Entscheidungsstichwort (Thema)

Bedürftigkeit iS der Arbeitslosenhilfe und Unterhaltsanspruch. Nachholung der Ermessensausübung

 

Orientierungssatz

1. Unterhaltsberechtigt ist nach § 1602 Abs 1 BGB nur der Verwandte, der außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Mit dieser gesetzlichen Regelung wird der wirtschaftlichen Eigenverantwortlichkeit eines jeden Volljährigen für die Bestreitung seines Lebensunterhalts der Vorrang eingeräumt mit der Folge, daß derjenige Volljährige, der durch Aufnahme einer Tätigkeit seinen Lebensbedarf erwirtschaften kann, keinen Unterhaltsanspruch gegen seine Eltern hat. Der Volljährige muß bereit sein, auch berufsfremde und unterhalb seiner Lebensstellung liegende Tätigkeiten, selbst außerhalb seines bisherigen Wohnortes, auszuüben. Fehlt es an dieser Bereitschaft, besteht kein Unterhaltsanspruch, und zwar auch dann nicht, wenn der Volljährige eine mögliche Beschäftigung deswegen nicht annimmt, weil er sich für eine Beschäftigung im erlernten Beruf freihalten will (vgl BSG vom 7.9.1988 - 11 RAr 25/88).

2. Im Wege einer Fiktion kann kein Unterhaltsanspruch gemäß § 138 Abs 1 Nr 1 AFG angerechnet werden (vgl BSG vom 7.9.1988 - 11 RAr 25/88 und - 11/7 RAr 81/87).

3. Der Versicherungsträger ist nicht berechtigt, während des Gerichtsverfahrens über die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, die ohne die erforderliche Ermessensentscheidung ergangen sind, diese dadurch nachzuholen, daß er die angefochtenen Verwaltungsakte aufhebt und einen denselben Regelungsgegenstand betreffenden neuen Bescheid nach Ermessenserwägungen erläßt (vgl BSG vom 24.8.1988 - 7 RAr 53/86).

 

Normenkette

AFG § 134 Abs 1 S 1 Nr 3, § 134 Abs 1 Nr 3, § 137 Abs 1, § 138 Abs 1 Nr 1; BGB §§ 1601, 1602 Abs 1; SGB 10 § 35 Abs 1 S 3, § 41 Abs 1 Nr 2, § 41 Abs 2, § 45

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 06.10.1987; Aktenzeichen L 7 Ar 375/85)

SG Osnabrück (Entscheidung vom 30.10.1985; Aktenzeichen S 6 Ar 293/84)

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) und die entsprechende Rückforderung in Höhe von 8.598,84 DM.

Sie war vom 16. Mai 1980 bis 7. Juni 1982 Sekretärin in der Firma ihres ersten Ehegatten gewesen und bezog danach Arbeitslosengeld (Alg). Am 23. Juni 1983 gab sie beim Arbeitsamt das Antragsformular für die Gewährung von Anschluß-Alhi ab. Darin hatte sie keine Angaben zu "Beruf oder Tätigkeit" sowie zum "Netto-Gesamteinkommen (zB Arbeitsentgelt, Rente, Kapitalbeträge)" ihres Vaters Kurt F.      gemacht. Der Sachbearbeiter des Arbeitsamtes trug nach Rücksprache mit der Klägerin in der Rubrik "Beruf oder Tätigkeit" des Vaters "ohne" und in dem Kästchen "Netto-Gesamteinkommen" des Vaters einen Strich ein. Mit Unterschrift vom 2. Juli 1983 bestätigte die Klägerin die Richtigkeit dieser Änderung/Ergänzung.

