AG Weimar und BayVGH zu  Corona-Kontaktbeschränkungen

Das Amtsgericht sprach einen Betroffenen frei, der im April 2020 mit  mindestens sieben weiteren Personen aus insgesamt sieben Haushalten in einem Hinterhof einen Geburtstag feierte. Laut Thüringer Sars-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung wäre nur ein Gast aus einem anderen Haushalt erlaubt gewesen, diese Verordnung sei aber formell und materiell verfassungswidrig. Der BayVGH widerspricht.

Die Hinterhoffeier verstieß laut Bußgeldbescheid gegen das Kontaktverbot aus § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 der 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO in der Fassung vom 23.04.2020.

Exekutive war nach Ansicht des Gerichts nicht zum Erlass der Verordnung befugt

Das Gericht befand die Verordnung aus verschiedenen Gründen und mit ausführlicher Begründung für verfassungswidrig. Nichtig sei die Verordnung, weil nach dem Grundgesetz für eine so weitreichende Vorschrift nicht die Exekutive zuständig gewesen sei, sondern die Legislative. Nach der Wesentlichkeitslehre müsse der Gesetzgeber in Bereichen der Grundrechtsausübung alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen und dürfe diese nicht an die Exekutive delegieren (BVerfGE 142, 1 (109); BVerfGE 98, 218 (251); BVerfGE 116, 24 (58)).

Je wesentlicher ein Rechtsakt der Exekutive in Grundrechte eingreife, umso genauer müssen, so das Gericht, die Regelungen des ermächtigenden Gesetzes sein. § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG, der zu dem Zeitpunkt der Verordnung noch nicht reformiert worden war, könne nur Einzelmaßnahmen, wie z.B. die in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG genannte Schließung von einzelnen Badeanstalten, tragen, nicht aber ein allgemeines Kontaktverbot.

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Lag zum Zeitpunkt der Verordnung eine "epidemische Lage von nationaler Tragweite" vor?

Außerdem habe zu dem Zeitpunkt nicht die vom Bundestag behauptete "epidemische Lage von nationaler Tragweite" vorgelegen, da die Reproduktionszahl R laut Robert-Koch-Institut bereits am 21. März 2020, also vor Erlass der Verordnung, unter 1 gefallen sei. Auch Übersterblichkeit, Intensivbettenbelegung und Todeszahlen im Zusammenhang mit dem Virus hätten dies Einordnung nicht gestützt.

Da die Zahl der Neuinfektionen bereits seit Mitte März rückläufig war, ist es nicht überraschend, dass in Deutschland zu keinem Zeitpunkt im Frühjahr 2020 eine konkrete Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems durch eine "Welle" von COVID-19-Patienten bestand. Wie sich dem am 17.03.2020 neuetablierten DIVI-Intensivregister entnehmen lässt, waren im März und April in Deutschland durchgehend mindestens 40% der Intensivbetten frei. In Thüringen wurden am 03.04.2020 378 Intensivbetten als belegt gemeldet, davon 36 mit COVID-19-Patienten.

Dies sei bei der Rechtsgüterabwägung außer Acht gelassen worden.

Verordnung habe grundlegenden Freiheiten und damit die Menschenwürde verletzt

Es gehöre zu den grundlegenden Freiheiten des Menschen aus Art. 1 GG, selbst zu bestimmen, mit welchen Menschen er unter welchen Umständen in Kontakt tritt. Dies sei "die elementare Basis der Gesellschaft". Deshalb seien auch 2012 beim Auftreten des Sars-Virus trotz einer Risikoanalyse von 7,5 Millionen Toten zwar Kontaktpersonenquarantäneanordnungen, Schulschließungen und Absagen von Großveranstaltungen, aber keine allgemeinen Kontaktverbote in Erwägung gezogen worden. Mit dem Kontaktverbot greife der Staat – "wenn auch in guter Absicht" – die Grundlagen der Gesellschaft an, indem er physische Distanz zwischen den Bürgerinnen und Bürgern erzwinge "social distancing".

Kaum jemand konnte sich noch im Januar 2020 in Deutschland vorstellen, dass es ihm durch den Staat unter Androhung eines Bußgeldes untersagt werden könnte, seine Eltern zu sich nach Hause einzuladen, sofern er nicht für die Zeit ihrer Anwesenheit die übrigen Mitglieder seiner Familie aus dem Haus schickt.

Im Übrigen befand das Gericht den Lockdown bei Abwägung der Vor- und Nachteile wirtschaftlicher wie sozialer Art (z. B. Depressionen, wirtschaftliche Existenzen etc.) für unverhältnismäßig.

Warum das Gericht selbst über die Verfassungswidrigkeit entschied

Das Gericht entschied selbst über die Verfassungsmäßigkeit der Normen, weil die Vorlagepflicht gem. Art. 100 Abs. 1 GG nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteile v.20.03.1952 , 1 BvL 12/51, 1 BvL 15/51, 1 BvL 16/51, 1 BvL 24/51, 1 BvL 28/51) nur für förmliche Gesetze des Bundes und der Länder, aber nicht für Rechtsverordnungen gelte. Im Ergebnis sprach das Gericht den Betroffenen frei. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

(AG Weimar Urteil vom 11.01.2021 - 6 OWi-523 Js 202518/20).

