Verfassungskonforme Auslegung der Coronavirus-Impfverordnung per Analogieschluss
Die seit dem 8. Februar 2021 gültigen Änderungen der der Coronavirus-Impfverordnung (CoronaImpfV) haben diesen Kampf beträchtlich erschwert.
Ermessensentscheidung für medizinische Notfällen in der 1. Gruppe gestrichen
Während der alte Verordnungstext in § 1 Abs. 2 S. 1 CoronaImpfV noch eine Ermessensentscheidung ermöglichte, so dass etwa Verwaltungsgerichte in Dresden oder Frankfurt bei medizinischen Notfällen eine Höchstpriorisierung bejahten, wurde das eingeräumte Ermessen in der neuen Fassung gestrichen. Härtefallregelungen gibt es lediglich für die zweite und dritte Prioritätengruppe, erstaunlicherweise jedoch nicht in § 2 CoronaImpfV, welcher die höchste Priorität definiert.
VG Potsdam stuft fehlende Härtefallregelung in der höchsten Priorisierungsstufe als verfassungswidrig ein
Das Verwaltungsgericht Potsdam hat in seinem Beschluss v. 17. Februar 2021 ( L 103/21) gleichwohl einen Anspruch auf Schutzimpfung mit höchster Priorität für eine 71-jährige Krebspatientin bejaht. Die fehlende Härtefallregelung stufte das Verwaltungsgericht Potsdam als verfassungswidrig ein und monierte, dass ausgerechnet eine Person aus der denkbar vulnerabelsten Gruppe ("sehr hohes Todesfallrisiko nach einer Infektion mit dem Coronavirus") nach dem Wortlaut der Verordnung die bestmögliche Priorisierung vorenthalten würde.
Den Anspruch auf höchstpriorisierte Schutzimpfung hat das Verwaltungsgericht direkt aus § 20 i Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 lit. a) SGB V i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hergeleitet. Dieser Lösung ist im Ergebnis zu zustimmen. Gleichwohl wäre es auch möglich, den Anspruch im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung der Verordnung zu begründen (ihre fehlende parlamentarische Legitimation einmal außer Acht lassend).
Analogie wegen planwidriger Regelungslücke durch fehlende Härtefallregelung in Gruppe 1
Hier ist insbesondere an einen Analogieschluss zu denken. Der zulässige Analogieschluss setzt nach anerkannten Grundsätzen der Methodenlehre das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke sowie die Vergleichbarkeit des zu beurteilenden Sachverhalts mit dem vom Gesetzgeber geregelten Sachverhalt voraus.
Im Unterschied zu den neu gefassten §§ 3 und 4 CoronaImpfV fehlt es im neuen § 2 CoronaImpfV an einer ausdrücklichen Härtefallklausel. Im neuen § 1 Abs. 2. S. 1 CoronaImpfV wurde zudem der Begriff „sollen“ und das damit verbundene (intendierte) Ermessen gestrichen bzw. durch den Begriff „haben“ ersetzt. Somit erfasst der Wortlaut Schwerstkranke, die aufgrund des extrem hohen Risikos eines schweren Krankheitsverlaufes umgehend geimpft werden sollten, nicht explizit, obwohl er sich billigerweise auch auf sie erstrecken müsste. Ohne eine Bestimmung nach der Schwerstkranke aus medizinischer Notwendigkeit heraus mit höchster Priorität einen potentiell lebensrettenden Anspruch auf Schutzimpfung haben, liegt eine Regelungslücke vor.
Diese Regelungslücke müsste auch planwidrig sein. Hier ist zunächst zu fragen, aus wessen Perspektive die Planwidrigkeit zu bejahen sein muss – aus der des Gesetzgebers oder aus der des Verordnungsgebers? Es kann nur die Perspektive des Gesetzgebers maßgeblich sein, denn nach der Normenhierarchie muss sich die Verordnung im Rahmen der Vorgaben der Ermächtigungsgrundlage halten (Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2020, § 13 Rn. 14).
Ermächtigungsgrundlage § 20i SGB V stellt Alter und Krankheit gleich
Wenn man denn in § 20i Abs. 3 Nr. 1 lit. a) SGB V eine taugliche Ermächtigungsgrundlage für die Priorisierung per Verordnung sieht, dann wird aus dessen Formulierung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 deutlich, dass ein Gleichlauf der Parameter „Alter“ und „Krankheit“ gewollt ist. Wörtlich heißt es, dass für Versicherte ein Anspruch besteht auf „Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 insbesondere dann, wenn sie aufgrund ihres Alters oder Gesundheitszustandes ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben“. Durch die abstufungsfreie Benennung von Alter und Gesundheitszustand als Indikatoren für ein erhöhtes Risiko wird deutlich, dass beide Faktoren in der Impfpriorisierung gleichermaßen simultan Berücksichtigung finden sollen.
