Leitsatz (amtlich)

1. Zur Vorverlagerung des Verschuldensvorwurfes nach den Grundsätzen der actio libera in causa und der §§ 827 Satz 2 BGB, 1 Abs. 3 GewSchG bei einem an schizophrener Erkrankung leidenden 'Stalker', der eigenmächtig die ihm verordnete Medikation absetzt oder verändert.

2. Soweit der Anwendungsbereich von § 1 Abs. 3 GewSchG nicht betroffen ist, können Schutzmaßnahmen auf der Grundlage des Gewaltschutzgesetzes nicht angeordnet werden, wenn sich der Täter bei Begehung der Anlasstaten in einem unzurechnungsfähigen Zustand befunden hat.

3. Außerhalb der besonderen Regeln des Gewaltschutzgesetzes können Schutzmaßnahmen unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des allgemeinen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruches auch bei Unzurechnungsfähigkeit des Täters angeordnet werden. die Zuständigkeit des Familiengerichts für eine solche Anordnung ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung von § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG (Anschluss OLG Frankfurt FamRZ 2010, 1812).

 

Normenkette

GewSchG § 1 Abs. 3; BGB § 823 Abs. 1, § 827 S. 2, § 1004

 

Verfahrensgang

AG Lüneburg (Beschluss vom 25.11.2010; Aktenzeichen 30 F 237/10)

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des AG - Familiengericht - Lüneburg vom 25.11.2010 teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

1. Der Antragsgegnerin wird es untersagt,

a) sich vor dem Ladenlokal Q5 der Antragstellerin in der ... straße, L. aufzuhalten, es zu betreten oder von außen in das Ladenlokal hineinzusehen

b) sich der Antragstellerin außerhalb des Ladenlokals auf eine Entfernung von weniger als 50 Metern zu nähern und

c) Verbindung zu der Antragstellerin, auch schriftlich und unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln, aufzunehmen.

2. Die Anordnung ist befristet bis zum 31.12.2011. Es wird klargestellt, dass der Anordnung keine Gewaltschutzmaßnahme i.S.d. § 1 GewSchG zugrunde liegt.

3. Für den Fall der Zuwiderhandlung wird der Antragsgegnerin ein Ordnungsgeld bis zu 250.000 EUR und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft von bis zu 6 Monaten angedroht.

4. Die Kosten des Verfahrens werden in beiden Rechtszügen gegeneinander aufgehoben.

5. Beschwerdewert: 2.000 EUR.

 

Gründe

Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist gem. § 58 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig. In der Sache hat die Beschwerde insoweit Erfolg, als die vom AG angeordneten Schutzmaßnahmen nicht auf die Anwendung von § 1 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 bis Nr. 4 und Abs. 2 Nr. 2b GewSchG gestützt werden können und dadurch insbesondere die Strafbewehrung nach § 4 GewSchG entfällt.

1. Es entspricht herrschender Meinung, dass die Anordnung einer Gewaltschutzmaßnahme i.S.v. § 1 GewSchG nicht in Betracht kommt, wenn der Täter bei der Begehung der Anlasstaten unzurechnungsfähig gewesen ist (vgl. OLG Frankfurt FamRZ 2010, 1812 [Tz. 10]. AG Wiesbaden FamRZ 2006, 1145. Johannsen/Henrich/Götz Familienrecht 5. Aufl., § 1 GewSchG Rz. 18.

Palandt/Brudermüller BGB 70 Auf. § 1 GewSchG Rz. 5. MünchKomm/Krüger BGB, 5. Aufl., § 1 GewSchG Rz. 14). Der abweichenden Auffassung (Schumacher FamRZ 2002, 645 [649]) kann im Hinblick auf § 1 Abs. 3 GewSchG nicht gefolgt werden. Die in § 1 Abs. 3 GewSchG in Anlehnung an § 827 Satz 2 BGB ausdrücklich getroffene Regelung, dass Gewaltschutzmaßnahmen auch dann angeordnet werden könnten, wenn sich der Täter durch geistige Getränke oder ähnliche Mittel vorübergehend in einen die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit versetzt hat, wäre überflüssig, wenn der Gesetzgeber anders als im materiellen Deliktsrecht davon ausgegangen wäre, dass es auf die Zurechnungsfähigkeit des Täters nicht ankomme.

2. Es ist davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin bei der Belästigung der Antragstellerin in einem unzurechnungsfähigen Zustand gewesen ist. Der Senat hat in seinem Beschluss vom 6.1.2011 (17 WF 166/10) betreffend die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen das vom AG im einstweiligen Anordnungsverfahren 30 F 432/09 verhängte Ordnungsgeld zur Frage der Zurechnungsfähigkeit der Antragsgegnerin grundlegend bereits das Folgende ausgeführt:

"a) Gemäß § 827 Satz 1 BGB ist die Zurechnungsfähigkeit insbesondere dann ausgeschlossen, wenn sich der Schuldner in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Entscheidend für diese Beurteilung ist es, ob der Schuldner - im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung - noch in der Lage ist, sein Verhalten an vernünftigen Erwägungen auszurichten (vgl. Palandt/Sprau, BGB, 70. Aufl. § 827 Rz. 2. MünchKomm/Wagner BGB, 5. Aufl., § 829 Rz. 9 m.w.N.). Dies dürfte im vorliegenden Fall mehr als zweifelhaft sein. Der Sachverständige Dr. Rutetzki hat bei der Schuldnerin eine chronifizierte schizoaffektive Psychose (ICD10: F 25.0) diagnostiziert. Der Sachverständige geht mit nachvollziehbaren Erwägungen davon aus, dass die Schuldnerin jedenfalls während der Phasen schwerwiegender Krankheitsauslenkungen in wahnartiger Verkennung der Situation davon überzeug...

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