Stellungnahme des BayVGH zum Urteil (Beschluss v. 24.01.2021 – 10 CS 21.249) 

Das Urteil des Amtsgerichts Weimar (U.v. 11.01.2021 – 6 OWi – 523 Js 202518/20), auf das sich der Antragsteller bezieht, um weiter zu begründen, dass eine “Epidemische Lage von nationaler Tragweite” nicht vorliege, ändert hieran ebenfalls nichts. Abgesehen davon, dass das Urteil nicht rechtskräftig ist und Rechtsmittel insofern schon angekündigt sind, hält es der Senat für eine methodisch höchst fragwürdige Einzelentscheidung, die hinsichtlich der Gefahren der Corona-Pandemie im Widerspruch zur (vom Amtsgericht nicht ansatzweise berücksichtigten) ganz überwiegenden Rechtsprechung der deutschen Gerichte steht (vgl. statt aller aus dem Zeitraum April/Mai 2020 BVerfG, B.v. 9.4.2020 – 1 BvQ 29/20 – juris; HessVGH, B.v. 1.4.2020 – 2 B 925/20 – juris; BayVGH, B.v. 14.4.2020 – 20 NE 20.735 – juris; OVG LSA, B.v. 30.4.2020 – 3 R 69/20 – juris; ThürOVG, B.v. 7.5.2020 – 3 EN 311/20 – juris; OVG Bremen, U.v. 12.5.2020 – 1 B 140/20 – juris).

Wenn das Amtsgericht Weimar meint, dass “am 18.04.2020, dem Tag des Erlasses der 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO” keine epidemische Lage nationaler Tragweite vorgelegen habe, setzt es seine eigene Auffassung an die Stelle der Einschätzung des Bundestages und des Thüringer Verordnungsgebers, ohne sich auch nur ansatzweise mit den wissenschaftlichen und tatsächlichen Grundlagen auseinanderzusetzen, die zu deren Einschätzung geführt haben und maßt sich gleichzeitig eine Sachkunde zu infektiologischen und epidemiologischen Sachverhalten an, die ihm angesichts der hochkomplexen Situtation ersichtlich nicht zukommt (vgl. zu den Grenzen einer Beurteilung komplexer Sachverhalte durch den Richter ohne Hinzuziehung von Sachverständigen etwa BGH, B.v. 9.4.2019 – VI ZR 377/17 – juris Rn. 9; BVerwG, U.v. 10.11.1983 – 3 C 56/82 – BVerwGE 68, 177 – juris Rn. 30 jeweils m.w.N.). Das Amtsgericht führt einzelne von ihm für maßgeblich gehaltene Kriterien und Belege an und blendet dabei gegenteilige Hinweise und Quellen systematisch aus. So ist die von ihm zentral herangezogene “Metastudie des Medizinwissenschaftlers und Statistikers John Ioannidis” zur Infentionssterblichkeitsrate (IFR) bestenfalls umstritten, spätere Studien (die der Senat noch während des vorliegenden Eilverfahrens auffinden konnte) gehen von einer deutlich höheren IFR insbesondere bei älteren Menschen aus (vgl. etwa Levin et al., Assessing the Age Specificity of Infection Fatality Rates for COVID-19: Systematic Review, Meta-Analysis, and Public Policy Implications vom 8. Dezember 2020, abrufbar unter https://link.springer.com/article/10.1007/s10654-020-00698-1). Im Übrigen vermengt das Amtsgericht die im Gefahrabwehrrecht maßgebliche ex-ante-Betrachtung (stRspr, vgl. etwa BayVGH, U.v. 22.5.2017 – 10 B 17.83 – juris Rn. 25 m.w.N.) mit Elementen einer ex-post-Betrachtug und stellt vielfach keine Überlegungen zu Kausalitäteten bzw. Koinzidenzien ab. Die naheliegende Annahme etwa, dass gerade die vom Amtsgericht als unverhältnismäßig angesehenen Schutzmaßnahmen im Frühjahr 2020 dazu geführten haben könnten, dass es im ersten Halbjahr 2020 zu einer vergleichsweise niedrigen Übersterblichkeit und zu einer vergleichsweise geringen Auslastung der Intensivbettenkapazitäten kam, spart das Amtsgericht soweit ersichtlich vollkommen aus.

Soweit das Amtsgericht Weimar darüber hinaus der Auffassung ist, dass § 28 IfSG am 18. April 2020 im Hinblick auf die Wesentlichkeitslehre keine taugliche Rechtsgrundlage für die 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO gewesen sei und insofern auf die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (BayVGH, B.v. 29.10.2020 – 20 NE 20.2360 – juris) verweist, hat der 20. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs diese Bedenken für die nach der Einfügung von § 28a IfSG geltende Rechtslage nicht mehr wiederholt (vgl. etwa BavGH, B.v. 8.12.2020 – 20 NE 20.2461 – juris Rn. 21). Der erkennende Senat war bereits zuvor der Auffassung, dass Einschränkungen der Versammlungsfreiheit durch Rechtsverordnungen auf der Grundlage von § 32 i.V.m. § 28 IfSG grundsätzlich zulässig waren (BayVGH, B.v. 7.11.2020 – 10 CS 20.2583 – juris Rn. 4 m.w.N.).”

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