Entscheidungsstichwort (Thema)

Lösung vom Betrieb bei Betriebswegen

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Versicherungsschutz auf einem Betriebsweg, wenn dem Rückweg eine private Betätigung vorangegangen ist.

 

Orientierungssatz

Bei Betriebswegen gelten die für den Wegeunfall entwickelten Grundsätze der Lösung vom Betrieb nicht uneingeschränkt. Auch ein dreistündiges privates Gespräch bewirkt nicht, daß die anschließende Fahrt bei natürlicher Betrachtung nach der Verkehrsanschauung nicht mehr als betriebliche Tätigkeit angesehen werden könnte.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 16.03.1982; Aktenzeichen L 3 U 207/81)

SG Stade (Entscheidung vom 21.08.1981; Aktenzeichen S 7 U 137/80)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenentschädigung aus der Unfallversicherung nach ihrem am 4. August 1979 tödlich verunglückten Ehemann W. H.. Über die näheren Umstände des Unfalls enthält das mit der Revision angefochtene Urteil des Landessozialgerichts (LSG) folgende tatsächliche Feststellungen:

"Der Verunglückte war als Polier und Zimmermann bei dem Bauunternehmen K. L., B., beschäftigt. Er hatte geplant, am Montag, dem 6. August 1979, in den Urlaub zu fahren. Auf Bitten des Bruders des Arbeitgebers, W. L., der zu dem Zeitpunkt den Betrieb führte, verschob er jedoch den Urlaub aus dringenden betrieblichen Gründen, weil er auf der Baustelle "Zum weißen Stein" benötigt wurde. Am Freitagmorgen, dem 3. August 1979, wurde er von W. L. aufgefordert, ihn abends gegen 20.oo Uhr zu Hause aufzusuchen, um die Einzelheiten des Bauvorhabens zu besprechen. Da sich die Familie L. und H. bereits länger kannten, wurde verabredet, daß der Verunglückte seine Ehefrau, die Klägerin, mitbringen sollte, damit diese sich das neue Haus des W. L. ansehen konnte.

Am Abend des 3. August 1979 fuhr der Verunglückte mit der Klägerin in seinem Pkw von seiner Wohnung in L.-N., B.6, los. Nach der Ankunft im Haus der Familie L. in Ne., I. D.22, setzten sich die beiden Männer sofort in das Fernsehzimmer und begannen mit der dienstlichen Besprechung. Währenddessen unterhielt sich die Klägerin mit Frau D. L.. Die beiden Ehepaare nahmen dann gemeinsam einen Imbiß zu sich. Danach setzten die beiden Männer die Besprechung fort. Nach Beendigung der dienstlichen Besprechung setzten sich die beiden Ehepaare wieder zusammen. Zwischen 1.oo Uhr und 2.oo Uhr morgens brach der Verunglückte mit seiner Ehefrau auf. Während des ganzen Abends hatte er etwa zwei kleine Flaschen Bier getrunken. Etwa gegen 2.25 Uhr verunglückte er auf der Landstraße, km 10,2, als er auf gerader Straße nach links von der Fahrbahn abkam und frontal gegen einen Baum prallte. Er verstarb noch an der Unfallstelle. Fremdverschulden war nicht festzustellen. Eine Blutalkoholbestimmung wurde nicht vorgenommen. Die Unfallursache blieb ungeklärt. Der Verunglückte hatte sich auf dem direkten Weg von dem Haus des W. L. zu seiner Wohnung befunden."

Die Beklagte lehnte eine Entschädigung ab, da der Unfall kein Arbeitsunfall gewesen sei. Nach Abschluß der dienstlichen Besprechung seien die Eheleute mehr als 2 1/2 Stunden privat bei den Eheleuten L. verblieben (23.20 bis 2.00 Uhr). Hierdurch sei eine endgültige Lösung von der betrieblichen Tätigkeit eingetreten, so daß auf dem Heimweg kein Versicherungsschutz bestanden habe (Bescheid vom 20. Juni 1980 und Widerspruchsbescheid vom 5. August 1980).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte dem Antrag der Klägerin entsprechend verurteilt, der Klägerin Sterbegeld, Überbrückungshilfe und Witwenrente zu gewähren (Urteil vom 21. August 1981). Das LSG hat die Berufung der Beklagten verworfen, soweit Überbrückungshilfe und Sterbegeld im Streit ist. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 16. März 1982). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Der tödliche Unfall des Ehemannes der Klägerin sei ein Arbeitsunfall. Allerdings habe kein Versicherungsschutz nach § 55O Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO(Wegeunfall) bestanden. Der Zusammenhang des Weges mit der versicherten Tätigkeit sei grundsätzlich gelöst, wenn der Weg aus Gründen, die dem privaten Bereich zuzurechnen seien, um mehr als zwei Stunden verzögert angetreten werde. Nach Ausschöpfung aller Beweismittel könne nicht mehr geklärt werden, ob der Ehemann der Klägerin vor Ablauf von zwei Stunden nach Beendigung des - mindestens etwa zweistündigen - Dienstgesprächs den Heimweg begonnen habe. Die Ungewißheit über den Kausalzusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und Heimweg gehe zu Lasten der Klägerin. Der Ehemann der Klägerin sei jedoch nach § 548 Abs 1 RVO versichert gewesen. Er habe sich im Zeitpunkt des Unfalls auf einem Betriebsweg befunden, der - anders als das Zurücklegen eines Weges nach § 550 RVO - ein Teil der versicherten Tätigkeit sei. Der Weg von der Wohnung zur dienstlichen Besprechung im Hause des Maurermeisters L., die Teilnahme an der Besprechung sowie auch die Rückfahrt zur eigenen Wohnung gehörten zur versicherten Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin. Der Aufenthalt im Hause L. lasse sich zwar in einen versicherten und einen privaten Zwecken dienenden unversicherten Teil zerlegen. Hin- und Rückfahrt hätten jedoch insgesamt als gemischte Tätigkeit wesentlich auch den Interessen des Unternehmens gedient. Denn die Besprechung habe immerhin mindestens etwa zwei Stunden gedauert, sei dringend erforderlich und unaufschiebbar gewesen, da die Arbeit der nächsten Woche besprochen werden sollte und andere Führungskräfte wegen der Urlaubszeit nicht vorhanden gewesen seien. Der während der privaten Gespräche im Anschluß an die Besprechung unterbrochene Versicherungsschutz sei mit dem Antritt der Heimfahrt wieder aufgelebt. Dem stehe die Dauer der Unterbrechung nicht entgegen, da die für den Wegeunfall entwickelten Grundsätze der Lösung vom Betrieb insoweit für Betriebswege nicht uneingeschränkt gälten. Anhaltspunkte dafür, daß der Unfall rechtlich allein wesentlich durch Alkoholeinfluß oder durch eine nicht betriebsbedingte Übermüdung verursacht worden sei, lägen nicht vor.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie trägt vor: Das LSG sei - irrtümlich oder bewußt - von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen, nach der nur eine bis zu zwei Stunden dauernde private Betätigung nach Beendigung der versicherten Tätigkeit den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO auf einem verspätet angetretenen Heimweg nicht ausschließe. Das LSG habe insoweit keine tatsächlichen Feststellungen darüber getroffen, ob nicht der private Aufenthalt des Ehemannes der Klägerin nach Beendigung der betrieblichen Besprechung länger als zwei Stunden gedauert habe. Unrichtig sei auch die Auffassung des LSG, daß sich der Ehemann der Klägerin bei der Rückfahrt auf einem Betriebsweg befunden habe. Die geschäftliche Besprechung sei ausschließlich aus privaten Gründen aus den Betriebsräumen in das Privathaus des W. L. verlegt worden. Der Weg nach und von diesem Haus könne deshalb nicht anders beurteilt werden als ein Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs 1 RVO). Aufgrund der ersten Angaben der an der Zusammenkunft Beteiligten hätte das LSG zu dem Ergebnis kommen müssen, daß wegen der Verlängerung des Aufenthalts durch ein privates Beisammensein von drei Stunden auf dem anschließenden Heimweg kein Versicherungsschutz bestanden habe. Darüber hinaus hätte das LSG klären müssen, ob etwa wegen einer Abneigung gegen Alkohol oder wegen eines Leberleidens der Genuß von zwei Flaschen Bier die Fahrweise des Ehemannes der Klägerin entscheidend beeinflußt worden sei.

