Wichtige Grundsätze des BGH zum Zeugnisverweigerungsrecht

Beruft sich ein Zeuge vor Gericht auf sein Zeugnisverweigerungsrecht, so kann er das Zeugnisverweigerungsrecht auch rückwirkend für frühere Aussagen ausüben, es aber nicht selektiv auf einzelne Vernehmungen beschränken.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich in der Vergangenheit mehrfach mit der Reichweite und den Grenzen des Zeugnisverweigerungsrechts befasst. Bisher nicht entschieden hatte er die Frage, ob ein Zeuge sein Zeugnisverweigerungsrecht für die Vergangenheit auf einzelne Vernehmungen beschränken kann. Dies hat der BGH nun in einer Grundsatzentscheidung verneint und nochmals wichtige Grundsätze zum Zeugnisverweigerungsrecht zusammengefasst.

Berufung auf das Zeugnisverweigerungsrecht erst kurz vor der Hauptverhandlung

Der aktuellen Entscheidung des BGH lag die Revision eines von der Jugendkammer des LG u. a. wegen mehrfacher Vergewaltigung und mehrfacher gefährlicher Körperverletzung verurteilten Angeklagten zugrunde. Nebenklägerin des Strafverfahrens war die Schwester des Angeklagten. Diese hatte kurz vor der Hauptverhandlung erklärt, künftig von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, nachdem sie zuvor bei der Polizei, im Rahmen der Erstellung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens und vor dem Ermittlungsrichter ausgesagt hatte.

Verurteilung unter teilweiser Berücksichtigung früherer Aussagen

Die Nebenklägerin erstreckte ihre Aussageverweigerung auch auf die in der Vergangenheit getätigten Aussagen, nahm hiervon aber ausdrücklich ihre Angaben gegenüber der aussagepsychologischen Sachverständigen aus. Das Landgericht (LG) berücksichtigte in seinem Urteil nur die früheren Aussagen der Nebenklägerin bei der Polizei nicht, legte der Verurteilung aber die Angaben der Nebenklägerin gegenüber der psychologischen Gutachterin und gegenüber dem Ermittlungsrichter zugrunde.

BGH-Grundsätze zum Zeugnisverweigerungsrecht

Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH entschieden, dass die Kammer die Angaben der Nebenklägerin bei der aussagepsychologischen Sachverständigen nicht hätte verwerten dürfen. In seinem Urteil präzisierte der Senat unter Heranziehung der bisherigen BGH-Rechtsprechung einige Grundsätze zur Reichweite des Zeugnisverweigerungsrechts. Danach gilt:

  • Das Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 Abs. 1 StPO dient dem Schutz des Zeugen, der durch seine Aussage nicht zur Belastung eines Angehörigen beitragen muss (BGH, Urteil v. 23.9.1999, 4 StR 189/99).
  • Bis zur Hauptverhandlung kann der Zeuge frei entscheiden, ob er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht oder nicht (BGH, Urteil v. 11.4.1973, 2 StR 42/73).
  • Beruft der Zeuge sich umfassend auf sein Zeugnisverweigerungsrecht, so besteht für sämtliche früheren Aussagen ein Beweisverwertungsverbot (BGH, Urteil v. 15.1.1952, 1 StR 341/51).
  • Verwertbar bleiben allerdings immer Aussagen im Rahmen einer richterlichen Vernehmung nach Belehrung des Zeugen über sein Zeugnisverweigerungsrecht (BGH, Beschluss v. 15.7.2016, GSSt 1/16).
  • Darüber hinaus kann der von seinem Aussageverweigerungsrecht in der Hauptverhandlung Gebrauch machende Zeuge darüber bestimmen, ob er in seine Aussageverweigerung auch frühere Vernehmungen einbezieht oder nicht (BGH, Urteil v. 3.11.2000, 2 StR 254/00).

Frage der selektiven Zeugnisverweigerung auf einzelne Vernehmungen

In der aktuellen Entscheidung des BGH stand nun die Frage im Mittelpunkt, ob das rückwirkend geltend gemachte Aussageverweigerungsrecht des Zeugen auf einzelne Vernehmungen beschränkt werden kann. Bei der Beantwortung dieser Frage stellte der Senat entscheidend auf den Schutzzweck des Zeugnisverweigerungsrechts ab, der grundsätzlich eine weitgehende Disponibilität des Zeugnisverweigerungsrechts für den Zeugen gestatte.

Kein Recht zur Auswahl der verwertbaren Aussagen

Nach der aktuellen Entscheidung des BGH haben Zeugen kein schützenswertes Interesse daran, auch den Umfang der Verwertbarkeit der von ihnen bereits gemachten Angaben zu bestimmen. Insoweit sei dem Interesse des Angeklagten und der Allgemeinheit an der Erforschung der Wahrheit Rechnung zu tragen. Das Wahrheitsinteresse mache es erforderlich, die Einflussmöglichkeiten des zur Zeugnisverweigerung berechtigten Zeugen auf das Strafverfahren zu begrenzen, da sonst die Gefahr bestehe, dass der Zeuge durch eine selektive Auswahl seiner verwertbaren Aussagen einseitig Einfluss auf die Erforschung der Wahrheit nehmen kann.

Fehlerhafte Beweisverwertung der Vorinstanz

Mit diesen Erwägungen kam der BGH im konkreten Fall zu dem Ergebnis, dass das LG sein Urteil nicht auf die Angaben der Nebenklägerin vor der aussagepsychologischen Sachverständigen stützen durfte. Die Berufung der Zeugin auf ihr Aussageverweigerungsrecht habe sämtliche vorausgegangenen Vernehmungen erfasst, selektive Ausnahmen seien unzulässig. Das Gericht hätte von den bisherigen Aussagen der Nebenklägerin lediglich die Angaben der Zeugin, die diese nach Belehrung über ihr Aussageverweigerungsrecht vor dem Ermittlungsrichter gemacht hatte, heranziehen dürfen, da richterliche Vernehmungen nach Belehrung nachträglich nicht mehr vom Aussageverweigerungsrecht erfasst würden.

Verfahren an andere Jugendkammer zurückverwiesen

Nach Auffassung des Senats beruhte das erstinstanzliche Urteil damit auf einem Verfahrensfehler, da nicht auszuschließen sei, dass das LG ohne Verwertung der Angaben der Zeugin bei der aussagepsychologischen Sachverständigen zu einem anderen Beweisergebnis gelangt wäre. Der BGH hat daher die Verurteilung des Angeklagten aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des LG zurückverwiesen.

(BGH, Beschluss v. 18.10.2023, 1 StR 222/23)

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