Die Beklagte bewilligte der Klägerin daraufhin ab 21. Juni 1983 Anschluß-Alhi, und zwar zunächst vorläufig in Höhe von wöchentlich 151,20 DM (Bescheid vom 1.Juli 1983), dann rückwirkend ab 21. Juni 1983 nach der Leistungsgruppe "B" in Höhe von wöchentlich 210,60 DM (Bescheid vom 24. August 1983). Da eine am 1. September 1983 vorgesehene Arbeitsaufnahme nicht zustande kam, bewilligte sie der Klägerin ab 12. September 1983 weiterhin Alhi in Höhe von wöchentlich 210,60 DM (Bescheid vom 27. September 1983). Wegen Änderung des Leistungssatzes aufgrund der Leistungsverordnung 1984 (vgl hierzu § 136 Abs 1 Nr 2 AFG idF des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983 - BGBl I 1532) wurde die Alhi mit Wirkung ab 2. Januar 1984 auf wöchentlich 202,80 DM herabgesetzt (Bescheid vom 13. Januar 1984). Nachdem im September 1983 bei der Beklagten der Verdacht aufgekommen war, daß der Vater der Klägerin aufgrund der Veräußerung seines Betriebes Einnahmen aus Kapitalvermögen erziele (Aktenvermerk vom 22. September 1983), schätzte die Beklagte nach entsprechenden Ermittlungen das monatliche Einkommen des Vaters der Klägerin für das Kalenderjahr 1982/1983 auf monatlich 5.000,-- DM und teilte der Klägerin mit, daß ab 20. April 1984 wegen des anrechenbaren Einkommens des Vaters eine vorläufige Minderung der Alhi um 195,58 DM veranlaßt worden sei (Bescheid vom 25. April 1984). Nach Rücksprache mit dem Finanzamt im April 1984 hob sie durch Bescheid vom 7. Mai 1984 ihre Bescheide vom 1. Juli 1983 und 27. September 1983 über die Bewilligung von Alhi ab 21. Juni 1983 bzw 12. September 1983 mit dem Hinweis ganz auf, daß die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistungen mangels Bedürftigkeit nicht vorgelegen hätten; die Entscheidung beruhe auf §§ 134, 138 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) und § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuches (SGB 10). Auf den Widerspruch der Klägerin prüfte die Beklagte intern, ob unter Berücksichtigung des Ermessens von der rückwirkenden Aufhebung der Bewilligungsbescheide und der Erstattung der erbrachten Leistungen abgesehen werden könne, und verneinte dies (Vermerk vom 25. Juni 1984). Sie forderte die Klägerin durch Bescheid vom 22.Juni 1984 zur Erstattung der in der Zeit vom 21. Juni 1983 bis 3. Mai 1984 erbrachten Leistungen in Höhe von 8.598,84 DM auf und wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 6. November 1984 zurück.

Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide der Beklagten vom 7. Mai 1984 und 22.Juni 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. November 1984 aufgehoben (Urteil vom 30. Oktober 1985). Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte durch Bescheid vom 31. Januar 1986 das von ihr auszuübende Ermessen begründet. Sodann hat sie den Bescheid vom 31. Januar 1986 und die Bescheide vom 7. Mai 1984 und 22. Juni 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. November 1984 aufgehoben und durch einen Bescheid vom 18. Juni 1986 ersetzt. Darin hat sie die Bewilligungsbescheide vom 1. Juli 1983 und 27. September 1983 ab 21. Juni 1983 bzw 12. September 1983 gemäß § 45 Abs 2 SGB 10 aufgehoben und ua ausgeführt: Die Klägerin habe von Anfang an mangels Bedürftigkeit keinen Anspruch auf Alhi gehabt, da ihr Vater zu ihrem Unterhalt wöchentlich etwa 250,-- DM habe beitragen können. Die Klägerin habe die Unrechtmäßigkeit der Alhi-Bewilligung durch unvollständige Angaben im Alhi-Antrag grob fahrlässig herbeigeführt. Ihr Verschulden überwiege das ggf vorliegende Unterlassen des Antragannehmers, nach den Lebensgrundlagen ihrer Eltern zu fragen. Aus der Aufhebung der Alhi-Bewilligung folge zwangsläufig die Erstattungspflicht nach § 50 SGB 10. Die Klägerin sei aufgrund ihrer jetzigen finanziellen Situation auch imstande, den Rückforderungsbetrag von 8.598,94 DM in monatlichen Raten von 300,-- DM zu erstatten.

