Leitsatz (amtlich)

Das Ausbleiben in der Hauptverhandlung ist auch bei einem mehrmonatigen Auslandsaufenthalt genügend entschuldigt, wenn dem Angeklagten die finanziellen Mittel fehlen, um einen Rückflug über große Distanz (Brasilien) bezahlen zu können.

 

Verfahrensgang

LG Hannover (Entscheidung vom 06.07.2011)

AG Hannover (Entscheidung vom 02.12.2010)

 

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten werden das Urteil der 5. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hannover vom 6. Juli 2011 und das Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 2. Dezember 2010 - Abt. 210 - mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über den Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl vom 20. September 2010, auch über die Kosten der Berufung und der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Hannover zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Hannover erließ am 20. September 2010 gegen den Angeklagten wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung einen Strafbefehl, mit dem eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10,- EUR festgesetzt wurde. Dem Angeklagten wird danach zur Last gelegt, am 17. Juli 2010 im alkoholisierten Zustand (2,89 g Promille) bei einer Auseinandersetzung auf einem Spielplatz eine halbvolle Bierflasche in Richtung der Zeugin X2. geworfen und dabei in Kauf genommen zu haben, sie zu treffen.

Den gegen den Strafbefehl eingelegten Einspruch verwarf das Amtsgericht durch Urteil vom 2. Dezember 2011 nach § 412 StPO, weil der Angeklagte unentschuldigt nicht zum Termin erschienen sei.

Die gegen das Urteil des Amtsgerichts eingelegte Berufung verwarf das Landgericht durch das angefochtene Urteil vom 6. Juli 2011 als unbegründet.

Nach den Feststellungen des Landgerichts befand sich der Angeklagte von August 2010 bis Februar 2011 dauerhaft in Brasilien. Er hatte vom Strafbefehl und nach seinem Einspruch von der Terminsladung Kenntnis erlangt und per Fax vom 7. November 2010 um Verlegung des Termins gebeten. Nachdem das Amtsgericht sich bei dem Angeklagten nach seinem derzeitigen Aufenthalt erkundigt hatte, teilte der Angeklagte durch Fax vom 26. November 2011 mit, dass er sich in Brasilien aufhalte und bat um Verschiebung des Termins auf den Zeitraum Juni bis August 2011.

Das Landgericht hat das Ausbleiben vom amtsgerichtlichen Termin am 2. Dezember 2010 als unentschuldigt gewertet, weil dem Angeklagten ein Erscheinen möglich und zumutbar gewesen sei. Ein langer Auslandsaufenthalt müsste gegebenenfalls unterbrochen werden.

Gegen das Urteil des Landgerichts wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er weiterhin geltend macht, sein Fernbleiben vom Termin vor dem Amtsgericht sei entschuldigt gewesen.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt,

die Revision als unzulässig,

hilfsweise

als unbegründet zu verwerfen.

II.

Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des Urteils des Landgerichts und des Verwerfungsurteils des Amtsgerichts.

1. Die Revision ist zulässig.

Zwar ist die Verletzung der Voraussetzungen der §§ 412, 329 Abs. 1 StPO auch dann in der Form einer Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) auszuführen, wenn sich das angefochtene Urteil in der Sache nur mit Rechtsnormen über das Verfahren befasst (vgl. nur Senat, Beschl. v. 13.09.2011, 32 Ss 119/11; OLG Karlsruhe, Urt. v. 28.10.2009, 1 Ss 126/08 - [...]; OLG München, NStZ-RR 2006, 20).

Die Verfahrensrüge ist hier aber noch formgerecht erhoben. An die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge gegen ein Verwerfungsurteil sind grundsätzlich keine strengen Anforderungen zu stellen. Wird in der Revisionsbegründung unter Angabe bestimmter Tatsachen ausgeführt, das Gericht habe das Fernbleiben nicht als unentschuldigt ansehen dürfen, bezieht bereits dieser Vortrag den Inhalt des angefochtenen Urteils unmittelbar in die Argumentation mit ein (OLG München, a.a.O.; OLG Brandenburg NStZ 1996, 249/250; OLG Düsseldorf VRS 78, 129; OLG Köln VRS 75, 113/115). Danach genügt das Vorbringen des Angeklagten, er sei wegen seines Aufenthalts in Brasilien, seines Vertrauens auf eine Terminverlegung und wegen der fehlenden finanziellen Mittel für einen vorzeitigen Rückflug nach X1. ausreichend entschuldigt gewesen, um die Feststellungen im Urteil des Landgerichts, die sich ausführlich zum Verfahrensablauf verhalten, zum Gegenstand der Verfahrensrüge zu machen.

2. Die Revision ist begründet.

Das Landgericht hat einen zu strengen Maßstab an die Voraussetzungen der genügenden Entschuldigung i.S.d. §§ 412 S. 1, 329 Abs. 1 S. 1 StPO gelegt.

Nach den Feststellungen des Landgerichts, die für den Senat bindend sind (vgl. Meyer-Goßner, 54. Aufl., StPO, § 329 Rn. 48), befand sich der Angeklagte bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Strafbefehls und auch noch zum Zeitpunkt des anberaumten Termins in Brasilien. Für die Frage der Zumutbarkeit des Erscheinens in der Hauptverhandlung am 2. Dezember 2010 kam es damit nicht primär darauf an, ob ihm eine Verlegung der Reise nach Brasilien trotz finanzieller Verluste möglich gewesen wäre ...

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