Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsweg. private Tätigkeit. Unterbrechung. Wiederaufleben des Versicherungsschutzes

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Versicherungsschutz auf einem Betriebsweg, wenn dem Rückweg eine private Tätigkeit vorangegangen ist (Klarstellung von BSG 31.8.1983 2 RU 31/82 = SozR 2200 § 548 Nr 63).

 

Orientierungssatz

Bei Betriebswegen lebt auch nach einer länger als zwei Stunden dauernden Unterbrechung durch eigenwirtschaftliche Verrichtungen der Versicherungsschutz grundsätzlich wieder auf.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 30.11.1983; Aktenzeichen L 17 U 40/82)

SG Dortmund (Entscheidung vom 04.02.1982; Aktenzeichen S 21 U 61/80)

 

Tatbestand

Die Klägerin ist die Witwe des am 10. Oktober 1974 an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorbenen T. D..

Der Ehemann der Klägerin war als Bauleiter bei der LEG beschäftigt. Am Unfalltag hatte er Außendienst und war mit Bauleitungsmaßnahmen auf einer Baustelle in H. tätig. Vor dem offiziellen Dienstschluß um 16.30 Uhr suchte er gegen 15.00 Uhr mit drei anderen auf der Baustelle Tätigen eine nahegelegene Gaststätte auf, um etwas zu essen und zu trinken, weil keine Mittagspause gemacht worden war. Nachdem die drei anderen Personen die Gaststätte gegen 16.00 Uhr verlassen hatten, hielt sich der Ehemann der Klägerin dort noch weiter auf und trat die Fahrt nach Hause mit seinem Kraftwagen zwischen 17.40 Uhr und 17.50 Uhr an. Kurz vor 18.00 Uhr ereignete sich der tödliche Unfall. Durch Bescheid vom 25. Juni 1976 lehnte der Beklagte Entschädigungsansprüche der Klägerin ab. Durch den mehrstündigen Besuch der Gaststätte, der eigenwirtschaftlichen Zwecken gedient habe, sei der Zusammenhang mit der Tätigkeit bei der LEG gelöst worden, so daß der anschließende Weg nach Hause nicht mehr als versicherter direkter Weg von der Arbeitsstätte nach Hause angesehen werden könne.

Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat den Beklagten verurteilt, unter Anerkennung des Unfalls des Ehemannes der Klägerin vom 10. Oktober 1974 als entschädigungspflichtigen Wegeunfall Witwenrente, Sterbegeld und Überbrückungshilfe zu leisten (Urteil vom 4. Februar 1982). Auf die gegen die Verurteilung zur Gewährung von Witwenrente gerichtete Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen das erstinstanzliche Urteil insoweit aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. November 1983). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Der Aufenthalt des Ehemannes der Klägerin in der Gastwirtschaft von 2 3/4 Stunden Dauer sei eine private Verrichtung gewesen. Das betreffe sowohl die Nahrungsaufnahme als auch die dabei geführten Gespräche mit den drei Personen, die ihn begleitet und sich gegen 16.00 Uhr entfernt hatten. Bei dem vom Ehemann der Klägerin zwischen 17.40 Uhr und 17.50 Uhr angetretenen Weg nach Hause habe kein Versicherungsschutz mehr bestanden. Zwar habe der Ehemann der Klägerin sich am Unfalltag auf einem Betriebsweg befunden, bei dem die von der Rechtsprechung für Wege vom Ort der Tätigkeit entwickelten Grundsätze der Lösung vom Betrieb nicht uneingeschränkt gelten. Jedoch sei dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31. August 1983 - 2 RU 31/82 - (SozR 2200 § 548 Nr 63) zu entnehmen, daß auch bei Betriebswegen nach einer länger als zwei Stunden dauernden Unterbrechung des Weges durch private Verrichtungen eine endgültige Lösung vom Betrieb eintrete, wenn nicht besondere Umstände vorliegen, die die anschließende Fortsetzung des Weges bei natürlicher Betrachtungsweise noch als Betriebstätigkeit ansehen lassen. Selbst wenn man den Gaststättenbesuch des Ehemannes der Klägerin den Umständen nach als üblich und den Gepflogenheiten entsprechend anzusehen habe, sei für den Ehemann der Klägerin, nachdem seine drei Begleiter die Gaststätte gegen 16.00 Uhr verlassen hatten, kein Grund mehr vorhanden gewesen, den Aufenthalt über zwei Stunden hinaus auszudehnen. Die Aussage eines Zeugen, daß der Ehemann der Klägerin erwähnt habe, noch Karten spielen zu wollen, zeige, daß der weitere Aufenthalt ausschließlich privaten Interessen gedient habe. Infolge der Überschreitung der Zeitgrenze von zwei Stunden sei eine Lösung des Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallweg eingetreten und somit ein Versicherungsschutz zu verneinen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Der Weg ihres Ehemannes nach und von der Baustelle in H sei in Ausübung seiner versicherten Tätigkeit zurückgelegt worden und habe daher der versicherten Tätigkeit gleichgestanden. Das gelte auch für den Besuch der Gaststätte. Dort habe ihr Ehemann nicht nur gegessen, sondern auch dienstliche Gespräche geführt. Mit dem Betreten der Gaststätte habe der Betriebsweg noch nicht geendet. Denn ein Betriebsweg ende nicht nach vorgegebenem Zeitablauf - Büroschluß sei 16.30 Uhr gewesen -, sondern erst nach Erreichung des Zweckes des Betriebsweges und des Ausgangspunktes. Der Zweck des Betriebsweges - fachliche Erörterung von Baumaßnahmen - sei mit dem Betreten der Gaststätte noch nicht erledigt gewesen, auch wenn, wie das LSG ausführe, der Umfang der Fachgespräche bei Tisch so gering gewesen sei, daß eine "gemischte Tätigkeit" nicht angenommen werden könne. Aber auch dann, wenn ihrer Auffassung nicht gefolgt werde, sei keine endgültige Lösung vom Betrieb eingetreten. Zwar sei die Nahrungsaufnahme dem unversicherten Bereich zuzuordnen, jedoch sei der Weg nach dem Ort der Nahrungsaufnahme versichert und der Versicherungsschutz lebe nach der Unterbrechung wieder auf, auch wenn die Unterbrechung mehr als zwei Stunden gedauert habe, denn die für den Wegeunfall entwickelten Grundsätze der "Lösung vom Betrieb" gelten für Betriebswege insoweit nicht uneingeschränkt. Nach dem Urteil des BSG vom 31. August 1983 (aaO) bewirke selbst ein dreistündiges privates Gespräch nicht, daß die anschließende Fahrt nicht mehr als Fortsetzung der betrieblichen Tätigkeit angesehen werden könne. Ihr Ehemann habe daher zur Unfallzeit noch unter Versicherungsschutz gestanden.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des LSG vom 30. November 1983 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 4. Februar 1982 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er trägt vor, daß sich der Ehemann der Klägerin am Unfalltag zwar auf einem Betriebsweg befunden habe. Durch den mehr als zweistündigen Aufenthalt in der Gaststätte aus eigenwirtschaftlichen Gründen sei jedoch eine endgültige Lösung vom Betrieb eingetreten, so daß der Ehemann der Klägerin auf dem später fortgesetzten Weg nach Hause nicht mehr unter Versicherungsschutz gestanden habe. Eine Überschreitung des Zeitraumes von zwei Stunden sei nach dem Urteil des BSG vom 31. August 1983 (aaO) nur dann für den Versicherungsschutz unschädlich, wenn besondere Umstände vorliegen, die das gerechtfertigt erscheinen lassen. Das sei hier jedoch nicht der Fall.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet.

Bei Tod durch Arbeitsunfall ist nach den §§ 589 Abs 1 Nr 3, 590 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Witwenrente zu gewähren. Der Ehemann der Klägerin hat am 10. Oktober 1974 einen Arbeitsunfall erlitten. Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeit erleidet. Der Ehemann der Klägerin befand sich am Tage des Unfalls auf einem mit seiner nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO versicherten Tätigkeit als Bauleiter zusammenhängenden Betriebsweg. Solche Wege sind Teil der versicherten Tätigkeit und stehen daher versicherungsrechtlich der Betriebstätigkeit gleich. Sie unterscheiden sich von Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit iS des § 550 Abs 1 RVO dadurch, daß sie im unmittelbaren Betriebsinteresse zurückgelegt werden und nicht lediglich der versicherten Tätigkeit vorausgehen oder sich ihr anschließen. Für Betriebswege sind daher die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Lösung vom Betrieb auf Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit nicht uneingeschränkt anzuwenden. Das betrifft insbesondere den Grundsatz, daß ein Versicherter, der den Weg von dem Ort der versicherten Tätigkeit um mehr als zwei Stunden durch eine privaten Zwecken dienende Verrichtung unterbricht oder den Antritt des Weges aus dem gleichen Grund um mehr als zwei Stunden hinausschiebt, auf dem anschließenden Weg im allgemeinen nicht mehr unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht (BSG SozR 2200 § 550 Nrn 12, 27 und 42; BSG Urteil vom 15. Dezember 1981 - 2 RU 59/80 - Breith. 1982, 569; vgl auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 481 r und 487 i mwN). Bei Betriebswegen lebt mithin auch nach einer länger als zwei Stunden dauernden Unterbrechung durch eigenwirtschaftliche Verrichtungen der Versicherungsschutz grundsätzlich wieder auf. Daran hat der erkennende Senat auch in seinem vom LSG und den Beteiligten zitierten Urteil vom 31. August 1983 (aaO) festgehalten. Allerdings ist die Auffassung des Senats in diesem Urteil mißverständlich formuliert worden. Der Satz "Die aufgezeigten Besonderheiten des Falles, zu denen auch der Umstand gehört, daß es sich bei dem Gesprächspartner des Ehemannes der Klägerin um den Vorgesetzten handelte, rechtfertigen es nicht, anders als sonst für Betriebswege hier eine feste Zeitgrenze von zwei Stunden anzunehmen, wie sie in der Rechtsprechung für Wege von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 RVO) entwickelt worden ist", erhält seinen vom Senat gewollten Sinn, wenn entweder nach dem Wort "sonst" ein Komma gesetzt wird oder die Worte "anders als sonst" gestrichen werden. Daß längere Unterbrechungen von Betriebswegen aber auch zur endgültigen Lösung von der versicherten Tätigkeit führen können, wenn die Zurücklegung des Weges nach der Unterbrechung zur privaten Häuslichkeit führt, hat der Senat dabei nicht außer Betracht gelassen (BSG SozR Nr 43 zu § 542 RVO; BSG SGb 1969, 15; Brackmann, aaO, S 481 s).

Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, daß der Ehemann der Klägerin in Begleitung von drei anderen auf der Baustelle Tätigen gegen 15.00 Uhr eine nahegelegene Gaststätte aufsuchte, um etwas zu essen und zu trinken, weil bisher noch keine Mittagspause gemacht worden war. Wenn auch die Einnahme des Essens zu den eigenwirtschaftlichen unversicherten Verrichtungen gehört, bewirkte diese Verrichtung, auch wenn sie daran noch Unterhaltungen zwischen dem Ehemann der Klägerin und seinen Begleitern angeschlossen haben, nicht schon den Verlust des Versicherungsschutzes auf dem später angetretenen Weg nach Hause. Solange die drei Begleiter des Ehemannes der Klägerin die Gaststätte noch nicht verlassen hatten - das erfolgte erst gegen 16.00 Uhr - fehlt es jedenfalls an Anzeichen dafür, daß die Beziehungen zur versicherten Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin gegenüber den eigenwirtschaftlichen Verrichtungen soweit in den Hintergrund getreten waren, daß der spätere Weg nach Hause nicht mehr als Teil des Betriebsweges angesehen werden kann. Erst für die Zeit nach 16.00 Uhr, wenn nicht gar erst nach dem offiziellen Dienstschluß um 16.30 Uhr, wäre überhaupt der Eintritt einer Lösung von der versicherten Tätigkeit in Erwägung zu ziehen, wobei es auf die Dauer des weiteren Verweilens des Ehemannes der Klägerin in der Gaststätte bis gegen 17.50 Uhr allein nicht ankommt. Von Bedeutung ist hierfür auch die Art der während des weiteren Verweilens in der Gaststätte ausgeübten Verrichtungen. Nach den Ausführungen des LSG soll der Ehemann der Klägerin einem der drei Begleiter gegenüber (Zeuge R) erwähnt haben, er wolle noch Karten spielen. Ob das tatsächlich der Fall gewesen ist, hat das LSG nicht festgestellt. Es hat aus den Aussagen anderer Zeugen, die den Ehemann der Klägerin noch nach 16.00 Uhr in der Gaststätte gesehen haben (N, T, G) auch nichts über die Verrichtungen des Ehemannes der Klägerin bis zu seinem Weggang gegen 17.50 Uhr entnommen, was darauf schließen ließe, daß die anschließende Fahrt nach Hause nicht mehr als Fortsetzung der betrieblichen Tätigkeit angesehen werden könnte. Unter diesen Umständen kommt dem insgesamt etwa 2 3/4 Stunden dauernden Verweilen in der Gaststätte nicht die Bedeutung einer endgültigen Lösung vom Betrieb zu (vgl BSGE 50, 100; BSG SozR 2200 § 548 Nr 63).

Da der Ehemann der Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat, an dessen Folgen er gestorben ist, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664988

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