Es kommt also nicht darauf an, ob eine Person ein bestimmtes Alter oder einen bestimmten Gesundheitszustand hat, sondern darauf, ob deswegen ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf besteht. Dieses Verständnis entspricht zudem den Maßgaben der Ständigen Impfkommission (STIKO), auf die § 20i Abs. 3 SGB V explizit verweist und auf Basis derer Empfehlungen die Verordnung laut § 13 CoronaImpfV fortlaufend evaluiert werden soll.
STIKO empfiehlt vorrangige Impfung bei erhöhtem Risiko unabhängig von ihrem Alter
In dem gemeinsamen Positionspapier von Deutschem Ethikrat (DER), STIKO und Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina (LEOPOLDINA) vom 9.11.2021 heißt es etwa auf S. 3, dass in die vorrangig zu priorisierende Personengruppe Personen gehören,
„die aufgrund ihres Alters oder vorbelasteten Gesundheitszustandes ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben“.
Die Personengruppe wurde folglich von der STIKO ohne eine Abstufung danach anerkannt, ob die Ursache des Risikos im Alter oder im Gesundheitszustand zu verorten ist. Diese Prämisse findet sich jedoch nicht im § 2 des Verordnungstextes wieder. Auch in der aktuellen STIKO Empfehlung vom 29.01.2021 wird gefordert, Härtefälle, deren Situation in der Verordnung nicht akzeptabel berücksichtigt ist, ebenfalls mit höchster Priorität impfen zu lassen. Menschen mit einer kurz bevorstehenden Chemotherapie werden dabei besonders hervorgehoben.
Das Fehlen einer Härtefallregelung zur Schutzimpfung mit höchster Priorität in § 2 CoronaImpfV für Personen mit exorbitantem Risiko aufgrund eines angegriffenen Gesundheitszustandes widerspricht damit den legislativen Vorgaben des § 20i Abs. 3 Nr.1 lit. a ) SGB V unter Bezugnahme der STIKO Empfehlungen und ist folglich als planwidrige Regelungslücke zu klassifizieren. Selbst wenn man hinsichtlich der Planwidrigkeit der Regelungslücke auf die Perspektive des Verordnungsgebers abstellen würde, läge dieselbe Annahme nahe.
Personen mit „sehr hohem Risiko“ systemwidrig in die Gruppe mit „hohem Risiko“ eingeordnet
Nach der Systematik der CoronaImpfV, die auch der tatsächlichen Verwaltungspraxis zugrunde liegt, hätten eigentlich atypische Fälle mit einem sehr hohen Risiko eines schweren oder tödlichen Verlaufs in der höchsten Gruppe aufgenommen werden müssen. Weshalb dies durch den Verordnungsgeber nicht erfolgt ist, lässt sich der Verordnungsbegründung nicht entnehmen. Markant ist insofern auch das abgestufte System der §§ 2 bis 4 CoronaImpfV.
- In § 4, welcher mit “Schutzimpfungen mit erhöhter Priorität“ betitelt ist, werden Härtefälle in seinem Abs. 1 Nr. 2 lit. i) inkludiert, für Personen bei denen „erhöhtes“ Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 besteht.
- In § 3, welcher mit “Schutzimpfungen mit hoher Priorität“ betitelt ist, werden Härtefälle in seinem Abs. 1 Nr. 2 lit. j) inkludiert, für Personen bei denen „hohes“ Risiko … besteht.
Es erfolgt demgemäß zwischen den einzelnen Paragraphen eine Abstufung nach Ausmaß des Risikos und die Härtefälle sind passend zur Betitelung des Risikogrades dem jeweiligen Paragraphen zugeordnet. Folgerichtig wäre es nach dieser Abstufungslogik/-systematik gewesen, dem § 2, welcher mit “höchster Priorität“ betitelt ist, dementsprechend Härtefälle mit einem exorbitant hohen bzw. höchstem Risiko für einen für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf zu zuordnen. Dies ist jedoch nicht erfolgt. Vielmehr finden sich in § 3 Abs. 1 Nr. 2 lit. j) CoronaImpfV nun neben Personen mit „hohem Risiko“ auch noch Personen mit „sehr hohem Risiko“. Eine derart widersprüchliche Systematik ist ein Indiz für eine planwidrige Lücke.
Maßstab für die Impfpriorisierung sollte laut Ermächtigungsgrundlage der Risikograd sein
Auch eine Vergleichbarkeit der Interessenlage ist gegeben. § 2 CoronaImpfV soll den Menschen mit der höchsten Vulnerabilität den schnellstmöglichen Zugang zur Schutzimpfung ermöglichen. Über Sinn und Zweck gibt § 20i Abs. 3 Nr.1 lit.a ) SGB V Aufschluss, auf dem die CoronaImpfV basiert. Darin heißt es wörtlich, dass für Personen ein Anspruch besteht auf
„Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 insbesondere dann, wenn sie aufgrund ihres Alters oder Gesundheitszustandes ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben“.