In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hat die Beklagte ihre Berufung gegen das Urteil des SG zurückgenommen. Das Landessozialgericht (LSG) hat den Bescheid der Beklagten vom 18. Juni 1986 aufgehoben (Urteil vom 6. Oktober 1987). In den Entscheidungsgründen heißt es:

Die Klage gegen den Bescheid vom 18. Juni 1986, der allein noch Gegenstand des Rechtsstreits sei, sei begründet. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Alhi-Bewilligungsbescheide gemäß § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB 10 seien nicht erfüllt. Allerdings seien die Bewilligungsbescheide von vornherein rechtswidrig gewesen. Es habe an Bedürftigkeit der Klägerin gefehlt. Ihr Vater habe 1982 über ein monatliches Nettoeinkommen von 5.813,66 DM verfügt. Anhaltspunkte dafür, daß sein Einkommen 1983 und 1984 geringer gewesen sei, lägen nicht vor. Selbst unter Beachtung des für die Eltern der Klägerin zu berücksichtigenden Selbstbehaltes habe der Klägerin gegen ihren Vater ein Unterhaltsanspruch zugestanden, der den Alhi-Satz von 210,60 DM (1983) bzw 202,80 DM (1984) überstiegen habe.

Auch die weiteren Tatbestandsmerkmale des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB 10 seien verwirklicht. Die Klägerin könne sich nicht auf Vertrauen in die Bestandskraft der Bewilligungsbescheide berufen, weil diese auf Angaben beruhten, die sie grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unvollständig oder unrichtig gemacht habe. Ihr sei, wie sie durch ihre Unterschrift sowohl im Alg-Antrag wie im Alhi-Antrag vom 23. Juni 1983 bestätigt habe, das Merkblatt für Arbeitslose ausgehändigt worden. Darin werde ua darauf hingewiesen, daß bei der Prüfung der Bedürftigkeit Einkommen und Vermögen berücksichtigt würden, wozu zB bürgerlich-rechtliche Unterhaltsansprüche gegen Eltern gehörten. Die im Alhi-Antrag vom 23. Juni 1983 zu "Beruf oder Tätigkeit" sowie zum "Netto-Gesamteinkommen" des Vaters aufgeführten Fragekästchen seien von ihr nicht ausgefüllt und die vom Sachbearbeiter mit Grünstift fehlerhaft eingetragenen Angaben nicht korrigiert worden, obwohl sie die Richtigkeit der Änderung/Ergänzung durch ihre Unterschrift vom 2. Juli 1983 bestätigt habe. Damit habe sie zum Netto-Gesamteinkommen ihres Vaters grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unvollständige Angaben gemacht, da sie in seinem Haushalt gelebt habe und folglich hätte wissen müssen, daß er von Kapitalerträgen aus dem Verkauf seiner Firma lebe. Selbst wenn sich dem Sachbearbeiter des Arbeitsamtes die naheliegende Überlegung hätte aufdrängen müssen, daß der Vater der Klägerin über irgendwelche Gelder zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes verfügen müsse, ändere dies nichts daran, daß die Klägerin die Richtigkeit der fehlerhaften Eintragungen durch ihre Unterschrift bestätigt habe.

Dennoch sei die Rücknahme der Alhi-Bewilligungsbescheide rechtswidrig. Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB 10 sei eine Ermessensentscheidung. Demgemäß hätte die Beklagte ihr Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise ausüben müssen. Darüber hinaus hätte die Begründung die Gesichtspunkte erkennen lassen müssen, von denen die Beklagte bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen sei. Beides sei hier nicht geschehen. Die Beklagte habe im Bescheid vom 7. Mai 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. November 1984 überhaupt keine Ermessensentscheidung getroffen. Der interne Aktenvermerk vom 25. Juni 1984 stelle eine solche nicht dar.

Nach Abschluß des Vorverfahrens habe die Beklagte die fehlende Ermessensentscheidung nicht mehr nachholen können. Das Nachholen der Begründung einer Ermessensentscheidung sei nur bis zum Abschluß des Vorverfahrens bzw bis zur Erhebung der Klage möglich. Wenn nach diesen Zeitpunkten eine Nachholung der Begründung nicht mehr möglich sei, könne erst recht nicht die Ermessensentscheidung als solche nachgeholt werden.

Die Beklagte könne die Nachholung auch nicht durch den während des Berufungsverfahrens erteilten Bescheid vom 18. Juni 1986 erreichen. Dem stehe die Einjahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 entgegen. Die Beklagte habe spätestens aufgrund der Auskunft des Finanzamtes von April 1984 Kenntnis von der Höhe des Einkommens des Vaters der Klägerin erlangt.

Ein anderes Ergebnis sei nur im Fall der Ermessensschrumpfung auf Null denkbar. Davon könne hier jedoch nicht die Rede sein. Wegen des fehlerhaften Verhaltens sowohl der Klägerin wie des Sachbearbeiters der Beklagten seien mehrere richtige Entscheidungen denkbar.

Die Beklagte macht mit der Revision geltend, die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 sei durch den Bescheid vom 7. Mai 1984 gewahrt und in analoger Anwendung des § 211 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und des § 52 SGB 10 unterbrochen worden. Der Unterbrechung stehe nicht der mit strenger, kurzer Frist verbundene Gedanke der Verwirkung entgegen. Die Bestimmung des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 stelle für den Beginn der Frist nicht auf einen vom Verpflichteten selbst erkennbaren Umstand ab; sie knüpfe vielmehr an ein Verwaltungsinternum, nämlich die Kenntnis des zuständigen Sachbearbeiters, an. Auch enthalte sie anders als § 45 Abs 3 Satz 3 SGB 10 keine starre, sondern eine veränderliche Frist. Im übrigen würden auch die starren Fristen des BGB durch gerichtliche Geltendmachung, der die Geltendmachung durch Verwaltungsakt gleichstehe, unterbrochen.

Für die Frage der Unterbrechung nicht entscheidend sei, ob es sich um eine rechtmäßige oder rechtswidrige Rücknahme handele. Der Ausgang eines Rechtsmittelverfahrens sei immer offen und unsicher. Deshalb könne das Vertrauen des Betroffenen in den Bestand eines Verwaltungsaktes nicht im einen Fall als erschüttert und im anderen als nicht erschüttert angesehen werden. Der Verpflichtete müsse vielmehr in jedem Fall mit einem für ihn ungünstigen Ergebnis rechnen. Demgemäß trete schon mit dem ersten belastenden Verwaltungsakt eine Beeinträchtigung des Vertrauens ein, so daß der Erlaß eines neuen Verwaltungsaktes nicht an der Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 scheitere.

Die fristwahrende Wirkung des ersten Aufhebungsbescheides führe zu keiner ungerechtfertigten Besserstellung der Verwaltung. Unbestreitbar dürfe die Behörde im Fall der gerichtlichen Kassation eines Aufhebungsbescheides innerhalb des Einjahreszeitraumes anstelle des aufgehobenen rechtswidrigen Verwaltungsaktes einen neuen rechtmäßigen Verwaltungsakt erlassen. Sei eine solche Entscheidung im Fall der Beendigung des Gerichtsverfahrens nach Überschreitung des Einjahreszeitraumes möglich, müsse sie erst recht während des Rechtsstreits zulässig sein.

Auch eine Umgehung des Verbots des Nachschiebens von Gründen liege nicht vor. Dieses Verbot verfolge den Zweck, den Betroffenen nicht in seiner Rechtsverteidigung unangemessen zu benachteiligen. Er solle nicht im Gerichtsverfahren mit Gründen konfrontiert werden, bei deren Kenntnis er keine Klage erhoben hätte. Ebensowenig solle er in einem solchen Fall mit außergerichtlichen Kosten belastet werden. Indessen solle das genannte Verbot nicht die materielle Rechtslage beeinflussen. Demzufolge sei ein Nachschieben von Gründen für die Ablehnung eines Antrages bei Leistungs- und Verpflichtungsklagen unbeschränkt möglich. Bei Anfechtungsklagen könne die Behörde nach gerichtlicher Aufhebung des Bescheides einen neuen Bescheid erteilen.

