Gesetzgeber muss behinderte Menschen vor einer Triage-Benachteiligung schützen
Das BVerfG hat den Verfassungsbeschwerden mehrerer schwerbehinderter Menschen wegen fehlender Vorgaben des Gesetzgebers zu den Grundlagen pandemiebedingt erforderlicher Triage-Entscheidungen stattgegeben.
Mehrere Verfassungsbeschwerden schwerbehinderter Menschen wegen Triage-Gesetzeslücke
Mehrere schwer und teilweise schwerstbehinderte, überwiegend auf Assistenz angewiesene Beschwerdeführer haben Verfassungsbeschwerde wegen des nach ihrer Auffassung fehlenden Schutzes vor Benachteiligung in einer Triage-Situation erhoben.
Beschwerdeführer befürchten Benachteiligung Behinderter in Triage-Situation
Die Beschwerdeführer fürchten, dass ihnen bei einer pandemiebedingt eintretenden intensivmedizinischen Ressourcenverknappung infolge ihrer Behinderung gesundheitliche Nachteile drohen. Ihre Befürchtung leiten die Beschwerdeführer daraus ab, dass im Falle einer in einem Krankenhaus eintretenden Knappheit intensivmedizinischer Versorgungskapazitäten, die Ärzte bzw. ein eingesetztes Triage-Team ohne gesetzliche Vorgaben darüber zu entscheiden hätten, welcher Patient intensivmedizinisch behandelt wird und welcher nicht.
DIVI-Empfehlungen sind Grundlage für Triage-Entscheidungen
Nach der derzeitigen Praxis entscheiden die Mediziner in diesen Fällen in der Regel auf der Grundlage der fachlichen Empfehlungen der „Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)“ darüber, welche Patienten konkret intensivmedizinisch behandelt werden und welche nicht.
- Zwar sehen diese Richtlinien vor, dass Menschen mit Vorerkrankungen und Behinderungen bei diesen Entscheidungen nicht benachteiligt werden dürfen,
- andererseits ist jedoch die Überlebenschance ein wesentliches Kriterium für eine positive Entscheidung im Einzelfall.
Im Ergebnis - so die Befürchtung der Beschwerdeführer - würden hiernach aufgrund vermeintlich höherer Überlebenschancen Nichtbehinderte eher intensivmedizinisch behandelt und behinderte Menschen bei einer Entscheidung nach diesen Kriterien häufig das Nachsehen haben.
Behinderte genießen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz
Das BVerfG hat den Verfassungsbeschwerden stattgegeben und dabei maßgeblich auf Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG abgestellt. Nach dieser Vorschrift darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Hieraus ergibt sich nach Auslegung des Senats ein klarer Auftrag an den Gesetzgeber, Menschen wirksam vor einer Benachteiligung wegen einer Behinderung zu schützen. Der Senat stellte dabei heraus, dass dieser besondere verfassungsrechtliche Schutz behinderter Menschen nicht schon bei geringfügigen Beeinträchtigungen, sondern nur bei längerfristigen Einschränkungen von Gewicht eingreift. Die Verfassungsbeschwerde eines der ursprünglichen Beschwerdeführer scheiterte an einer fehlenden konkreten Darlegung der Schwere seiner Behinderung und wurde vom Senat als unzulässig zurückgewiesen.
Mehrdimensionaler Grundrechtsschutz: Abwehr und Förderung
Nach Auslegung des Senats hat das Grundrecht des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mehrere Schutzdimensionen. Die Vorschrift enthält:
- ein Abwehrrecht gegen staatliche Benachteiligung,
- das Gebot, die infolge der Behinderung erlittene Benachteiligung durch Fördermaßnahmen auszugleichen,
- eine objektive Wertentscheidung des Staates zum Schutz der Behinderten, die in allen Rechtsgebieten im Rahmen der Gesetzgebung und des Verwaltungshandelns zu beachten ist.
