Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorleistungspflicht der Krankenkasse bei Körperersatzstücken. Erstattungsanspruch nach § 1504 Abs 1 RVO für Leistungen der Krankenpflege

 

Orientierungssatz

1. Nach Abschluß einer berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung wird bei einer Wiedererkrankung an den Folgen des Arbeitsunfalles über die Notwendigkeit berufsgenossenschaftlicher Heilbehandlung erneut entschieden. Die Krankenkasse ist zunächst wieder vorleistungspflichtig.

2. Eine Wiedererkrankung und keine Fortdauer berufsgenossenschaftlicher Heilbehandlung liegt auch dann vor, wenn bereits bei Abschluß der vorangegangenen berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung abzusehen war, daß in etwa zwei Jahren die Unfallfolgen erneut eine Behandlungsbedürftigkeit verursachen würden. Gleiches gilt für die Krankenpflege iS des § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c RVO.

3. Die Ausstattung mit Körperersatzstücken ist eine Leistung, die mit der "Lieferung" - im Falle der Erstausstattung in der Regel in doppelter Zahl erfüllt ist. Hieran ändert nichts, daß bei vielen Körperersatzstücken von vornherein nur eine begrenzte Gebrauchsdauer besteht und die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung davon ausgehen, daß Kunstaugen im allgemeinen nur ein bis zwei Jahre verwendet werden können.

4. Der Anspruch auf Ersatzstücke entsteht erst, sobald die vorhandenen Kunstaugen in Verlust geraten sind oder erneuert werden müssen. Besteht in diesem Zeitpunkt eine Leistungsverpflichtung des Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung auch aufgrund einer früheren Leistungsübernahme nicht mehr, ist die Krankenkasse wieder zur Vorleistung iS von § 565 Abs 1 RVO verpflichtet.

 

Normenkette

RVO § 565 Abs 1, § 565 Abs 2 S 2, § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c, § 1504 Abs 1, § 182b

 

Verfahrensgang

SG Hamburg (Entscheidung vom 16.12.1981; Aktenzeichen 25 U 343/81)

 

Tatbestand

Der bei der Klägerin für den Fall der Krankheit versicherte Beigeladene verlor durch einen Arbeitsunfall am 29. Dezember 1969 das rechte Auge (Bescheide der Beklagten vom 4. Februar 1971 und 18. Juni 1974). Die Klägerin verlangt von der Beklagten Kostenersatz für die Erneuerung der Augenprothese in den Jahren 1978 und 1981 in Höhe von insgesamt 270,62 DM.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 16. Dezember 1981). In den Gründen des Urteils heißt es, die Augenprothesen gehörten zwar zu den in § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c Reichsversicherungsordnung (RVO) genannten Hilfsmitteln, deren Kosten nach § 1504 Abs 1 RVO vom Träger der Unfallversicherung nicht zu ersetzen seien; der Klägerin stehe jedoch ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch zu, weil sie die Krankenpflege irrtümlich und ohne Rechtsgrund gewährt habe. Die Beklagte habe seinerzeit die berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung eingeleitet und durchgeführt. Diese habe mit der Entlassung aus der ambulanten Behandlung im April 1970 nur ein vorläufiges Ende gefunden, zumal da die Kosten für die Erneuerung der Augenprothese bis zum Jahr 1976 von der Beklagten getragen worden seien. Die hier strittigen Kosten habe die Klägerin ohne rechtliche Verpflichtung getragen. Sie seien demgemäß von der Beklagten auszugleichen.

Das SG hat die Revision 1981 zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel mit Zustimmung der Klägerin eingelegt. Sie weist darauf hin, daß die Kosten im Jahre 1978 im Rahmen einer von der Klägerin übernommenen offenen Heilbehandlung entstanden und im Jahre 1981 trotz Kenntnis des Standpunktes der Beklagten erneut mitgetragen worden seien. Die Klägerin habe die Krankenpflege zulässigerweise als eigene Leistung erbracht. Demzufolge sei hier die abschließende Regelung des § 1504 Abs 1 RVO anzuwenden, wonach der erstrebte Kostenersatz ausdrücklich ausgeschlossen sei. Selbst wenn man annehmen müßte, daß ein Erstattungsanspruch gegeben sei, wenn der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung während eines berufsgenossenschaftlichen Heilverfahrens Leistungen erbringe, so sei ein solcher Anspruch hier nicht gegeben, weil eine berufsgenossenschaftliche Behandlung zur Zeit der Erneuerung der Prothesen in den Jahren 1978 und 1981 nicht stattgefunden habe; die Erneuerung von Prothesen sei keine "Weiterbehandlung".

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Dezember 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Nach ihrer Meinung hat die Beklagte für sämtliche Maßnahmen der Heilbehandlung aufzukommen, weil sie bezüglich des Leidens eine berufsgenossenschaftliche Behandlung durchgeführt habe. Hiervon sei die Beklagte auch ausgegangen. Die fehlerhafte Entscheidung des behandelnden Arztes könne eine Verpflichtung des Trägers der gesetzlichen Krankenversicherung nicht begründen. Anders sei es nur im Falle der Wiedererkrankung, der hier nicht vorliege. Da sie angesichts der Vorschrift des § 565 Abs 2 RVO rechtsgrundlos geleistet habe, sei die Beklagte zur Erstattung verpflichtet gewesen.

Der Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Ersatz der von ihr für die Erneuerung der Kunstaugen des Beigeladenen aufgewendeten Kosten.

