Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstellung der Rentenzahlung an Bewohner der Colonia Dignidad wegen nicht sichergestelltem Zufluß

 

Orientierungssatz

1. Renten aus der gesetzliche Rentenversicherung wegen fehlender Mitwirkung des Leistungsberechtigten (hier: Bewohner der Colonia Dignidad in Chile) zu entziehen, ist möglich, wenn die Voraussetzungen des § 66 SGB 1 eingehalten werden (vgl BSG vom 22.2.1995 - 4 RA 44/94 = BSGE 76, 16 = SozR 3-1200 § 66 Nr 3 und LSG Essen vom 18.10.1996 - L 4 J 32/92, entgegen LSG Essen vom 30.1.1996 - L 18 J 26/94).

2. Weder § 2 Abs 2 (Auslegungsregel der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte) noch § 17 Abs 1 Nr 1 SGB 1 (Pflicht des Leistungsträgers, darauf hinzuwirken, daß jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und schnell erhält) enthalten auch nur ansatzweise nach Wortlaut, Sinn oder systematischer Stellung eine mit Leistungsentzug im Sinnzusammenhang stehende Regelung.

 

Tatbestand

Streitig ist die Einstellung der Rentenzahlung ab November 1997.

Die 1928 in Pommern geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige, lebt seit 1962 in Chile und wohnt im Gelände der "Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad" (der sog. Colonia Dignidad -- CD). Eine von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Santiago de Chile ausgestellte Lebensbescheinigung datiert vom 23.02.1998.

Die Klägerin begehrte am 02.04.1993 die Gewährung von Altersrente. Unter Berufung auf § 61 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) wurde sie auf Veranlassung der Beklagten von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Santiago zu einem persönlichen Gespräch gebeten. Dieses fand am 19.10.1994 statt. Dabei bestritt die Klägerin die gegenüber der CD in der Öffentlichkeit erhobenen Vorwürfe; da sie über kein eigenes Konto verfüge, solle die Rente per Scheck gezahlt werden; der Scheck werde jeweils von einem Bekannten eingelöst, da dieser öfter in S sei; über den eingelösten Betrag werde sie frei verfügen; Abtretungen seien nicht erfolgt; sie lebe z.Z. von ihrem Arbeitseinkommen als Schneiderin; die Höhe des Gehaltes sei ihr nicht bekannt. Mit Bescheid vom 28.04.1995 gewährte ihr die Beklagte für die Zeit ab Oktober 1993 Regelaltersrente (mit einem Betrag für z.B. November 1997 von 322,55 DM.

Ohne Anhörung der Klägerin erteilte die Beklagte den Bescheid vom 29.09.1997, durch den sie die Einstellung der mit Bescheid vom 28.04.1995 gewährten Altersrente mit Ablauf des Monats Oktober 1997 verfügte. Dabei berief sich die Beklagte auf die §§ 2 Abs. 2 und 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I. Danach bestehe für den Rentenversicherungsträger eine Obhutspflicht, dafür zu sorgen, daß jeder Berechtigte die ihm vom Gesetz zugedachte Rente auch tatsächlich erhalte und für sich nutzen könne. Aufgrund der in der CD herrschenden Verhältnisse beständen ernsthafte Anhaltspunkte dafür, daß die Klägerin infolge des seitens der Colonie-Führung ausgeübten Zwangs geschäftsunfähig sei, ihr die Zahlungen tatsächlich nicht zuflössen und von ihr nicht in freier Selbstbestimmung genutzt werden könnten. Da ein anderes Mittel nicht genüge, um die genannte Obhutspflicht zu realisieren, sei die Rentenzahlung einzustellen. Dagegen legte die Klägerin am 02.10.1997 Widerspruch ein und rügte die fehlende Rechtsgrundlage für das Vorgehen der Beklagten; außerdem sei der angefochtene Bescheid ermessensfehlerhaft bzw. unverhältnismäßig. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.10.1997 zurück und berief sich auf zwei Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22.02.95 (4 RA 54/93 und 4 RA 44/94, SozR 3-1200 § 66 Nr. 3): Aus dessen Ausführungen lasse sich entnehmen, daß der Sozialversicherungsträger seine Leistungen dann einstellen dürfe, ja sogar müsse, wenn nicht gewährleistet sei, daß die Zahlungen tatsächlich dem Berechtigten zuflössen und von diesem in freier Selbstbestimmung genutzt werden könnten. Denn der ungehinderte Zufluß der Zahlungen sei eine der Voraussetzungen der Leistung. Hier beständen ernsthafte Anhaltspunkte dafür, daß die Klägerin infolge des von der Führung der CD ausgeübten Zwangs geschäftsunfähig sei. Daher sei die LVA aufgrund ihrer vom BSG festgestellten Obhutspflicht gehalten, Rentenzahlungen weiterhin zurückzustellen.

Mit der am 04.11.97 erhobenen Klage hat die Klägerin erneut vorgetragen, daß für die Einstellung der Regelaltersrente keine Rechtsgrundlage bestehe und die §§ 2 Abs. 2, 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I keine Pflicht der Sozialleistungsträger begründeten, dafür zu sorgen, daß der Berechtigte die ihm zustehende Leistung auch tatsächlich erhalte. Im übrigen sei das Vorgehen der Beklagten ermessensfehlerhaft.

Die Beklagte hat sich gegen das Begehren der Klägerin gewandt und hält die angefochtenen Bescheide weiterhin für zutreffend.

Dem Antrag der Klägerin folgend hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 25.08.1998 den Bescheid vom 29.09.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.1997 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Kläge...

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