Handlungspflicht des Gesetzgebers nur bei Gefährdungssituationen
Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG enthält nach Auslegung des Senats allerdings keine konkrete Handlungspflicht des Gesetzgebers. Lediglich in bestimmten Konstellationen könne sich der allgemeine Schutzauftrag zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten. Solche Konstellationen sind nach der Wertung des BVerfG
- die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung Behinderter,
- Situationen struktureller Ungleichheit sowie
- Situationen besonderer Gefahren für hochrangige, grundrechtlich geschützte Rechtsgüter Behinderter, wie dem Recht auf Schutz des Lebens gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
Triage-Situation erfordert gesetzgeberisches Handeln
Diese Verdichtung zu einer Handlungspflicht sieht der Senat in einer Triage-Situation, in der über Leben und Tod entschieden wird, als grundsätzlich gegeben an. Hier habe der Staat die Pflicht, wirksame Vorkehrungen zu treffen, die eine gleichberechtigte Berücksichtigung behinderter Menschen gewährleisten.
DIVI-Empfehlungen reichen nicht aus
Besonders in der konkreten Pandemiesituation liegen nach Auffassung des Senats Anhaltspunkte dafür vor, dass für die Beschwerdeführer ein reales Risiko der Benachteiligung bei der Verteilung intensivmedizinischer Ressourcen besteht, die auch unter Berücksichtigung der Empfehlungen der DIVI, die bei einer Triage-Entscheidung die Überlebenschance in den Vordergrund stellen. Hierbei sei es nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung pauschal als Komorbität (Begleiterkrankung) gewertet wird, die die Überlebenswahrscheinlichkeit vermindert. Im übrigen komme diesen Empfehlungen kein rechtlich verpflichtender Charakter zu.
Gesetzeslücke verletzt das Benachteiligungsverbot
Vor diesem Hintergrund bewertete das BVerfG die für diese Situation fehlende gesetzliche Regelung als Verletzung des Schutzgebots aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Der fehlende Schutz wiege umso schwerer, als auch nach Art. 25 der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) jede Diskriminierung von Behinderten im Gesundheitswesen zu vermeiden sei.
BVerfG betont Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
Das BVerfG sieht den Gesetzgeber hier zu einem unverzüglichen Handeln verpflichtet, weist aber gleichzeitig auf den erheblichen Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers hin. Der Gesetzgeber habe mehrere Möglichkeiten, einer möglichen Benachteiligung Behinderter bei der Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen wirkungsvoll zu begegnen. Hierbei habe er insbesondere zu berücksichtigen:
- die zur Verfügung stehenden begrenzten personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitswesens,
- seine Schutzpflichten für das Leben aller Patienten,
- die praktischen Gegebenheiten der klinischen Praxis,
- die häufig gebotene Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen sowie
- die Letztverantwortung des ärztlichen Personals für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im konkreten Einzelfall.
Gesetzgeber kann grundsätzliche Kriterien für eine Triage festlegen
Das BVerfG hatte lediglich über die Frage der Benachteiligung Behinderter im Rahmen einer Triage zu entscheiden. Inwieweit der Gesetzgeber darüber hinaus gehalten ist, Entscheidungskriterien rechtlich verpflichtend vorzugeben, hat das BVerfG grundsätzlich offengelassen und betont auch hier den Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber darf nach den Vorgaben des Senats aber grundsätzlich auch allgemeine Kriterien entwickeln, nach denen im Fall einer Triage zu entscheiden ist. Der Gesetzgeber könne auch Vorgaben zum Verfahren machen (z.B. Mehraugenprinzip), Vorgaben zur erforderlichen Dokumentation oder zur besonderen Ausbildung von intensivmedizinischen Personal im Hinblick auf Triage-Entscheidungen.
Die Ampelkoalition muss umgehend tätig werden
Nach der Entscheidung des BVerfG ist die erst seit kurzem im Amt befindliche Ampel-Regierung nun zu einer umgehenden Gesetzesinitiative für ein Triage-Gesetz aufgefordert, das den verfassungsrechtlich gebotenen besonderen Schutz behinderter Menschen gewährleistet.
(BVerfG, Beschluss v. 16.12.2021, 1 BvR 1541/20).
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