Die Beteiligten und das SG gehen übereinstimmend und zutreffend davon aus, daß ein Ersatzanspruch der Klägerin nicht auf § 1504 Abs 1 RVO gestützt werden kann. Satz 2 dieser Vorschrift nimmt ausdrücklich die Kosten der Krankenpflege (§ 182 Abs 1 Nr 1 RVO) von der Erstattung aus. Zur Krankenpflege gehört gemäß § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c RVO die Gewährung von Körperersatzstücken. Der Senat hat bereits im einzelnen dargelegt, daß der Gesetzgeber durch den in § 182 Abs 1 Nr 1 RVO gebrauchten Gesetzesbegriff der Krankenpflege und durch zusätzlichen Klammerhinweis auf diese Vorschrift alle jeweils aufgrund einer ausdrücklichen Aufzählung in § 182 Abs 1 Nr 1 RVO und aufgrund der Auslegung dieser Vorschrift zur Krankenpflege zu rechnenden Leistungen der Krankenversicherung von der Ersatzpflicht im Rahmen des § 1504 Abs 1 Satz 1 RVO ausgenommen hat (BSGE 52, 206, 207/208; BSG Urteil vom 26. Mai 1982 - 2 RU 72/81 - jeweils mit weiteren Nachweisen).

Der Senat teilt nicht die Auffassung des SG, die Klägerin könne ihre Aufwendungen nach den Grundsätzen des allgemeinen öffentlich-rechtlichen Ersatzanspruchs geltend machen. Dieser setzt, wie das SG nicht verkennt, voraus, daß die Klägerin rechtsgrundlos, dh ohne einen Anspruch des Leistungsempfängers gezahlt hat oder daß sie im Verhältnis zur Beklagten nur nachrangig leistungsverpflichtet war (BSG aaO Seite 208 mwN). Beides ist hier nicht der Fall; denn die Klägerin erfüllte mit der Erneuerung des Kunstauges vorrangig (s § 565 Abs 1 RVO) einen nach § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c RVO gegen sie selbst gerichteten Anspruch des Leistungsempfängers. Dieser Anspruch ist nicht nach § 565 Abs 2 Satz 2 RVO entfallen; denn die Beklagte hat insoweit nicht nach Satz 1 dieser Vorschrift die Heilbehandlung des Beigeladenen übernommen. Die zur Durchführung fachärztlicher Behandlung unmittelbar nach dem Arbeitsunfall und später erneut im März 1974 eingeleitete berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung endete im April 1970 bzw im März 1974. Entgegen der Auffassung des SG und der Klägerin in ihrer Revisionserwiderung dauerte die berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung auch nicht deshalb über den Monat März 1974 hinaus, weil der Beigeladene, wie schon im Jahre 1974 vorauszusehen war, weiterhin mit neuen Augenprothesen versorgt werden mußte. Auch das SG und die Klägerin verkennen nicht, daß nach Abschluß einer berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung bei einer Wiedererkrankung an den Folgen des Arbeitsunfalles über die Notwendigkeit berufsgenossenschaftlicher Heilbehandlung erneut entschieden wird und die Krankenkasse zunächst wieder vorleistungspflichtig ist (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl, Seite 5650; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 565 Anm 5 Buchst d). Eine Wiedererkrankung und keine Fortdauer berufsgenossenschaftlicher Heilbehandlung liegt jedoch auch dann vor, wenn bereits bei Abschluß der vorangegangenen berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung abzusehen war, daß in - wie hier - etwa zwei Jahren die Unfallfolgen erneut eine Behandlungsbedürftigkeit verursachen würden. Gleiches gilt für die Krankenpflege iS des § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c RVO. Somit entfällt die Vorleistungspflicht der Klägerin für die in den Jahren 1978 und 1981 erforderlichen neuen Augenprothesen auch nicht deshalb, weil die Beklagte vorher den Beigeladenen mit diesen Körperersatzstücken ausgestattet hat. Die Ausstattung mit Körperersatzstücken (s auch § 557 Abs 1 Nr 4 RVO) ist eine Leistung, die mit der "Lieferung" - im Falle der Erstausstattung in der Regel in doppelter Zahl (§ 3 Abs 1 Satz 2 der Verordnung über die orthopädische Versorgung Unfallverletzter vom 18. Juli 1973 -BGBl I 871-) - erfüllt ist. Wie bereits in anderem Zusammenhang aufgezeigt, ändert hieran nichts, daß bei vielen Körperersatzstücken von vornherein nur eine begrenzte Gebrauchsdauer besteht und die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung davon ausgehen, daß Kunstaugen im allgemeinen nur ein bis zwei Jahre verwendet werden können (Nr 47 der Gemeinsamen Richtlinien der Unfallversicherungsträger vom 13. Juli 1973 -BG 1974, 431-). Der Anspruch auf Ersatzstücke entsteht erst, sobald die vorhandenen Kunstaugen in Verlust geraten sind oder erneuert werden müssen. Besteht in diesem Zeitpunkt aber eine Leistungsverpflichtung des Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung auch aufgrund einer früheren Leistungsübernahme nicht mehr, ist die Krankenkasse wieder zur Vorleistung iS von § 565 Abs 1 RVO verpflichtet.

Die Klägerin hat demnach in den Jahren 1978 und 1981 die Erneuerung der Körperersatzstücke nicht ohne Rechtsgrund erbracht. Vielmehr war sie ihrem Versicherten, dem Beigeladenen, nach § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c RVO zur Leistung verpflichtet. Damit fehlen die Voraussetzungen, unter denen nach den Grundsätzen des allgemeinen öffentlich-rechtlichen Ersatzanspruchs ein Ausgleich gegenüber der Beklagten verlangt werden könnte.

Das Urteil des SG war aufzuheben; die Klage mußte abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663265

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