Tenor

Unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses wird dem Angeklagten auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung gewährt.

Die Revision des Angeklagten ist damit gegenstandslos.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten darin entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Aachen hat den Angeklagten durch Urteil vom 7. März 2007 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Erschleichens von Leistungen unter Freisprechung im Übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.

Die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Aachen durch Urteil vom 13. Dezember 2007 in Anwendung des § 329 Abs. 1 StPO verworfen, nachdem er zur Berufungshauptverhandlung nicht erschienen war.

Nach Zustellung der Entscheidung am 19. Dezember 2007 hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2007, bei Gericht eingegangen am Folgetag, unter Vorlage eines ärztlichen Attests vom 17. Dezember 2007 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung beantragt sowie für den Fall der Verwerfung dieses Antrags Revision eingelegt. Der Angeklagte sei akut erkrankt gewesen. Das vorgelegte ärztliche Attest der Ärztin Dr. T-H lautet:

"Der (...) Patient konnte seinen Termin am 13.12.2007 wegen Krankheit nicht wahrnehmen".

Ein vom Verteidiger nachgereichtes Attest vom 14.02.2008 lautet auszugsweise:

"Herr U. war bettlägerig erkrankt. (...)"

In der Folgezeit hat die Strafkammer bei der behandelnden Ärztin zur Art der Erkrankung und dazu, ob diese bereits am 13. Dezember 2007 bestanden habe, nachgefragt. Mit Attest vom 7. März 2008 teilte die Ärztin mit, dass bei dem Angeklagten beidseitige schmerzhafte Leistenabszesse mit massiver Lymphstauung in beiden Beinen bestanden hätten. Aus einem weiteren Attest vom 8. April 2008 schließlich ergibt sich, dass der Angeklagte sich erstmals am 17. Dezember 2007 bei ihr vorgestellt hatte. Weiter heißt es:

"Er war in einem sehr schlechten Allgemeinzustand, seinen Angaben zufolge injiziere er täglich 1 - 2 Gramm Heroin in die Leisten. Der Pat. klagte über unregelmäßig auftretende Fieberschübe (...). Bei der körperlichen Untersuchung zeigten sich bis zu 3 cm große Lymphknotenpakte, die sehr schmerzhaft waren. Außerdem war eine starke Schwellung des rechten Beins zu erkennen, so dass V. a. Phlebothrombose bestand. Zu diesem Zeitpunkt lehnte der Pat. eine weitergehende Diagnostik und Therapie unter stationären Bedingungen ab. (...) Im weiteren Verlauf begab sich der Patient Ende Januar ins G-Hospital".

Die Strafkammer hat das Wiedereinsetzungsgesuch durch Beschluss vom 10. Juni 2008 verworfen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, eine zuverlässige Aussage über den Gesundheitszustand des Angeklagten am 13. Dezember 2007 habe die behandelnde Ärztin nicht treffen können. Zudem ergebe sich - auch wenn nicht verkannt werde, dass die bestehende Drogensucht dem Angeklagten nicht vorgeworfen werden könne - ein mitwirkendes Verschulden an der Versäumung des Termins zur Berufungshauptverhandlung daraus, dass er es unterlassen habe, sich rechtzeitig in ärztliche Behandlung zu begeben und ärztlichen Anweisungen Folge zu leisten.

Gegen diesen, dem Verteidiger am 16. Juni 2008 zugestellten Beschluss richtet sich die am 23. Juni 2008 bei Gericht eingegangene sofortige Beschwerde des Angeklagten vom 19. Juni 2008.

II.

1.

Die gemäß §§ 329 Abs. 3, 46 Abs. 3 StPO statthafte, rechtzeitig innerhalb der Wochenfrist des § 311 StPO eingelegte und daher zulässige sofortige Beschwerde gegen die Verwerfung des Wiedereinsetzungsantrages hat auch in der Sache Erfolg.

a)

Es ist allgemein anerkannt, dass eine Erkrankung des Angeklagten einen Entschuldigungsgrund i. S. d. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO darstellt (SenE v. 17.03.1987 - Ss 118/87 B - = VRS 72, 472; SenE v. 30.01.2007 - 1 Ws 40/06 -). Dies gilt schon dann, wenn das Erscheinen vor Gericht wegen der Erkrankung unzumutbar ist. Denn der Begriff der genügenden Entschuldigung darf nicht eng ausgelegt werden. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO enthält eine Ausnahme von der Regelung, dass ohne den Angeklagten nicht verhandelt werden darf, und birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich. Deshalb ist bei der Prüfung der vorgebrachten oder vorliegenden Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten angebracht. Eine Entschuldigung ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seiner öffentlich-rechtlichen Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d. h. wenn dem Angeklagten unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolge dessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann (vgl. zu allem: BayObLG NJW 2001, 1438 = VRS 100, 351; SenE v. 23.05.2006 - 1 Ws 14/...

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