Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsweg. Auswahl der Wegstrecke. innerer Zusammenhang mit dem Unternehmen. Umweg zur Familienwohnung

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage des Versicherungsschutzes bei einem Abstecher vom Betriebsweg, um zu Hause Mitteilung von unvorhergesehener dreistündiger Verlängerung der Arbeitszeit zu machen.

 

Orientierungssatz

Wählt der Versicherte für einen Betriebsweg nicht die kürzeste Verbindung, kommt es darauf an, ob nach den Umständen des Einzelfalles auch für den weiteren Weg der innere Zusammenhang mit dem Betriebe gegeben ist (vgl BSG 19.10. 1982 2 RU 52/81 = USK 82210). Als insoweit entscheidender Umstand ist der Beweggrund für die Auswahl einer Wegstrecke anzusehen (vgl BSG 29.1.1959 2 RU 198/56 = SozR Nr 11 zu § 543 RVO aF). Beruht die Wahl des längeren Weges wesentlich auf betriebsbedingten Gründen, so ist der erforderliche Zusammenhang von vornherein gegeben, weil eine rechtlich wesentliche Verknüpfung des Weges mit dem Unternehmen besteht.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 07.12.1983; Aktenzeichen L 3 U 45/83)

SG Mainz (Entscheidung vom 17.02.1983; Aktenzeichen S 3 U 138/82)

 

Tatbestand

Die Beklagte ist im sozialgerichtlichen Verfahren zur Erstattung der Kosten verurteilt worden, welche die Klägerin aus Anlaß eines Verkehrsunfalles des bei der Beklagten gegen Krankheit versicherten I. P. (P.) aufgewendet hat (Sozialgericht -SG- Urteil vom 17. Februar 1983; Landessozialgericht -LSG- Urteil vom 7. Dezember 1983).

P. war bei der Firma R. R., Fleisch und Wurstwaren, in Ma. als Verkaufsfahrer beschäftigt. Am 12. März 1980 gegen 13.00 Uhr beauftragte der zuständige Meister den P. mit einer Fahrt zu dem rund 70 km entfernten Verkaufslager in M.. Auf der gegen 15.00 Uhr angetretenen Rückfahrt von M. nach Ma. bog P. bei L., etwa 10 km vor Ma., von der Bundesautobahn (BAB) auf die Bundesstraße 300 ab, um über diese Straße und die bei G. nach Ma. abzweigende Staatsstraße den Weg zur Betriebsstätte fortzusetzen. Er fuhr über den Abzweig hinaus etwa 1 km in dem Ort G. zu der Wohnung, welche er mit seiner Verlobten und einem gemeinsamen Kind bewohnte. Als Grund für den Abstecher gab P. an, er habe zu Hause Bescheid sagen wollen, daß er ausnahmsweise erst gegen 17.30 Uhr zurückkommen würde. Normalerweise hatte P. um 14.30 Uhr Arbeitsschluß und war gegen 14.45 Uhr zu Hause. Der gesamte Umweg führte zu einer Wegverlängerung von ca 12 km und hätte ca 20 bis 25 Minuten Fahrzeit beansprucht. Auf der Weiterfahrt von der Wohnung verunglückte P. um 15.55 Uhr schwer, bevor er die Staatsstraße nach Ma. erreichte.

Die Klägerin trug die Behandlungskosten. Nachdem P. in einem Fragebogen angegeben hatte, er sei kurz zu Hause gewesen, um Bescheid zu geben, daß und warum er später als sonst heimkommen werde, stellte die Klägerin weitere Leistungen ein, weil sie einen Arbeitsunfall nicht mehr als gegeben ansah. Am 19. August 1981 erteilte sie dem Versicherten einen entsprechenden Bescheid, welcher unangefochten blieb. Die Beklagte lehnte den mit Schreiben vom 29. April 1981 geltend gemachten Erstattungsanspruch in Höhe von 58.106,91 DM ab.

