Schuld und Strafe: Schwaches Schweigerecht: Sprich mit uns!

Die Verteidigung eines wegen Vergewaltigung angeklagten Rechtsanwaltes hat zum Beweis der Einvernehmlichkeit der angeklagten sexuellen Handlungen Einholung eines forensisch-physiopsychologischen Gutachtens beantragt. Es soll also auf Grundlage eines Lügendetektor-Tests ein Sachverständigengutachten über die Glaubhaftigkeit der Aussage des Angeklagten erstellt werden. Dass sich Verteidiger zu solchen Anträgen gedrängt sehen, ist Ausdruck eines oft bedenklichen Umgangs mit den Aussagen Angeklagter.

In welcher Lage muss sich ein Angeklagter befinden, der sich mit der Frage beschäftigt, ob er in die Durchführung eines Lügendetektor-Tests einwilligt? In welchem Moment hat er den Glauben an den Zweifelssatz verloren, der doch vielleicht das wichtigste Versprechen des modernen Strafprozessrechts ist?

Wieso willigt der Unschuldige in eine Testung ein, obwohl er doch glauben müsste, dass der Irrtum des Richters auch ohne Test ausgeschlossen ist, wenn er die Beweismittel objektiv und unter Beachtung von in dubio pro reo zur Kenntnis nimmt? Schließlich geht er das Risiko ein, dass der Test fehlerhaft zu einem ihm ungünstigen Ergebnis führt.

Kein Freispruch ohne Aussage?

Eine neuere empirische Untersuchung der Rechtswissenschaftler Jörg Kinzig und Wolfgang Stelly von der Universität Tübingen hat gezeigt, dass in fast 90 % aller untersuchten Fälle, die (trotz vorhergehender Untersuchungshaft) mit einem Freispruch des Angeklagten endeten, der Angeklagte ausgesagt hatte.

Freispruch trotz Schweigens scheint also ein Ausnahmephänomen zu sein.

Es wäre interessant, sich mit der Frage zu beschäftigen, warum schweigende Angeklagte so viel schlechter davonkommen.

Unter Zugrundelegung der strafprozessualen Vorgaben, wonach aus dem vollständigen Schweigen des Angeklagten nichts für ihn Nachteiliges geschlossen werden darf, wäre wohl eine deutlich andere Verteilung von schweigenden und sich erklärenden Angeklagten bei freisprechenden Urteilen zu erwarten gewesen. Denn in den seltensten Fällen erklärt der Angeklagte Tatsachen, die für das Gericht völlig unbekannt oder unvorstellbar gewesen sind. In der Regel deckt sich seine Aussage im Wesentlichen mit dem, was das Gericht so oder in ähnlicher Form erwarten konnte.

Wäre anwaltlicher Rat zur Aussage häufiger angemessen?

Aus den empirisch belegten Zahlen muss aus Verteidigersicht folgen, dass der Rat zur Aussage deutlich häufiger erteilt werden muss als dies viele Verteidiger praktizieren. Das gleichzeitige Berufen auf das Schweigerecht und den Zweifelssatz bleibt häufig vergeblich.

  • Gerichte sprechen lieber Angeklagte frei, die zu ihnen sprechen. Das mag kommunikationstheoretisch nachvollziehbar sein.
  • Auf einen Vorwurf zu schweigen, stellt eine besondere Form der Aggression dar, die auch die strenge Form des Strafprozesses offenbar nicht ohne Weiteres aufzufangen vermag.
  • Für die Wahl der Verteidigungsstrategie ist diese Einsicht jedoch verheerend.

Sie zwingt – faktisch – dazu, den Angeklagten sich zum Beweismittel gegen sich selbst zu machen, wenn ein Freispruch das Verteidigungsziel ist. Dies ist nicht nur für denjenigen Angeklagten ein ernsthaftes Problem, der als Schuldiger einen Freispruch begehrt. Es ist in ungleich schmerzlicherer Weise ein Problem für den Unschuldigen, der sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht erklären kann (ohne in den Verdacht zu geraten, die Unwahrheit zu sagen) oder der nicht aussagen möchte (z.B. weil er damit intime Details gegenüber seinem sozialen Umfeld offenbaren müsste).

Faktischer Zwang zur Aussage

In diesem Kontext stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit des Lügendetektor-Tests in einem ambivalenten Licht. Denn der faktische Zwang zur Aussage ist bereits heute klar erkennbar.

Es scheint Gerichten häufig nicht zu gelingen, dem Anspruch des Rechts zu genügen, das Schweigen nicht gegen den Angeklagten zu wenden.

Die Alltagspsychologie, wonach derjenige, der nichts zu verbergen hat, wohl kaum schweigen werde, ist mächtiger als der grundrechtlich fundierte Anspruch des Angeklagten.

Freispruch trotz verweigerter Testung?

Wenn nun mit tatsächlich oder vermeintlich zunehmender Genauigkeit des Lügendetektor-Tests und anderer technischer Verfahren zur Überprüfung des Wahrheitsgehalts von Aussagen (man denke an neuere Forschungen mit Hilfe der Magnet-Resonanz-Tomographie) neue Mittel entstehen, die eine Überprüfung von Aussagen des Angeklagten zulassen, wird dies zu einer veränderten Erwartungshaltung der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte führen.

Wenn schon der Erwartungsdruck zu einer „normalen“ Aussage so hoch ist, dass ein Freispruch ohne Aussage höchst unwahrscheinlich wird, was folgt dann aus der Zulassung von viel genaueren Beweismitteln? Man muss kein Hellseher sein, um das innere Widerstreben in der Justiz zu antizipieren, dass in Zukunft mit einem Freispruch trotz verweigerter Testung verbunden wäre.

Bedeutung des Zweifels

Freilich kümmern diese systemischen Erwägungen den Angeklagten, der sich nur noch mit Hilfe eines solchen Verfahrens entlasten zu können glaubt, wenig. Wie kann man dem einzelnen die Möglichkeit verwehren, sich jedenfalls indiziell zu entlasten, wenn dies technisch möglich ist?

Wohl nur unter gleichzeitiger Rückbesinnung auf die große Bedeutung des Zweifels – auch und zuerst für den Angeklagten. Soweit es gelingen würde, den Lügendetektor-Test nur als zusätzliche Möglichkeit der Entlastung für den Angeklagten zu verstehen, wären Zweifelssatz und Selbstbelastungsfreiheit nicht in Gefahr. Dass dies gelingen kann, ist nicht ausgeschlossen, wahrscheinlich scheint es mir nicht zu sein.

Schlagworte zum Thema:  Strafverteidiger, Strafrecht, Strafprozessordnung