Maßgeblich soll für die Priorisierung folglich der Risikograd sein. Eine Ungleichbehandlung von Alter und Gesundheitszustand (bzw. dessen Nichtberücksichtigung) ist widersinnig, wenn in beiden Fällen gleichermaßen ein exorbitantes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf begründet liegt.
Verfassungskonforme Auslegung muss medizinische Härtefälle in allen Gruppen priorisieren
Nunmehr muss in der Konsequenz der § 2 Abs. 1 CoronaImpfV verfassungskonform in dem Sinn ausgelegt werden, dass die Priorisierungsgruppe – wie § 3 und § 4 CoronaImpfV auch – für medizinische Härtefälle geöffnet wird.
Dies ist auch durch die Folgerichtigkeit der Normgebung geboten. Zwar hat der Normgeber einen gewissen Spielraum dazu, in welchem Umfang er Härtefälle berücksichtigt. Hat er sich dazu aber verpflichtet, so muss er den dabei eingeschlagenen Weg folgerichtig zu Ende gehen. Für den Verordnungsgeber kann nichts anderes gelten. Es ist aber nicht einsichtig, dass es nur für Schutzimpfungen mit hoher und erhöhter Priorität Härtefallklauseln geben soll, aber nicht für Schutzimpfungen mit höchster Priorität.
Sinn und Zweck einer Härtefallklausel ist es, atypische Härtefälle zu erfassen, die der Normgeber bei der Typisierung des Massenfallrechts nicht sämtlich aufnehmen konnte. Dieser Gedanke begegnet auch in anderen Rechtsgebieten und wird im Zusammenhang der Typisierung gerade dafür benötigt, um unbillige Härten aufzufangen, die sich dadurch ergeben, dass viele Fälle „über einen Kamm geschoren werden“.
BVerwG: Staat kann nicht nur durch aktives Tun, sondern auch durch Unterlassen töten
Die Fallgruppenbildung als solche ist nur dann mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, wenn sie Raum für die Berücksichtigung atypischer Härtefälle belässt. Das BVerwG hat bereits 1959 zur Pockenschutzimpfung klargestellt (BVerwG, Urteil vom 14. 7. 1959, BVerwG I C 170/56), dass der Staat nicht nur durch aktives Tun, sondern auch durch Unterlassen töten kann und dass er nach dem Sinngehalt des Art. 2 und aus den Grundrechtsaussagen über den Menschen überhaupt, bestimmte Personengruppen nicht ohne besonderen Grund von dem Schutz gegen eine lebensgefährliche Ansteckung ausschließen darf. Die Gruppeneinteilung in der Impfverordnung lässt sich nur dann verfassungsrechtlich rechtfertigen, wenn sie für Härtefälle eine Einzelfallbetrachtung ermöglicht und zwar gerade auch mit Blick auf die höchste Priorisierung.
Fazit: Verschiedene Ansätze zu verfassungskonformer Priorisierung
Es sind verschiedene Ansätze vertretbar, wie ein Anspruch auf Einzelfallentscheidung hergeleitet werden kann, sei es im Rahmen einer Analogie oder über einen direkten Anspruch aus dem Grundgesetz bzw. § 20 i Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 lit. a) SGB V, wie vom Verwaltungsgericht Potsdam dargelegt. Denkbar wäre es auch, Krankenhauspatienten als Personen, die in einer stationären oder teilstationären Einrichtung i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 2 CoronaImpfV behandelt werden, einzustufen. Eine Auslegung bis zur Grenze des möglichen Wortsinnes ist statthaft, wenn sie bei teleologischer, d.h. am Normzweck des § 2 Abs. 1 Nr. 2 CoronaImpfV orientierter Auslegung geboten ist. Sogar die Auslegung über die Wortlautgrenzen hinaus ist ausnahmsweise zulässig, wenn andere Indizien deutlich belegen, dass der Normsinn im Text unzureichend Ausdruck gefunden hat (BVerfGE 97, 186 (196)).
In jedem Fall sollten Rechtsanwender nicht am Buchstaben des Verordnungstextes verhaften, wenn dies zu dem evident verfassungswidrigen Ergebnis führt, dass dadurch Schwerstkranken eine potentiell lebensrettende Impfung versagt wird. Es bleibt daher zu hoffen, dass weitere Gerichte und Behörden dem Beispiel des Verwaltungsgerichts Potsdam folgen werden – sei es durch eine direkte Herleitung aus dem Grundgesetz oder auch über einen Analogieschluss.
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