Leitsatz (amtlich)

Nach dem Tod des Kranken- und Rentenversicherten, der Rente beantragt und Krankengeld über einen als Rentenbeginn in Frage kommenden Zeitpunkt hinaus bezogen hatte, ist der Träger der KV jedenfalls dann berechtigt, das Rentenfeststellungsverfahren zu betreiben, wenn Rechtsnachfolger des Versicherten nicht vorhanden sind oder das Verfahren nicht betreiben (Anschluß an BSG 1967-08-23 3 RK 66/65 = SozR Nr 26 zu § 183 RVO).

 

Normenkette

RVO § 183 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1961-07-12; SGB 1 § 58 Fassung: 1975-12-11, § 59 Fassung: 1975-12-11

 

Verfahrensgang

SG München (Entscheidung vom 27.02.1978; Aktenzeichen S 6/Ar 536/77)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 27. Februar 1978 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsrechtszuges sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Im Prozeß geht es um die Frage, ob der Träger der Krankenversicherung nach dem Tod des Kranken- und Rentenversicherten, der Rente beantragt und Krankengeld bezogen hatte, berechtigt ist, das Rentenfeststellungsverfahren weiter zu betreiben, wenn Rechtsnachfolger des Versicherten im Sinne des § 56 des Sozialgesetzbuches (SGB) - Allgemeiner Teil - (SGB 1) nicht vorhanden sind oder das Verfahren nicht betreiben.

Der im Jahre 1928 geborene geschiedene W. war bei der klagenden Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) für den Fall der Krankheit und bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) in der Rentenversicherung der Arbeiter versichert. Er war ab April 1974 krank und arbeitsunfähig und erhielt mit Unterbrechungen, zuletzt vom 15. Oktober bis zum 19. Dezember 1975 (Ende der Bezugsdauer nach § 183 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) Krankengeld. Im Oktober 1975 beantragte er bei der LVA Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit. Am 4. März 1976 ist er gestorben. Eine Entscheidung über den Rentenantrag war noch nicht ergangen. Das Sozialgericht (SG) nahm an, daß entweder keine Rechtsnachfolger im Sinne des § 56 SGB 1 vorhanden sind oder diese das Verfahren nicht betreiben.

Die AOK erklärte im August 1976 der LVA, ihrer Meinung nach sei ein Rentenverfahren durchzuführen, da sie durch Zahlung von Krankengeld über den als Tag des Rentenbeginns in Frage kommenden Zeitpunkt hinaus eine Anwartschaft auf die Rentennachzahlung nach § 183 Abs 3 Satz 2 RVO erworben habe. Die LVA lehnte die Fortsetzung des Rentenverfahrens ab.

Die AOK hat Klage erhoben und beantragt, die LVA zu verurteilen, einen Rentenbescheid zu erlassen. Die LVA hat die Abweisung der Klage beantragt. Das SG hat mit Urteil vom 27. Februar 1978 die LVA verpflichtet, über den Rentenantrag des W. vom 18. Oktober 1975 zu entscheiden; es hat die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Das Rentenfeststellungsverfahren müsse zum Abschluß gebracht werden, um der AOK zumindest einen teilweisen Ausgleich für Leistungen an den Versicherten zu gewähren, die sich bei rückschauender Betrachtung als zu Unrecht gezahlt herausstellten.

Mit der Sprungrevision trägt die LVA vor, der AOK stehe wegen fehlender Zubilligung der Rente kein Anspruch auf die möglicherweise zu gewährende Rente des Versicherten zu; auch könne die AOK nicht das Rentenverfahren weiterbetreiben. Sie beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 27. Februar 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die AOK beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Nach ihrer Ansicht bezweckt § 183 Abs 3 RVO auch einen Leistungsausgleich; daher müsse sie berechtigt sein, den vom Versicherten geltend gemachten Rentenanspruch nach seinem Tod weiterzuverfolgen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das SG hat zu Recht die beklagte LVA verurteilt, über den Rentenantrag des Versicherten zu entscheiden.

Die Klage ist auf Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsaktes gerichtet, sonach eine Verpflichtungs- oder Vornahmeklage (Meyer-Ladewig, SGG, RdNr 6 zu § 54) und als solche zulässig. Sie ist auch begründet. Denn die Weigerung der LVA, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen, ist rechtswidrig und beschwert die AOK. Die LVA ist nach materiellem Recht der AOK gegenüber verpflichtet, den Bescheid zu erlassen (vgl dazu BSGE 8, 3, 7).

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in den Urteilen vom 23. August 1967 - 3 RK 66/65 - (SozR Nr 26 zu § 183 RVO) und - 3 RK 16/67 - ausgeführt: Sei der Versicherte nach Stellung des Rentenantrages vor der Bescheiderteilung verstorben, so sei dann, wenn der Träger der Krankenversicherung dem Versicherten Krankengeld über einen als Rentenbeginn in Frage kommenden Zeitpunkt hinaus gewährt habe, das Rentenfeststellungsverfahren zu Ende zu führen, auch wenn keine Bezugsberechtigten vorhanden seien. Die AOK habe durch Zahlung von Krankengeld zumindest eine Anwartschaft auf die Rentennachzahlung nach § 183 Abs 3 oder Abs 5 RVO erworben. Sie könne daher von der LVA verlangen, daß diese über den Rentenantrag entscheidet, damit geklärt wird, ob dem Versicherten eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder wegen Berufsunfähigkeit zusteht. An dieser Rechtsauffassung hat der 3. Senat in dem Urteil vom 31. Oktober 1967 - 3 RK 56/66 - (SozR Nr 20 zu § 146 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) sowie in dem nicht veröffentlichten Urteil vom 27. April 1973 - 3 RK 57/71 - festgehalten.

