Orientierungssatz

Parallelentscheidung zu dem Urteil des LSG Essen vom 8.3.1999 - L 4 RJ 208/98, das vollständig dokumentiert ist.

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30. Juli 1998 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren.

Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

Streitig ist die Einstellung der Rentenzahlung ab November 1997.

Der am 00.00.1928 in Westpreußen geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger, lebt seit 1961 in Chile und wohnt im Gelände der "Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad" (der sog. Colonia Dignidad - CD). Eine von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Santiago de Chile ausgestellte Lebensbescheinigung datiert vom 19.01.1998.

Der Kläger beantragte am 10.07.1993 die Gewährung von Altersrente. 

Unter Berufung auf § 61 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) wurde er auf Veranlassung der Beklagten von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Santiago de Chile zu einem persönlichen Gespräch in Chillan gebeten. Dieses fand am 19.10.1994 statt. Dabei erklärte der Kläger, er wohne in einer Werkswohnung auf dem Gelände der CD; die Miete werde mit dem Gehalt verrechnet; er sei als Maurer bei der B S.A. tätig; da er über kein eigenes Konto verfüge, solle die Rente per Scheck gezahlt werden; der Scheck werde jeweils von Freunden eingelöst; über die eingelösten Beträge könne er frei verfügen; Abtretungen seien nicht erfolgt und auch nicht beabsichtigt. Mit Bescheid vom 05.05.1995 gewährte ihm die Beklagte für die Zeit ab November 1993 Regelaltersrente (mit einem Betrag von zunächst 510,08 DM).

Ohne Anhörung des Klägers erteilte die Beklagte den Bescheid vom 29.09.1997, durch den sie die Einstellung der mit Bescheid vom 05.05.1995 gewährten Altersrente mit Ablauf des Monats Oktober 1997 verfügte. Dabei berief sich die Beklagte auf die §§ 2 Abs. 2 und 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I. Danach bestehe für den Rentenversicherungsträger eine Obhutspflicht, dafür zu sorgen, daß jeder Berechtigte die ihm vom Gesetz zugedachte Rente auch tatsächlich erhalte und für sich nutzen könne. Aufgrund der in der CD herrschenden Verhältnisse beständen ernsthafte Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger infolge des seitens der Colonie-Führung ausgeübten Zwangs geschäftsunfähig sei, ihm die Zahlungen tatsächlich nicht zuflössen und von ihm nicht in freier Selbstbestimmung genutzt werden könnten. Da ein anderes Mittel nicht genüge, um die genannte Obhutspflicht zu realisieren, sei die Rentenzahlung einzustellen. Dagegen legte der Kläger am 06.10.1997 Widerspruch ein und rügte die fehlende Rechtsgrundlage für das Vorgehen der Beklagten; außerdem sei der angefochtene Bescheid ermessensfehlerhaft bzw. unverhältnismäßig. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.10.1997 zurück und berief sich auf zwei Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22.02.1995 (4 RA 54/93 und 4 RA 44/94, SozR 3-1200 § 66 Nr. 3): Aus dessen Ausführungen lasse sich entnehmen, daß der Sozialversicherungsträger seine Leistungen dann einstellen dürfe, ja sogar müsse, wenn nicht gewährleistet sei, daß die Zahlungen tatsächlich dem Berechtigten zuflössen und von diesem in freier Selbstbestimmung genutzt werden könnten. Denn der ungehinderte Zufluß der Zahlungen sei eine der Voraussetzungen der Leistung. Hier beständen ernsthafte Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger infolge des von der Führung der CD ausgeübten Zwangs geschäftsunfähig sei. Daher sei die LVA aufgrund ihrer vom BSG festgestellten Obhutspflicht gehalten, Rentenzahlungen weiterhin zurückzustellen.

Mit der am 04.11.1997 erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, daß für die Einstellung der Regelaltersrente keine Rechtsgrundlage bestehe und die §§ 2 Abs. 2, 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I keine Pflicht der Sozialleistungsträger begründeten, dafür zu sorgen, daß der Berechtigte die ihm zustehende Leistung auch tatsächlich erhalte. Im übrigen sei das Vorgehen der Beklagten ermessensfehlerhaft.

Die Beklagte hat sich gegen das Begehren des Klägers gewandt und hält die angefochtenen Bescheide weiterhin für zutreffend.

Dem Antrag des Klägers folgend hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 30.07.1998 den Bescheid vom 29.09.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.1997 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die seit 01.11.1997 eingestellte Rentenzahlung wieder aufzunehmen und dem Kläger die Rente auszuzahlen. Zur Begründung hat das SG.im wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei zulässig. Hinsichtlich der Prozeßfähigkeit des Klägers beständen keine Bedenken. Die Beklagte selbst habe den Kläger bisher als geschäftsfähig behandelt. Im übrigen sei bei allen Bedenken gegen die fragwürdigen. und wohl auch totalitären Verhältnisse in der CD mit dem 18. Senat des erkennenden Landessozialgerichts (Urteil vom 30.01.1996, L 18 J 26/94) darauf hinzuweisen, daß das seiner Natur nach wertneutrale Rentenrecht nicht zur Bekämpfung der CD eingesetzt werden könne. Die...

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