Die Beklagte beantragt, die Urteile des LSG und des SG zu ändern und die Klage abzuweisen, soweit sie zur Gewährung von Witwenrente verurteilt worden ist.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Der im Revisionsverfahren allein noch streitige Anspruch auf eine Witwenrente hängt davon ab, ob der tödliche Unfall des Ehemannes der Klägerin ein Arbeitsunfall war (§§ 589 Abs 1 Nr 3, 590, 548, 550 RVO). Das LSG hat diese Voraussetzung zutreffend mit der Begründung bejaht, daß sich der Ehemann der Klägerin im Unfallzeitpunkt auf einem Betriebsweg befunden und deshalb nach § 539 Abs 1 iVm § 548 Abs 1 Satz 1 RVO unter Versicherungsschutz gestanden hat.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist der Ehemann der Klägerin auf der Fahrt nach seiner Wohnung in L.-N. (nördlich von B.) verunglückt, nachdem er zuvor als Polier und Zimmermann des Bauunternehmens K. L., B., nach Aufforderung des damaligen Leiters des Betriebes, W. L., mit diesem in dessen Wohnhaus in Ne. (südlich von B.) eine Besprechung über die in der folgenden Woche im Betrieb zu erledigenden Arbeiten geführt hatte. Unter Berücksichtigung auch der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts ereignete sich der Unfall bei Verrichtung der versicherten Tätigkeit und ist deshalb - in unmittelbarer Anwendung des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO - ein Arbeitsunfall.

Für die Berechnung und die Höhe der Leistungsansprüche eines Verletzten und seiner Hinterbliebenen ist es zwar - anders als zB hinsichtlich der Auferlegung von Beitragszuschlägen für den Unternehmer (s § 725 Abs 2 Satz 2 RVO) - ohne Bedeutung, ob ein Wegeunfall (§ 550 RVO) vorgelegen hat oder die Voraussetzungen des § 548 RVO unmittelbar gegeben sind. Auf die Unterscheidung zwischen dem Betriebsweg und dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit kann es jedoch ankommen, wenn - wie im vorliegenden Fall - streitig ist, ob nach einer Unterbrechung der versicherten Tätigkeit durch private Verrichtungen eine endgültige Lösung des betrieblichen Zusammenhangs eingetreten ist. Da ein Betriebsweg, dh ein Weg, der in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt wird, Teil der versicherten Tätigkeit ist und damit der Betriebsarbeit gleichsteht (s BSG, Urteile vom 26. April 1973 - 2 RU 12/71 - und vom 11. Februar 1981 - 2 RU 87/79 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S 481 p mwN), sind auf ihn die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Lösung vom Betrieb auf Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 RVO) nicht uneingeschränkt anzuwenden (s Brackmann aaO S 481 r mN aus der Rechtsprechung).

Das folgt daraus, daß Betriebswege im Unterschied zu den Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit im unmittelbaren Betriebsinteresse unternommen werden und nicht lediglich der versicherten Tätigkeit vorangehen oder sich ihr anschließen (BSG, Urteile vom 26. April 1973 und 11. Februar 1981 aaO). Trotz der klaren Trennung zwischen dem zur versicherten Tätigkeit gehörenden Betriebsweg und dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit ist die Grenzziehung im Einzelfall schwierig, wenn nicht ohne weiteres ersichtlich ist, ob schon mit der Zurücklegung des Weges die versicherte Tätigkeit begonnen bzw damit beendet worden ist oder ob der Weg lediglich der Aufnahme oder der Rückkehr von der betrieblichen Tätigkeit diente (s BSG, Urteil vom 11. Februar 1981 - 2 RU 87/79 -). Aufgrund des sich aus der Berücksichtigung aller Umstände ergebenden Gesamtbildes über Inhalt und Zweck der dem Ehemann der Klägerin im Interesse des Unternehmens übertragenen Aufgabe hat das LSG zutreffend gefolgert, daß nicht nur die im betrieblichen Interesse angeordnete Besprechung im Hause des damaligen Betriebsleiters, sondern auch die hierzu erforderlichen Fahrten im unmittelbaren Betriebsinteresse lagen und deshalb Hin- und Rückweg als Betriebswege zur versicherten Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin gehörten. Aus dringenden betrieblichen Gründen hatte der Ehemann der Klägerin seinen Urlaub verschoben. Er war, nachdem er seine gewöhnliche Arbeit am "Ort der Tätigkeit" bereits geleistet hatte, am Freitagabend im Auftrag des damaligen Betriebsleiters zu der dienstlichen Besprechung gefahren, die dringend erforderlich und im Hinblick auf die in der folgenden Woche zu erledigenden Arbeiten auch unaufschiebbar war. Die außerhalb der normalen Arbeitszeit zusätzlich verrichtete versicherte Tätigkeit an einem anderen Ort als der Betriebsstätte erforderte vom Ehemann der Klägerin die Zurücklegung von Wegen, die sich von dem üblichen Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit erheblich unterschieden. Nach der Lage des Falles standen der Hin- und Rückweg somit in unmittelbarem betrieblichen Interesse, so daß sie als Betriebswege anzusehen sind.

Wie das LSG zutreffend angenommen hat, steht dem Versicherungsschutz nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO nicht entgegen, daß die Klägerin, der bei dieser Gelegenheit das neue Haus des Betriebsleiters gezeigt werden sollte, verabredungsgemäß mitgefahren ist und im Anschluß an die betriebliche Besprechung noch private Gespräche möglicherweise mehr als zwei Stunden lang geführt worden sind. Ungeachtet des teilweise privaten Charakters der Fahrt lag diese nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG jedenfalls wesentlich auch im betrieblichen Interesse, so daß sie unter dem Gesichtspunkt der gemischten Tätigkeit gleichwohl als Betriebsfahrt anzusehen ist (s Brackmann aaO S 481 p, q mN). Durch die private Unterhaltung mit den Eheleuten L. war zwar die versicherte Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin zeitweise unterbrochen, nicht jedoch endgültig beendet. Es kann dahinstehen, ob das private Beisammensein, wie die Revision meint, drei Stunden gedauert hat. Denn mit dem Antritt des Rückweges setzte der Ehemann der Klägerin die vorher unterbrochene versicherte Tätigkeit fort und stand deshalb nach § 539 Abs 1 Nr 1 iVm § 548 RVO unter Versicherungsschutz. Wie ausgeführt, gelten bei Betriebswegen die für den Wegeunfall entwickelten Grundsätze der Lösung vom Betrieb nicht uneingeschränkt. Auch ein dreistündiges privates Gespräch bewirkte nicht, daß die anschließende Fahrt bei natürlicher Betrachtung nach der Verkehrsanschauung nicht mehr als betriebliche Tätigkeit angesehen werden könnte (s Brackmann aaO S 481 r mN). Die aufgezeigten Besonderheiten des Falles, zu denen auch der Umstand gehört, daß es sich bei dem Gesprächspartner des Ehemannes der Klägerin um dessen Vorgesetzten handelte, rechtfertigen es nicht, anders als sonst für Betriebswege hier eine feste Zeitgrenze von zwei Stunden anzuwenden, wie sie in der Rechtsprechung für Wege von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 RVO) entwickelt worden ist (s BSG SozR 2200 § 550 Nrn 12, 27, 42).

Gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG, nach denen kein Anhalt für eine rechtlich allein wesentliche Verursachung des Unfalls durch alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit oder nichtbetriebsbedingte Übermüdung des Ehemannes der Klägerin besteht, sind von der Revision keine durchgreifenden Verfahrensrügen erhoben worden (§ 170 Abs 3 Satz 1 SGG).

Die Revision ist danach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Breith. 1984, 200

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