Der Senat schließt sich dem an. Dabei stehen seine Urteile vom 11. Juli 1974 - 4 RJ 225/73 - (SozR 2200 § 183 Nr 1), vom 5. November 1974 - 4 RJ 111/73 - (BSGE 38, 198 = SozR 2200 § 183 Nr 4) und vom 30. September 1976 - 4 RJ 167/75 - (BSGE 42, 256 = SozR 1500 § 54 Nr 14) nicht im Weg, weil sie insofern anders liegende Fälle betrafen, als entweder der Versicherte noch lebte oder dessen Rechtsnachfolger das Verfahren fortsetzten oder der Träger der Sozialhilfe nach § 1538 RVO die Feststellung der Leistungen betrieb.

Das am 1. Januar 1976 in Kraft getretene 1. Buch des SGB, das hier anwendbar ist, da der Versicherte am 4. März 1976 verstorben ist, bestätigt die vom 3. Senat vertretene Auffassung. Denn § 59 Satz 2 SGB 1 bestimmt, daß Ansprüche auf Geldleistungen, über die ein Verwaltungsverfahren anhängig ist, mit dem Tode des Berechtigten nicht erlöschen, und § 58 Satz 2 SGB 1 geht zwar, wenn die Ansprüche weder einem Sonderrechtsnachfolger zustehen noch nach bürgerlichem Recht auf andere Personen als den Fiskus vererbt werden, vom gesetzlichen Erbrecht des Fiskus aus (§ 1936 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -), bestimmt aber, daß dieser die Ansprüche nicht geltend machen kann. Diese Regelung, die Zahlungen zwischen verschiedenen öffentlichen Haushalten vermeiden soll (Begründung des Regierungsentwurfs zu den §§ 56 bis 59, BT-Drucks 7/868, S 33), stellt, wie es in dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (BT-Drucks 7/3786, S 5) zu § 58 Satz 2 heißt, "sicher, daß eventuelle Rechte Dritter aus den Ansprüchen befriedigt werden können (zB Ersatzansprüche anderer Leistungsträger)"; der Empfehlung des Rechtsausschusses, die Vorschrift in dem Sinn klarzustellen, daß die Leistungsansprüche beim Leistungsträger verbleiben sollen, wurde nicht gefolgt. Damit hat der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung den Interessen von ersatzberechtigten Leistungsträgern gegenüber einer - vom Rechtsausschuß angeregten - Begünstigung des Rentenversicherungsträgers durch Wegfall seiner Leistungspflicht den Vorrang zuerkannt. Diese vom Gesetzgeber gewollte Befriedigung von Erstattungsansprüchen setzt voraus, daß der Leistungsträger, der einen Erstattungsanspruch geltend machen will, dazu das anhängige, bis zum Tode des Versicherten nicht abgeschlossene Verfahren fortsetzen kann.

Gegenüber diesen Überlegungen greifen die Einwände der beklagten LVA nicht durch.

Die Revision weist darauf hin, daß nach dem Tode des Versicherten eine verläßliche Feststellung des Eintritts des Versicherungsfalles oder der zurückgelegten Versicherungszeiten nur noch schwer möglich sei. Diese Schwierigkeit besteht aber auch, wenn nach dem Tod des Versicherten die Rechtsnachfolger das Rentenfeststellungsverfahren betreiben. Die Unaufklärbarkeit des Versicherungsfalles und der sonstigen Voraussetzungen des Rentenanspruchs führt dann nach den Regeln der objektiven Beweislast zur Ablehnung des Rentenantrags.

Zu Unrecht meint die Revision ferner, das angefochtene Urteil gehe über den Schutzzweck des § 183 Abs 3 RVO hinaus. Es mag zwar sein, daß die Vorschrift in erster Linie Doppelleistungen verhindern und erst in zweiter Linie einen materiell-rechtlichen Ausgleich zu Gunsten desjenigen Versicherungsträgers schaffen soll, der letztlich nicht zur Leistung verpflichtet war. Aber die Berechtigung des Trägers der Krankenversicherung, die Fortführung des Rentenfeststellungsverfahrens zu verlangen, gefährdet nicht den ersten Zweck und entspricht vollständig dem zweiten; anderenfalls wäre der Träger der Krankenversicherung benachteiligt und der Träger der Rentenversicherung bereichert, ohne daß dafür ein sachlicher Grund zu erkennen wäre.

Nach der Meinung der Revision wäre schließlich der Träger der Krankenversicherung nach dem Tode des Versicherten besser gestellt als zu dessen Lebzeiten; der Versicherte könne nämlich jederzeit den Rentenantrag zurücknehmen oder einen die Rente ablehnenden Bescheid bindend werden lassen und damit die Position der Kasse verschlechtern, ohne daß diese etwas dagegen unternehmen könne. Diese "Besserstellung" beruht jedoch darauf, daß nach dem Tod des Versicherten dessen schutzwürdiges Individualrecht den Bestrebungen des Trägers der Krankenversicherung nicht mehr entgegensteht, so daß dieser uneingeschränkt vorgehen kann.

Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654957

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge