Schuld und Strafe: Ungerechtes Strafrecht

Ronen Steinke hat mit seinem neuen Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ eine auch für den Laien sprachlich leicht zugängliche rechtspolitische Kritik vorgelegt. Anhand ausgewählter Problemfelder beleuchtet er strukturelle Ungerechtigkeiten im deutschen Strafrecht, die die sozialromantische Erzählung der Gleichheit vor der das Schwert führenden Justitia in Frage stellen. Seine Appelle sollten der Rechtspolitik zu denken geben.

Die Klage, dass man die Kleinen hänge und die Großen laufen lasse, ist vermutlich so alt wie das Strafrecht selbst. Steinke hätte es sich leicht machen und die Abschaffung vermeintlicher Privilegien „der“ Großen, Reichen und Mächtigen fordern können. Das wäre aber nur richtig, wenn die strukturellen Probleme, die Steinke identifiziert, auf eine Korruption des Straf- und Strafprozessrechts durch illegitime Interessen und Praktiken der Privilegierten hindeuten würden. 

Diese These raunt sich der ein oder andere zu; unter professionell beteiligten Akteuren findet sie kaum Anhänger. Das Problem ist nicht die Korruption des Strafrechts durch diejenigen, die es sich leisten können, die mit teuren Anwälten vermeintliche Lücken ausnutzen und sich mit schwindelerregenden Auflagen einfach freikaufen. Das Problem liegt in erster Linie darin, dass einem Großteil der Beschuldigten die persönlichen, sozialen und finanziellen Ressourcen fehlen, die sie bräuchten, um gegenüber einer für ihre Belange blinden Justitia ihre Rechte effektiv wahrnehmen zu können. Rechte, insbesondere prozeduraler Natur, die niemand kennt oder deren Wahrnehmung im kafkaesken Alltag der Amtsgerichte in Vergessenheit gerät, sind fast so wertlos als gäbe es sie gar nicht.

Es ist eine Stärke des Buches, dass der Autor nicht in ein Privilegierten-Bashing verfällt, sondern die rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit einfordert, dass der Ausgang eines Strafverfahrens weder vom Schulabschluss noch vom Geldbeutel des Beschuldigten abhängen sollte. Es braucht mehr Gegengewichte zum strafenden Staat, nicht weniger.   

Enttäuschtes Versprechen der gleichen Freiheit

Der freiheitliche Staat lebt zwar, wie der Rechtsphilosoph Böckenförde in dem nach ihm benannten Dilemma beschrieben hat, von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann; dies sei das Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen sei. Wenn die Religion den Gemeinsinn einer Gesellschaft nicht mehr stiften kann und das moderne Individuum dem Staat in seiner nackten Freiheit gegenübersteht, hängt für die Frage der Gleichheit im Strafrecht aber alles davon ab, ob die theoretische Annahme überzeugend ist, dass der Einzelne dem strafenden Staat als souveräner Verteidiger seiner Rechte gegenübertreten kann.

Ein wahrhaft liberales Strafrecht rückt, wie Steinke deutlich macht, die tatsächlichen Voraussetzungen der gleichen Freiheit in den Vordergrund. Wer Armut, soziale Verwahrlosung und individuelle Unzulänglichkeiten von Vornherein als determinierende Faktoren im Strafrecht ignoriert, sie der leider zum Mauerblümchen verkommenen Kriminologie überlässt und sich hinter einer praktisch völlig unzulänglichen, weil unterfinanzierten Pflichtverteidigung versteckt, lässt den Staat zu einer Bedrohung für die Unterprivilegierten werden. Deren Vertrauen in das Versprechen einer gleichen Freiheit muss dann immer aufs Neue enttäuscht werden.

Demenz-Stationen im Strafvollzug

Empörend sind etwa die Beispiele, die Steinke in einer Berliner Haftanstalt beschreibt, in der auch demente Senioren einsitzen. Sie sind in Strafbefehlsverfahren abgeurteilt worden. Die Geldstrafen blieben unbeglichen. Die deutsche Justiz vollstreckt dann Ersatzfreiheitsstrafen an Menschen, die sich hochwahrscheinlich mangels Schuldfähigkeit weder strafbar gemacht noch auch nur eine angemessene Chance gehabt haben, sich zu verteidigen.

Solche Zustände können niemanden kalt lassen, der sich mit der Strafjustiz beschäftigt. Man fragt sich, wer alles seine Augen verschlossen und sich hinter der formalen gleichen Freiheit aller Bürger versteckt haben muss, damit es in einer deutschen Justizvollzugsanstalt nach menschlichen Exkrementen Dementer riechen kann. Es wird in Zukunft keinem Rechtspolitiker und keinem Praktiker in der Strafjustiz mehr zugutegehalten werden können, er habe von diesem Problem nichts gewusst.

Fernab der Wirklichkeit…

Steinke greift mit seinen sehr konkreten Beispielen und rechtspolitischen Forderungen implizit den Diskurs der politischen Philosophie auf, der in Reaktion auf klassische kontraktualistische Modelle der Legitimation staatlicher Macht die empirischen Voraussetzungen der Ausübung individueller Freiheit betont. Auch das Strafprozessrecht ist ein voraussetzungsreiches normatives System, das an zentralen Stellen auf das durchsetzungsstarke und rationale Individuum mit einer gewissermaßen angeborenen Beschwerdemacht zugeschnitten ist.

Das ist nicht von Vornherein falsch. Das Leitbild der selbstbestimmten Person im Strafprozess ist eine wichtige Positionierung gegen einen übergriffigen Paternalismus. Und es wäre billige Polemik, pauschal den Organen der Strafrechtspflege ihren Willen zur Fairness und Gleichbehandlung gegenüber denjenigen abzusprechen, die ihnen in jeder Form unterlegen sind.

Aber der Blick für die empirische Wirklichkeit ist nichts, was Juristen in die Wiege gelegt wäre. Ihre Ausbildung kommt häufig ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit aus. Normative Nuancen lassen sich bestens anhand von fiktiven Lehrbuchfällen erlernen. Selten geht es dabei um die Lebenswirklichkeit von Menschen, die besonders häufig mit der Strafjustiz in Kontakt geraten. Angesprochen ist damit nicht zuletzt auch ein Auftrag für die juristische Bildung an den Universitäten. Wem verborgen bleibt, was unterprivilegierte soziale Verhältnisse für die Fähigkeit bedeuten, von individuellen Rechten gegenüber der staatlichen Gewalt Gebrauch zu machen, der wird in der juristischen Praxis schnell den Blick für das Angemessene verlieren.


Ronen Steinke. Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. 2022. EUR 20,-