In der Praxis kommt es nicht selten vor, dass das Kind sich weigert oder jedenfalls eine solche Weigerung vom betreuenden Elternteil behauptet wird. Hier muss das Gericht im Rahmen der persönlichen Anhörung des Kindes gem. § 159 FamFG genaue Feststellungen treffen (vgl. zur Kindesanhörung BGH, Beschl. v. 27.11.2019 – XII ZB 511/18, NJW 2020, 1065; BGH, Beschl. v. 27.9.2017 – XII ZB 420/16, NJW 2017, 3663; KG, Beschl. v. 18.2.2021 – 3 UF 1069/20, FamRZ 2021, 1226; OLG Schleswig, Beschl. v. 22.9.2015 – 10 UF 105/15).

Der Kindeswille hat eine doppelte Funktion. Zum einen ist er Ausdruck der empfundenen Personenbindung, die auch nonverbal, z.B. durch ein freudiges zu gehen auf den Umgangselternteil, zum Ausdruck gebracht werden kann und in dieser Funktion unabhängig vom Alter des Kindes ist. Zum anderen ist er Akt der Selbstbestimmung, wobei diese Funktion mit steigendem Alter an Bedeutung gewinnt (OLG Hamburg, Beschl. v. 22.6.2021 – 12 UF 61/21). Damit korreliert die Bedeutung des Kindeswillens mit dem Alter des Kindes. Eine feste Altersgrenze für die Maßgeblichkeit des Kindeswillens in seiner Funktion als Ausdruck seiner Selbstbestimmung gibt es nicht. In der Regel wird bei Kindern ab dem 11.–13. Lebensjahr davon ausgegangen, dass sie zur Entwicklung eines selbstbestimmten Willens fähig sind. Beachtlich im rechtlichen Sinne ist der Kindeswille, wenn das Kind aufgrund seiner verstandesmäßigen Reife die Bedeutung des Umgangs versteht und es einen stabilen und autonomen Willen gebildet hat. Stabil ist der Wille, wenn er nachhaltig und gegenüber allen Verfahrensbeteiligten gleichen Inhalts geäußert wird. Von einem autonomen Willen kann ausgegangen werden, wenn er auf dem eigenen Erleben mit dem Elternteil beruht. Dann aber spielt es keine Rolle, ob er sich auch unter einer Beeinflussung des betreuenden Elternteils entwickelt hat. Die Nichtbeachtung des Kindeswillens ist nur dann gerechtfertigt, wenn er nicht die wirklichen Bindungsverhältnisse wiedergibt. Bei jüngeren Kindern kann hingegen eine Entscheidung auch gegen den geäußerten Willen ergehen, wenn er das Ergebnis einer illoyalen Einflussnahme eines Elternteils ist und/oder der Umgang trotz des geäußerten Kindeswillens nach einer Gesamtabwägung der Kindeswohl relevanten Gesichtspunkt seinem Wohl entspricht (OLG Frankfurt, Beschl. v. 6.7.2021 – 3 UF 144/20).

Äußern Kinder, dass sie keinen Kontakt zu einem Elternteil haben wollen, so ist jedoch sorgfältig zu prüfen, ob dieser Wille auf einer autonomen Entscheidung des Kindes beruht oder ob der geäußerte Kindeswille seine Grundlage in einer Suggestion des betreuenden Elternteils hat (BVerfG FamRZ 2007, 531; 2001, 1057; BGH, Beschl. v. 27.11.2019 – XII ZB 511/18, FamRZ 2020, 252; BGH, Beschl. v. 27.11.2019 – XII ZB 512/18, FamRZ 2020, 255; KG, Beschl. v. 20.6.2014 – 3 UF 159/12, KG ZKJ 2015, 235; OLG Brandenburg FamRZ 2000, 1106). Allerdings kann auch ein fremd beeinflusster Wille schützenswert sein, wenn darin echte Bindungen zum Ausdruck kommen und sich der Wille derart in dem Kind verfestigt hat, dass er als eigener Wille anzusehen ist. Denn auch ein solcher Wille stellt ein inneres Faktum dar, das im Interesse des Kindes nicht ignoriert werden darf (BGH, Beschl. v. 11.7.1984 – IVb ZB 73/83, NJW 1985, 1702, 1703; BVerfG FamRZ 2001, 1057; OLG Koblenz FamRZ 2014, 2010; OLG Naumburg FuR 2015, 358, 359; OLG Frankfurt FamRZ 2002, 187). Zur Persönlichkeitsentwicklung gehört auch, dass der wachsenden Fähigkeit eines Kindes zu eigener Willensbildung und selbstständigem Handeln Rechnung getragen wird, das Kind dies erfährt und sich so zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann (vgl. BVerfG FamRZ 2008, 1737). Dies gilt umso stärker, je älter und damit reifer das Kind ist (OLG Koblenz FamRZ 2014, 2010).

Es ist zu ermitteln, ob die Herausbildung der Persönlichkeit des Kindes bereits so fortgeschritten ist, dass eine dem Willen des Kindes zuwiderlaufende Ausübung des Umgangs eine Gefährdung seiner Entwicklung bedeuten würde (BGH FamRZ 1980, 131; OLG Brandenburg, Beschl. v. 18.6.2021 – 9 UF 39/21; OLG Brandenburg, Beschl. v. 6.10.2015 – 10 UF 57/13; KG ZKJ 2015, 235–239; OLG Celle FamRZ 2008, 1369–1371). Denn ein gegen den ernsthaften Widerstand des Kindes erzwungener Umgang kann durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Persönlichkeit bei dem Kind größeren Schaden verursachen als Nutzen. Eine Disqualifizierung eines an sich beachtenswerten Kindeswillens ist daher nur dann gerechtfertigt, wenn manipulierte Äußerungen des Kindes den wirklichen Bindungsverhältnissen nicht entsprechen und die Nichtbefolgung des Kindeswillens ihrerseits nicht wiederum zu seiner Kindeswohlgefährdung führt. Ferner kann der Kindeswille unbeachtlich sein, wenn dessen Befolgung seinerseits mit einer Gefahr für das Wohlergehen des Kindes verbunden wäre (vgl. BVerfG FamRZ 2005, 1057; FamRZ 2001, 1057; KG FamRZ 2013, 709; KG, Beschl. v. 24.7.2013 – 13 UF 200/13; OLG Koblenz FamRZ 2014, 2010).

 

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