a) Allgemeines

Zu den potenziellen Entschuldigungsgründen, bei deren Vorliegen ein Vorwurf/Verschulden hinsichtlich des Ausbleibens in der Berufungshauptverhandlung zu verneinen ist, gibt es umfangreiche Rechtsprechungsbeispiele. Die OLG-Rechtsprechung zu diesem Bereich ist unüberschaubar. Die nachfolgenden Fallgruppen geben eine erste Hilfestellung (entnommen Burhoff, HV, Rn 798 ff.; Burhoff/Kotz/Kotz, Teil A Rn 122 ff. m.w.N.).

 

Hinweis:

Die bis zum Inkrafttreten des "Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe" am 25.7.2015 (vgl. BGBl I, S. 1332) ergangene Rechtsprechung der OLG zum Begriff der "genügenden Entschuldigung" i.S.d. § 329 StPO a.F. ist auch nach der Neuregelung weiter anwendbar. Insoweit haben sich durch die Neuregelung keine Änderungen in der StPO ergeben.

b) Allgemeine Entschuldigungsgründe

Verschulden verneint:

  • bei einer Abschiebung nur dann, wenn eine Anreise zum Termin bei Ausschöpfung aller zumutbaren Maßnahmen nicht möglich war (KG StV 1992, 567), wozu auch die Beantragung eines Kurzvisums per Fax gehört (LG Bielefeld NStZ-RR 1998, 343; s. auch LG Dresden StRR 2010, 363 [Ls.; Verschulden zu bejahen, wenn der Angeklagte nach erfolgter Abschiebung seine Anschrift im Heimatland nicht mitteilt, da dann keine Möglichkeit bestand, ihn unter Erteilung einer Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 2 AufenthG zu laden]);
  • dem Verteidiger wurde faktisch Akteneinsicht vor dem Termin verweigert (BayObLG NJW 1990, 3222; OLG Jena VRS 108, 276; a.A. wohl OLG Karlsruhe NStZ-RR 2010, 287);
  • der Angeklagte, der nach längerer Arbeitslosigkeit wieder einen Arbeitsplatz gefunden hat, erscheint nicht zur Hauptverhandlung, weil ihm sein Arbeitgeber, dem der Termin rechtzeitig mitgeteilt worden war, aus plötzlich entstandenen Organisationsschwierigkeiten Arbeitsbefreiung verweigert und der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz nicht durch Arbeitsverweigerung "aufs Spiel" setzen will (OLG Hamm NJW 1995, 207);
  • bei einem mehrmonatigen Auslandsaufenthalt, wenn dem Angeklagten die Mittel fehlen, um einen Rückflug über eine große Distanz bezahlen zu können (OLG Celle, Beschl. v. 10.11.2011 – 32 Ss 130/11; ähnlich OLG Hamm VRR 2012, 277 für Bußgeldverfahren und Rückkehr aus Neuseeland);
  • ggf. wenn der Angeklagte nach einem vor der Hauptverhandlung gestellten Aussetzungsantrag nicht erscheint (BGHSt 24, 143);
  • ggf. die irrtümliche Annahme, der Verteidiger sei zur Vertretung berechtigt (BayObLG NJW 1956, 838; DAR 1978, 211 [Rüth]);
  • nach einer Ausweisung, wenn der Angeklagte nicht über eine Ausnahmeerlaubnis zur Wiedereinreise verfügt (BayObLG StV 2001, 339; OLG Köln StraFo 2008, 29 m.w.N.; ähnl. KG, Beschl. v. 17.7.2002 – 1 Ss 196/02 [84/02]);
  • ggf. kann das Erscheinen in der Hauptverhandlung unzumutbar sein, wenn ein Befangenheitsantrag zuvor zurückgewiesen worden ist und nun der Verteidiger verhindert ist (OLG Hamm NStZ 1995, 596);
  • ggf. wenn der Angeklagte sich erst seit wenigen Tagen in einer Drogentherapie befindet, so dass die Gefahr besteht, dass er bei Erscheinen in der Hauptverhandlung die Therapie frühzeitig abbrechen müsste (KG StV 1995, 575);
  • auch dann, wenn der Angeklagte sich wegen einer mit seiner Drogensucht zusammenhängenden Erkrankung nicht rechtzeitig in ärztliche Behandlung begeben hat (OLG Köln NStZ-RR 2009, 86);
  • ggf. wenn der Angeklagte auf (falsche) Auskünfte seines Verteidigers oder der Geschäftsstelle des Gerichts vertraut hat (s. Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 29 m.w.N.; KG DAR 2012, 395 [Erkrankung des Verteidigers; für Bußgeldverfahren]; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 113; VRR 2006, 274; NStZ-RR 2010, 245 [Aufhebung der HV wegen Erkrankung des Pflichtverteidigers]; VA 2013, 88; OLG Köln NStZ-RR 1997, 208 m.w.N.; OLG Zweibrücken NStZ-RR 2000, 111; LG Frankfurt/O. VRR 2013, 475 [Bußgeldverfahren]; a.A., aber unzutreffend LG Berlin NStZ 2005, 655; s. auch BayObLG NStZ-RR 2003, 85, wenn der Hinw. des Verteidigers in klar erkennbarem Widerspruch zum Inhalt der gerichtlichen Ladung steht); aber nicht, wenn Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit einer Auskunft des Verteidigers erkennbar sind, denen muss nachgegangen werden (OLG Frankfurt NZV 2016, 491 [für Bußgeldverfahren]);
  • Einlasskontrollen haben 25 Minuten gedauert (KG NStZ-RR 2006, 183);
  • wenn der Angeklagte die ihm zugestellte Ladung zu einem "wegen Verhinderung des Geschädigten bestimmten Fortsetzungstermin" dahin missversteht, dass es sich um einen Ersatztermin handelt, zu dem allein er dann auch erscheint (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 4.9.2008 – 1 Ws 170/08);
  • der Angeklagte hat lediglich das seinem Erscheinen in der Hauptverhandlung entgegenstehende Hindernis selbst herbeigeführt (OLG Düsseldorf StraFo 2001, 269 [für Widerstandsleistung in anderer Sache]);
  • i.d.R. die Inhaftierung, und zwar auch wegen Haft in anderer Sache (s. KG, Beschl. v. 9.4.2015 – [2] 161 Ss 67/15; OLG Köln StraFo 2006, 205; 2008, 248; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 24 m.w.N.), nicht aber die Inhaftierung in anderer Sache im Ausla...

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