Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Anspruch auf vorrangige Impfung gegen das Coronavirus. Anspruchsgegner: Land. Impfstoffknappheit. Impfpriorisierung. Abweichen von der Reihenfolge der Priorisierung. Vorliegen eines atypischen Einzelfalls

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Anspruch auf Impfung gegen das Coronavirus richtet sich gegen das Land.

2. Bei Knappheit der Impfstoffe kann ein Anspruch auf vorrangige Impfung nach der CoronaImpfV oder - bei unterstellter Verfassungswidrigkeit dieser Verordnung - nach verfassungsrechtlichen Teilhabeansprüchen nur im Rahmen aktuell zur Verfügung stehender Kapazitäten, die eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Priorisierung bei der Vergabe erfordert, geltend gemacht werden.

3. Die Bewertung als atypischer Einzelfall, der es gebietet, von der festgelegten Reihenfolge der Priorisierung abzuweichen, erfordert eine außergewöhnliche, bislang nicht ausreichende bedachte Konstellation.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 21. Januar 2021 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I.

Der 73-jährige Antragsteller begehrt eine unverzügliche Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2.

Der Antragsteller lebt zusammen mit seiner berufstätigen Ehefrau, einer Grundschullehrerin, und zwei Kindern im Jugendalter, die noch die Schule besuchen. Er leidet an einer chronischen Herzinsuffizienz mit massiver Einschränkung seiner kardialen Funktion bedingt durch eine komplexe koronare Herzkrankheit (vgl. wegen der Diagnosen im Einzelnen die Arztberichte auf Bl. 11 bis 37 der Gerichtsakte - GA -). Sein behandelnder Hausarzt, der Facharzt für Innere und Allgemeinmedizin Dr. E., bescheinigte dem Antragsteller aufgrund der chronischen Erkrankung ein erheblich erhöhtes Risiko eines komplikativen COVID-Verlaufs; eine frühzeitige SARS-CoV-2-Impfung sei daher zwingend indiziert (Bescheinigung vom 2. Dezember 2020, Bl. 53 GA; ebenso unter Verweis auf ein sehr hohes Risiko für einen sehr schweren oder gar tödlichen Verlauf: Kardiologische Praxis F., G., vom 15. Januar 2021, Bl. 162 GA).

Nachdem dem Antragsteller über die zentrale Hotline für die Terminierung von Impfungen mitgeteilt worden war, dass eine Impfung in der ersten Gruppe, also vorrangig zu impfenden Personen mit höchster Priorität, für ihn ausgeschlossen sei (vgl. auch die per E-Mail an den Antragsteller vom 4. Januar 2021 erteilte Auskunft des Antragsgegners, Bl. 64 f. GA), stellte er am 30. Dezember 2020 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht (VG) Oldenburg. Das VG hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 11. Januar 2021 an das nach seiner Auffassung sachlich zuständige Sozialgericht (SG) Oldenburg verwiesen.

Der Antragsteller ist der Auffassung, ihm stehe eine Aufnahme in die Gruppe, die mit höchster Priorität zu impfen ist, zu. Aufgrund seiner lebensbedrohlichen koronaren Herzerkrankung bestehe für ihn ein gleiches oder im Vergleich zu einer vitalen und gesunden 80-jährigen Person sogar ein höheres Risiko eines schweren Covid-Verlaufes mit potentiell schweren Gesundheitsschäden oder sogar dem Risiko, an der Krankheit zu sterben. Das Lebensalter sei zwar der einfachste Faktor zur Risikobewertung, aber nicht allein ausschlaggebend. Mittlerweile gehe auch die Ständige Impfkommission (STIKO) davon aus, dass es möglich sei, Einzelfallentscheidungen zu treffen. Der Antragsteller verweist insoweit darauf, dass Menschen mit Herzerkrankungen in der medizinwissenschaftlichen Diskussion als in besonderem Maß durch die Viruserkrankung gefährdet angesehen und zu den sog. Risikogruppen gezählt werden. Die Festlegung der Personengruppen in § 2 der Coronavirus-Impfverordnung (CoronaImpfV), die mit höchster Priorität Anspruch auf eine Schutzimpfung haben, sei daher nicht nachvollziehbar, unvollständig und willkürlich; jedenfalls fehle es an einer Öffnungsklausel für Härtefälle. Er habe einen gleichwertigen Anspruch zu Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen. Er sei auf die Hilfe seiner Frau oder Kinder angewiesen, wenn massives Vorhofflimmern oder Kammerflimmern eine Intervention notwendig machten. Er könne sich daher in vergleichbarer Weise nicht isolieren. Die Festlegung der Impfreihenfolge hätte jedenfalls - so der Antragsteller unter Bezugnahme auf öffentliche Diskussionen - wegen der Tragweite nur per formellem Gesetz und nicht im Verordnungswege erfolgen dürfen.

Mit Beschluss vom 21. Januar 2021 hat das SG Oldenburg den Antrag auf Erlass einer einstwilligen Anordnung abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Das SG sei nach Verweisung des Rechtsstreits zuständig geworden. Zwar sei entgegen der Auffassung des VG wegen fehlender Zuweisung der Streitigkeit zu den Sozialgerichten nach Maßgabe des § 51 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Verwaltungsrechtsweg eröffnet, allerdings sei das SG an den Verweisungsbes...

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