Gesetzestext

 

(1) Solange nicht die Parteien sich über alle Punkte eines Vertrags geeinigt haben, über die nach der Erklärung auch nur einer Partei eine Vereinbarung getroffen werden soll, ist im Zweifel der Vertrag nicht geschlossen. Die Verständigung über einzelne Punkte ist auch dann nicht bindend, wenn eine Aufzeichnung stattgefunden hat.

(2) Ist eine Beurkundung des beabsichtigten Vertrags verabredet worden, so ist im Zweifel der Vertrag nicht geschlossen, bis die Beurkundung erfolgt ist.

A. Allgemeines.

 

Rn 1

§ 154 entscheidet die Frage, ob ein Vertrag bei nur teilweiser Einigung oder bei zwar verabredeter aber noch fehlender Beurkundung bereits geschlossen ist, im Zweifel zu Ungunsten der Wirksamkeit des Vertrags.

B. Offener Dissens, Abs 1.

I. Anwendungsbereich.

 

Rn 2

§ 154 I regelt nur den Fall, dass es mindestens einer Partei bewusst ist, dass sie sich noch nicht über mindestens einen Punkt geeinigt haben, über den nach Vorstellung jedenfalls einer Partei Einigkeit erzielt werden sollte. Insofern ist nur der Fall des offenen Dissenses im Sinne einer bewussten Teileinigung erfasst (bspw bei fehlender Einigung mit welcher Gegenforderung die Kaufpreisforderung zur Verrechnung gebracht werden sollte, BGH NJW-RR 99, 927 [BGH 26.02.1999 - V ZR 318/97]; oder hinsichtlich der Frage, ob eine Anzahlung zu leisten ist, BGH NJW 98, 3196 [BGH 24.07.1998 - V ZR 74/97]). Wenigstens eine der Parteien muss bei den Vertragsverhandlungen – sei es auch nur durch schlüssiges Verhalten – erkennbar gemacht haben, sie halte eine Einigung über den betreffenden, noch offenen Punkt für erforderlich (BGH NJW-RR 90, 1011 [BGH 15.03.1990 - I ZR 53/88]; Medicus/Petersen AT Rz 436, Staud/Bork Rz 2; Petersen Jura 09, 419). § 154 I ist nicht anzuwenden, wenn Einigkeit besteht, dass ein Vertrag ungeachtet der offenen Punkte zu Stande kommen soll (BGH NJW-RR 14, 1423 [BGH 27.06.2014 - V ZR 51/13]). Zum versteckten Dissens vgl § 155.

 

Rn 3

Sofern zu den offenen Punkten auch vertragswesentliche Fragen (essentialia negotii) gehören, die sich nicht durch dispositives Gesetzesrecht – beachte §§ 612, 632, 653 (BGH NJW 02, 817, 818 [BGH 06.12.2001 - III ZR 296/00]) –, durch ergänzende Vertragsauslegung (BGH NZV 06, 522 [BGH 04.04.2006 - X ZR 122/05] zur Honorarbestimmung für Kfz-Unfallschadensgutachter) klären lassen oder ggf über §§ 315 ff bestimmbar sind, ist § 154 unanwendbar. In diesem Fall des logischen Dissenses kann eine vertragliche Bindung nicht zustande kommen, da sonst der Vertrag Lücken aufwiese, die nicht nachträglich geschlossen werden könnten (BGH NJW-RR 06, 1139 [BGH 07.02.2006 - KZR 24/04] Tz 21; Jauernig/Mansel Rz 2; NK-BGB/Rademacher/G. Schulze Rz 4).

II. Rechtsfolge.

 

Rn 4

Bei bewusster Teileinigung soll der Vertrag nach der Auslegungsregel des § 154 I 1 im Zweifel nicht geschlossen sein. Diese Regel ist unanwendbar, wenn sich die Parteien trotz der noch offenen Punkte erkennbar vertraglich binden wollen. Dieser Wille kann ausdrücklich erklärt werden, kann sich aber auch aus den Umständen, wie etwa einem Vorvertrag (BGH WM 06, 1499 Tz 10; Vor §§ 145 ff Rn 27), ergeben (zu entsprechendem internationalen Handelsbrauch, Frankf NJW 77, 1051). Anzeichen für einen dahingehenden Bindungswillen ist insb die begonnene Vertragsdurchführung (BGH NJW 02, 817 [BGH 06.12.2001 - III ZR 296/00]; 93, 64 [BGH 30.09.1992 - VIII ZR 196/91]; 60, 430 [BGH 23.11.1959 - II ZR 187/58] in Vollzug gesetzte Gesellschaft; BAG AP Nr 1 aufgenommener Arbeitsvertrag; Hamm NJW-RR 07, 819 [OLG Hamm 05.12.2006 - 24 U 58/05]). Die offenen Lücken sind dann durch dispositives Gesetzesrecht (so va bei nicht Vertragsbestandteil gewordenen AGB s § 150 Rn 6 ff), im Wege ergänzender Vertragsauslegung nach § 157 (BGH NJW 75, 1116 [BGH 19.03.1975 - VIII ZR 262/73]; zu den Grenzen BGH NJW-RR 06, 1139 [BGH 07.02.2006 - KZR 24/04]) oder durch richterliche Bestimmung nach billigem Ermessen gem §§ 315 ff zu schließen (BGH NJW-RR 00, 1560 [BGH 03.11.1999 - I ZR 145/97]; Staud/Bork Rz 9. Zu den Grenzen des richterlichen Bestimmungsrechts bei verabredetem aber nicht festgesetztem Freundschaftspreis BGH ZIP 00, 2071). Eine treuwidrige Berufung auf die Zweifelsregel des I ist unbeachtlich (BGH MDR 54, 217).

III. Punktation, Abs 1 S 2.

 

Rn 5

§ 154 I 2 konkretisiert die in S 1 enthaltene Regel für den Fall, dass sich die Parteien über einzelne Punkte eines angestrebten Vertrags bereits geeinigt haben und diese Einigung auch in irgendeiner Form festgehalten haben. Auch eine solche Punktation soll die Parteien im Zweifel nicht binden. Gleichwohl kann der Punktation unter den in Rn 4 geschilderten Voraussetzungen Verbindlichkeit zukommen, sofern sie eine hinreichende Regelungsdichte besitzt (Staud/Bork Rz 11).

C. Vereinbarte Beurkundung, Abs 2.

 

Rn 6

§ 154 II bestimmt, dass bei gewollter aber noch nicht vorgenommener Beurkundung der Vertrag im Zweifel noch nicht geschlossen sein soll (BGH NJW-RR 06, 847, 849 [BGH 08.03.2006 - IV ZR 145/05] zu Sicherungsabrede; Hess LAG 15 Sa 254/10 zur Wirksamkeit trotz fehlender Schriftform). Anders als bei Formfehlern nach § 125 S 2 ist der Vertrag also nicht nichtig (NK-BGB/Rademacher/G. Schulze Rz 8), sondern led...

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