Das SG hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin die entstandenen Kosten nach Kassensätzen zu erstatten, da P. auf einem privaten Interessen dienenden Weg verunglückt sei. Die Berufung der Beklagten hat das LSG zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Unfall des P. habe sich weder auf einem Betriebsweg noch auf einem Heimweg ereignet. Daher habe die Beklagte die Kosten der Klägerin gem § 105 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) zu erstatten. Ein gem § 548 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherter Betriebsweg hätte nur auf der Autobahnstrecke vorgelegen. Zwar sei nicht immer nur die kürzeste Strecke geschützt. Für P. sei aber der Weg vom Auftrag her klar vorgezeichnet gewesen, nämlich sich der als am bequemsten aufdrängenden BAB zu bedienen. Der Weg über die Bundes- und Landesstraße mit einer Wegverlängerung um ca 12 km wäre nur dann geschützt gewesen, wenn er aufgrund betriebsnützlicher Erwägungen unternommen worden wäre. Die Behauptung des P. in seiner Erklärung vom 9. Februar 1983, er habe die Autobahn auch verlassen, um Verkehrsstauungen auszuweichen, sei durch die suggestiv anmutenden Formulierungen in dem Fragebogen der Beklagten zustandegekommen. Hätte dieser Gesichtspunkt eine ähnlich starke Rolle wie die Benachrichtigung seiner Verlobten gespielt, so hätte er ihn schon in seinen Antworten vom 25. März 1981 auf dem Fragebogen der Beklagten erwähnt. Seine Erklärung beinhalte somit nicht, daß er den Umweg aus verkehrstechnischen Gründen habe machen müssen, sondern nur den abstrakten Gedanken, daß ein solcher Umweg bei eventuellen Fahrzeugstaus auf der Autobahn zweckmäßig gewesen wäre.

Auch ein Wegeunfall gem § 550 RVO könne nicht festgestellt werden. Zwar könnten mehrere Heimfahrten pro Tag versichert sein, so bei betrieblich zugelassenen Arbeitspausen. Unverzichtbare Voraussetzung für einen solchen zusätzlichen geschützten Weg sei die arbeitsvertragliche Rechtmäßigkeit, die ua bei vorheriger Erlaubnis durch den Arbeitgeber gegeben sein könne. Eine solche Erlaubnis habe P. aber nicht eingeholt. Auch habe er nicht vergeblich versucht, seine Verlobte telefonisch von der Verspätung zu benachrichtigen.

Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO. Sie ist der Ansicht, daß der Weg, den der Verletzte eingeschlagen hatte, auch aus betrieblichen Gründen unternommen worden sei. Zwar sei die Benachrichtigung der privaten Sphäre des Verletzten zuzuordnen gewesen, die Ursache dafür sei aber der betriebsbedingte Ablauf am Unfalltag gewesen.

Es habe für P. auch keine Notwendigkeit bestanden, seiner Verlobten telefonisch Bescheid zu geben. Es müsse ihm im Rahmen einer gewissen Bandbreite freigestellt sein, wie er eine Nachricht weitergeben wolle. Zudem sei es ohnehin zweckmäßig gewesen, die Autobahn zu verlassen, da zu dieser Zeit wegen Baustellen mit Stauungen zu rechnen gewesen sei. Damit habe P. eine gemischte Tätigkeit unternommen. Das LSG habe somit nicht ausreichend gewürdigt, daß nicht nur private Interessen des Verletzten für sein Handeln maßgebend gewesen seien.

Die Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. Dezember 1983 und des Sozialgerichts Mainz vom 17. Februar 1983 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend. Die Benachrichtigung anderer Personen von einer betriebsbedingten Verspätung sei nicht versichert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Senat ist, anders als das SG und LSG, der Auffassung, daß P. einen Arbeitsunfall erlitten hat. Die Klägerin hat somit die Leistungen für den Unfall des P. als zuständiger Leistungsträger erbracht; ein Erstattungsanspruch gegen die Beklagte gem § 105 SGB X ist daher nicht gegeben.

Der Versicherungsschutz für P. ergibt sich aus § 539 Abs 1 Nr 1 RVO iVm § 548 Abs 1 RVO. P. befand sich im Unfallzeitpunkt auf einem Betriebsweg, obwohl er auf dem Rückweg zur Betriebsstätte seine Wohnung aufsuchte und dabei verunglückte. Betriebswege werden im Unterschied zu den Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit in unmittelbarem Betriebsinteresse unternommen; sie gehen der versicherten Tätigkeit nicht lediglich voran bzw schließen sich ihr nicht lediglich an. Sie gehören vielmehr zu den in § 548 RVO aufgeführten versicherten Tätigkeiten; sie sind daher Teil der versicherten Tätigkeit (s ua BSGE 47, 254, 256; 51, 257, 258/259 und die Urteile des Senats vom 26. April 1973 - 2 RU 12/71 -, 11. Februar 1981 - 2 RU 87/79 -, 31. August 1983 - 2 RU 31/82 - und 31. Januar 1984 - 2 RU 15/83; ferner Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 481q mwN; Gitter in SGB-Sozialversicherung-Gesamtkommentar, § 548 Anm 26; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 65; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 085 S 1). P. war von seiner Arbeitgeberin zu der Fahrt nach M. beauftragt worden. Er befand sich auf der Rückfahrt zur Betriebsstätte, als sich der Unfall ereignete. Auch der Weg zu seiner Wohnung gehörte zum Betriebsweg des P.

Dem Versicherungsschutz nach § 548 Abs 1 RVO steht nicht entgegen, daß P. die Rückfahrt nicht ausschließlich auf der BAB, der kürzesten Wegstrecke, zurücklegte, sondern bei L. auf die Bundesstraße 300 abbog, um die Fahrt über seine Wohnung in G. fortzusetzen. Durch den Abstecher von ca 1 km nach G. zur Wohnung wurde die Betriebsfahrt nicht unterbrochen. Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung zum Versicherungsschutz auf Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 RVO) entschieden, daß der Versicherte in der Wahl des Weges grundsätzlich und weitgehend frei ist (vgl ua BSGE 4, 219, 222; BSG SozR Nr 21 zu § 543 RVO aF; BSG SozR 2200 § 550 Nrn 51 und 52). Die zu § 550 RVO entwickelten Grundsätze sind zwar nicht uneingeschränkt für den Versicherungsschutz auf Betriebswegen anwendbar (vgl BSG SozR RVO § 548 Nr 7; BSGE 50, 100, 103; BSG Urteil vom 31. Januar 1984 - 2 RU 15/83 -; Brackmann, aaO S 481s). Der Senat hat jedoch bereits entschieden, daß die Auswahl der Wegstrecken bei einer Betriebsfahrt in der Entscheidungsbefugnis des Versicherten liegen kann, ohne daß insoweit eine Erlaubnis von seiten des Unternehmens eingeholt oder erteilt ist (BSG Urteil vom 31. Januar 1984 - 2 RU 15/82 -). Dabei ist auf die besonderen Verhältnisse des Einzelfalles abzustellen.

