllt. Entgegen der Auffassung des FG sei es nahezu ausgeschlossen, daß der Gesetzgeber noch eine rückwirkende Regelung treffe, die für das Streitjahr Einkommen, wie sie die Antragsteller erzielt haben, von der Einkommensteuer freistelle. Außerdem spreche das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung gegen eine Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheides.

Die Antragsteller haben sich zu der Beschwerde nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses des FG und zur Abweisung des Antrags auf Aussetzung (Aufhebung) der Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids.

1. Der Senat kann offenlassen, ob die Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides in der Weise aufgehoben werden kann, daß einbehaltene Lohnsteuer vorläufig zu erstatten ist. Diese Frage liegt gegenwärtig aufgrund des Vorlagebeschlusses des X. Senats des BFH in BFHE 172, 9, BStBl II 1994, 38 dem Großen Senat des BFH vor. Für die vom erkennenden Senat im Streitfall zu treffende Entscheidung kommt es auf diese Frage nicht an. Der Senat braucht daher auch nicht die Entscheidung des Großen Senats abzuwarten. Denn auch im Falle der Bejahung der Frage durch den Großen Senat des BFH können die Antragsteller entgegen der Auffassung des FG mit ihrem Antrag auf vorläufige Erstattung der nach ihrer Auffassung zuviel einbehaltenen Lohnsteuer- und Solidaritätszuschlagsbeträge keinen Erfolg haben. Die Voraussetzungen für die Aussetzung (Aufhebung) der Vollziehung liegen nämlich nicht vor.

2. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) soll die Aussetzung der Vollziehung u. a. erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Im Streitfall bestehen solche ernstlichen Zweifel nicht.

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung in BStBl II 1993, 413 zwar die im Einkommensteuertarif berücksichtigten Grundfreibeträge auch für die Vergangenheit als verfassungswidrig angesehen, weil sie dazu führen, daß auch Steuerpflichtige mit einem Einkommen unterhalb des sozialhilferecht lichen Existenzminimums der Einkommensteuer unterworfen wurden. Es hat die Behebung dieses verfassungsrechtlichen Mangels durch den Gesetzgeber aber erst für die Jahre ab 1993 angeordnet. Für die Veranlagungszeiträume vor 1993 sind die bisherigen Regelungen über die Grundfreibeträge uneingeschränkt weiter anzuwenden.

Im Streitfall führt dies dazu, daß der angegriffene Einkommensteuerbescheid für 1991 auch dann (aufgrund der bestehenden Gesetzeslage) zu Recht ergangen ist, wenn die Antragsteller wegen unzureichender Grundfreibeträge trotz eines Einkommens unterhalb des sozialhilferechtlichen Existenzminimums Einkommensteuer (Lohnsteuer) und Solidaritätszuschlag zahlen mußten. Daran ändert auch die Möglichkeit nichts, daß der Gesetzgeber aufgrund der Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1993, 413 rückwirkend eine Neuregelung treffen könnte. Da der Gesetzgeber hierzu nicht gezwungen ist, würde es sich um eine freiwillige Neuregelung handeln. Eine freiwillige rückwirkende Neuregelung kann aber frühestens im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens und nicht schon vorher zur Rechtswidrigkeit von ihr erfaßter, bereits ergangener Steuerbescheide führen. Im übrigen hat sich der Gesetzgeber in dem Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23. Juni 1993 (BGBl I 1993, 944, BStBl I 1993, 510) auf eine Neuregelung ab 1993, also für die Zukunft, beschränkt (siehe nunmehr § 32 d EStG). Der Senat teilt daher auch die Auffassung des FA, daß es nahezu ausgeschlossen ist, daß der Gesetzgeber noch eine rückwirkende Regelung treffen könnte.

3. An der Rechtmäßigkeit des gegen die Antragsteller für das Streitjahr ergangenen Einkommensteuerbescheides bestehen auch insoweit keine ernstlichen Zweifel, als es um die Höhe der den Antragstellern gewährten Kinderfreibeträge für ihre zwei Kinder geht. Der Senat hat mit Urteil vom 14. Januar 1994 III R 194/90 (BFHE 173, 528, BStBl II 1994, 429) entschieden, daß Eltern mit zwei Kindern im Jahre 1986 durch die steuerlichen Kinderfreibeträge und das Kindergeld in gerade noch ausreichendem, verfassungsrechtlich noch nicht zu beanstandendem Umfang entlastet worden sind. Es bestehen zwar Bedenken, ob dies auch noch für das Streitjahr (1991) gilt, weil die Erhöhung der Kinderfreibeträge um jeweils 540 DM gegenüber 1986 möglicherweise erheblich hinter der Steigerung des sozialhilferechtlichen Existenzminimums in diesem Zeitraum zurückbleibt (vgl. Herden, Deutsche Steuer-Zeitung 1994, 385). Diese Bedenken beziehen sich aber auf Fälle, in denen Steuerpflichtigen nur das auf die sog. Sockelbeträge des § 10 Abs. 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) gekürzte Kindergeld gewährt wird.

Die Antragsteller hatten dagegen bei ihrem Einkommen für das Streitjahr Anspruch auf ungekürztes Kindergeld nach § 10 Abs. 1 BKGG. Für das zweite Kind erhielten sie somit ein im Streitjahr insgesamt um 720 DM höheres Kindergeld als Steuerpflichtige mit voll gekürztem Kindergeld. Bei einer Umrechnung dieses Betrages mit 40 v. h. in eine steuerliche Entlastung (vgl. Beschlüsse des erkennenden Senats vom 16. Juli 1993 III R 206/90, BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755, und in BFHE 173, 528, BStBl II 1994, 429) entspricht dies einem zusätzlichen Kinderfreibetrag von 1 800 DM. Bei einer Umrechnung mit dem erheblich unter 40 v. H. liegenden Grenzsteuersatz der Antragsteller wäre der sich aus der Umrechnung ergebende Betrag sogar noch wesentlich höher. Die daraus folgenden (rechnerischen) steuerlichen Kinderfreibeträge von insgesamt mindestens 11 448 DM (zweimal 3 024 DM tatsächliche Kinderfreibeträge + 3 600 DM umgerechnetes voll gekürztes Kindergeld + 1 800 DM) werden nach der im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung den verfassungsrechtlichen Anforderungen der steuerlichen Berücksichtigung des sozialhilferechtlichen Existenzminimums der Kinder der Antragsteller gerecht. Folgt man nämlich bei dieser summarischen Prüfung den Ermittlungen des Karl- Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler (in: Steuern in Deutschland, Heft 72 der Schriftenreihe des Instituts, 1991, S. 178), so sind für 1990 Leistungen der Sozialhilfe durch Abdeckung des sozialhilferechtlichen Existenzminimums für zwei Kinder von 10 808 DM (= 2x5 404 DM) anzusetzen. Selbst wenn man davon ausgeht, daß die Sozialhilfeleistungen für das Streitjahr (1991) höher waren, weichen die den Antragstellern gewährten (rechnerischen) Kinderfreibeträge in Höhe von 11 448 DM jedenfalls nicht in einer Höhe von den Sozialhilfeleistungen ab, die verfassungsrechtlich erheblich wäre.

 

Fundstellen

BFH/NV 1995, 201

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