Gerichtszuständigkeit bei Kindesentführung ins Ausland

Der EuGH hat entschieden, dass ein Gericht, das an sich in einem Sorgerechtsverfahren zuständig ist, die Sache ausnahmsweise an das Gericht eines anderen Mitgliedstaates verweisen kann, wenn das Kind widerrechtlich dorthin verbracht worden ist.

Zuständigkeitsregeln in der Europäischen Union: Die Brüssel-IIa-Verordnung

Die Zuständigkeitsregeln innerhalb der Europäischen Union sind teilweise kompliziert. In Sorgerechtsstreitigkeiten mit Auslandsbezug richtet sich die Zuständigkeit nach der sog. Brüssel-IIa-Verordnung (VO-EG Nr. 2201/2003). Danach sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, grundsätzlich die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, Art. 8 Abs. 1 VO (EG) Nr. 2201/2003. Hintergrund dieser Regelung ist der Umstand, dass diese Gerichte sich in räumlicher Nähe zum Kind befinden und daher in aller Regel am besten beurteilen können, welche Maßnahmen dem Kindeswohl entsprechen. Erfolgt ein rechtmäßiger Umzug des Kindes in einen anderen Mitgliedstaat und begründet das Kind dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt, dann ändert sich auch die Zuständigkeit. Zuvor getroffene Entscheidungen bleiben aber vorübergehend wirksam, Art. 9 Abs. 1 VO (EG) Nr. 2201/2003.

Besondere Regelung im Falle der Kindesentführung

Etwas anderes gilt jedoch im Falle der Kindesentführung. Wird das Kind gegen den Willen des anderen Elternteils widerrechtlich in einen anderen Mitgliedstaat verbracht, dann ändert sich die Zuständigkeit des Gerichts nicht. Stattdessen bleibt das Gericht an dem Ort zuständig, an dem das Kind zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dadurch sollen Eltern davor abgeschreckt werden, Ihre Kinder widerrechtlich in einen anderen Mitgliedstaat zu verbringen.

Ausnahmen von der Grundsatzregel: Entscheidung des EuGH

Von dieser Grundsatzregel können aber Ausnahmen gemacht werden; dies hat nun der EuGH klargestellt. In dem entschiedenen Fall wohnte ein slowakisches Ehepaar mit seinen Kindern in Österreich. Nach der Trennung war die Mutter in die Slowakei umgezogen und hat die Kinder gegen den Willen des Vaters mitgenommen. Dieser begehrte sowohl die Rückführung nach Österreich als auch die Übertragung des Sorgerechtes auf sich. Letzteres klagte er vor einem österreichischen Gericht ein. Nach der Brüssel-IIa-Verordnung war das Gericht in Österreich auch zuständig. Auf den Antrag der Mutter, die Sache an ein slowakisches Gericht zu verweisen, wurde das österreichische Gericht jedoch unsicher und hat die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Der EuGH entschied, dass im Ausnahmefall die Verweisung an ein Gericht des Mitgliedstaates, in welches ein Kind widerrechtlich verbracht wurde, möglich ist. Ein solches Vorgehen knüpfte der EuGH allerdings an drei Voraussetzungen:

  1. Das betreffende Kind muss eine besondere Bindung zu dem anderen Mitgliedstaat haben.
  2. Das Gericht dieses Mitgliedstaats muss den Fall besser beurteilen können.
  3. Die Verweisung muss dem Wohl des Kindes entsprechen.

Die Voraussetzungen müssen kumulativ gegeben sein. Bei der letzten Voraussetzung muss das Gericht zudem berücksichtigen, ob zusätzlich ein Verfahren zur Rückführung des Kindes anhängig ist. Ist dies – wie vorliegend – der Fall, dann ist die dortige Entscheidung abzuwarten, bevor eine Verweisung erfolgen kann. Ansonsten stünde die Verweisung dem Kindeswohl entgegen.

(EuGH, Urteil v. 14.7.2023, C-87/22)


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Schlagworte zum Thema:  Familienrecht, EuGH, Umgangsrecht, EU-Recht