Das LSG nimmt zu Unrecht an, daß trotz der Besonderheit des vorliegenden Sachverhalts lediglich der Weg auf der Autobahn versicherungsrechtlich geschützt war. Kürze und Bequemlichkeit eines Weges bedeuten nach der Überzeugung des Senats allein noch nicht, daß der Versicherte nur diese Wegstrecke befahren darf, zumal wenn, wie das LSG hier festgestellt hat, den Verkaufsfahrern des Unternehmens die Wahl der Fahrtroute weitgehend offensteht. Die Wahl des weiteren Weges stellt nach den zu § 550 RVO entwickelten und wegen der insoweit versicherungsrechtlich gleichen Interessenlage auch für Betriebswege iSd § 548 RVO entsprechend anwendbaren Grundsätzen den Versicherungsschutz nur in Frage, wenn für diese Wahl andere Gründe maßgebend waren als die Absicht, den Ort der Tätigkeit oder die Betriebsstätte zu erreichen, und wenn die dadurch bedingte Verlängerung unter Berücksichtigung aller Umstände als erheblich anzusehen ist (vgl BSGE 4, 219, 222; Urteil vom 31. Januar 1984 aa0). Wählt der Versicherte nicht die kürzeste Verbindung, kommt es darauf an, ob nach den Umständen des Einzelfalles auch für den weiteren Weg der innere Zusammenhang mit dem Betriebe gegeben ist (vgl die Urteile des Senats vom 30. März 1982 - 2 RU 5/81 = USK 8299; Urteil vom 19. Oktober 1982 - 2 RU 52/81 -). Als insoweit entscheidenden Umstand hat der Senat schon früh den Beweggrund für die Auswahl einer Wegstrecke angesehen (SozR Nr 11 zu § 543 RVO aF); er hat an dieser Rechtsprechung festgehalten (SozR 2200 § 550 Nr 25; Urteil vom 30. März 1982, aa0; Urteil vom 19. Oktober 1982 aa0). Beruht die Wahl des längeren Weges wesentlich auf betriebsbedingten Gründen, so ist der erforderliche Zusammenhang von vornherein gegeben, weil eine rechtlich wesentliche Verknüpfung des Weges mit dem Unternehmen besteht. So liegen die Dinge hier.

SG und LSG haben nicht ausreichend berücksichtigt, daß der von P. gewählte Weg infolge der ungewöhnlichen und allein durch das Unternehmen bestimmten Arbeitszeitgestaltung am Unfalltage bedingt war und er den Weg eingeschlagen hat, um seine Lebensgefährtin und das gemeinsame Kind von der dadurch herbeigeführten unvorhergesehenen Verzögerung der Rückkehr der Arbeit um ca drei Stunden zu unterrichten. Damit beruhte die Fahrt über G.  wesentlich auf betriebsbedingten Gründen. Diese dürfen nicht unberücksichtigt bleiben, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, ob ein Versicherter einen Unfall bei einer betrieblichen Tätigkeit (§ 548 RVO) erlitten hat.

Die unvorhergesehene Verlängerung seiner Arbeitszeit und die damit verbundene Verzögerung der Heimkehr um ca 3 Stunden erweckte in P. den berechtigten Wunsch, seine Lebensgefährtin zu benachrichtigen, damit sie sich nicht um ihn sorgte. Zwar lag diese Benachrichtigung auch im Interesse des P. und der genannten anderen Personen. Jedoch war sie auch wesentlich durch betriebsbedingte Umstände veranlaßt, so daß der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur sog gemischten Tätigkeit nicht verlorenging. Darüber hinaus nimmt das LSG zu Unrecht an, der Fahrt des P. zu seiner Wohnung habe "die arbeitsvertragliche Rechtmäßigkeit" gefehlt (Seite 9; s auch Brackmann, aaO, S 480 n I und 485 d). Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat vielmehr entschieden, daß ein Umweg, den ein Arbeitnehmer unter den Umständen des vorliegenden Falles unternimmt, Betriebstätigkeit ist, wenn der Weg sich - wie hier bei einer Gesamtstrecke von rund 140 km - in einem angemessenen Rahmen hält (BAG Urteil vom 21. Oktober 1983 - 7 AZR 488/80 - MDR 84, 785 = NZA 1984, 83 = ARSt 1984, 138; Leitsätze in NJW 1984, 2488).

P. war versichert, als er den insgesamt etwa 12 km längeren, die Fahrzeit um ca 20 bis 25 Minuten verlängernden Weg über die Bundes- und Staatsstraße einschlug, um seine Lebensgefährtin und das gemeinsame Kind von der betriebsbedingten und plötzlichen Verspätung in Kenntnis zu setzen. Die Klägerin hat keinen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte. Die Klage war abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664572

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