Schließlich stehe das Ergebnis mit dem rechtlichen Verständnis anderer gesetzlicher und tarifvertraglicher Ausschlußfristen in Einklang. Bei ihnen genüge die einmalige Geltendmachung des Anspruchs zur Fristwahrung. Eine Ausschlußfrist beziehe sich nämlich nicht auf das Recht als solches, sondern lediglich auf seine Geltendmachung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 6. Oktober 1987 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 18. Juni 1986 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie teilt die Auffassung des LSG, daß die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 auch für einen Ersetzungsbescheid zu gelten habe, der an die Stelle eines denselben Gegenstand regelnden und fristgemäß erteilten, jedoch wegen Rechtswidrigkeit aufgehobenen Rücknahmebescheides trete.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen läßt sich nicht beurteilen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB 10 für die Berechtigung der Beklagten zur Aufhebung der Alhi-Bewilligungen erfüllt sind.

Streitgegenstand ist allein noch der Bescheid vom 18. Juni 1986, der, wie vom LSG richtig gesehen, gemäß § 96 Abs 1, § 153 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist. Er ist an die Stelle der Bescheide vom 7. Mai 1984 und 22. Juni 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6.November 1984 sowie des Bescheides vom 31. Januar 1986 getreten. Das LSG hat über ihn zutreffend kraft Klage entschieden. Dahinstehen kann, ob die Beklagte - wie das LSG meint - durch diesen Bescheid die Rücknahme ihrer Berufung gegen das Urteil des SG konkludent erklärt hat. Die Berufung ist von der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG ausdrücklich zurückgenommen worden.

Das LSG hat der Klage gegen den Bescheid vom 18. Juni 1986 stattgegeben, weil zwar die gesetzlichen Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB 10 verwirklicht seien, die Beklagte jedoch nach Abschluß des Vorverfahrens ihre Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens nicht mehr habe nachholen können und die versäumte Nachholung sich auch nicht mehr durch den Bescheid vom 18. Juni 1986 habe erreichen lassen, da dem die Einjahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 entgegengestanden habe. Dem kann der Senat hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen und § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB 10 nicht und hinsichtlich der Ermessensentscheidung nur im Ergebnis beipflichten.

Nach § 45 Abs 1 SGB 10 darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Gemäß § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB 10 kann sich der Begünstigte nicht mit Erfolg auf Vertrauen in die Bestandskraft des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Im vorliegenden Fall steht nicht fest, daß die Bewilligungsbescheide vom 1. Juli 1983 und 27. September 1983 rechtswidrig waren.

Die Voraussetzungen des Anspruches auf Alhi sind in § 134 Abs 1 AFG niedergelegt. Nach dessen Satz 1 Nr 3 ist derjenige anspruchsberechtigt, der bedürftig ist. Der Begriff der Bedürftigkeit ist in § 137 Abs 1 AFG definiert. Danach ist der Arbeitslose bedürftig, soweit er seinen Lebensunterhalt nicht auf andere Weise als durch Alhi bestreitet oder bestreiten kann und das Einkommen, das nach § 138 AFG zu berücksichtigen ist, die Alhi gemäß § 136 AFG nicht erreicht. Der Arbeitslose kann seinen Lebensunterhalt auf andere Weise als durch Alhi ua dann bestreiten, wenn er gegen andere Personen (durchsetzbare) Unterhaltsansprüche hat. Gemäß § 138 Abs 1 Nr 1 Halbs 1 AFG ist im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung als Einkommen das Einkommen des Arbeitslosen einschließlich der Leistungen zu berücksichtigen, die er von Dritten erhält oder beanspruchen kann, soweit es nicht nach § 115 AFG anzurechnen ist. Nach dieser Vorschrift sind auch Unterhaltsansprüche eines volljährigen Arbeitslosen gegen seine Eltern anzurechnen. Lediglich Unterhaltsansprüche gegen Verwandte zweiten oder entfernteren Grades sind nicht zu berücksichtigen (§ 138 Abs 1 Nr 1 Halbs 2 AFG). Ob der Klägerin in der Zeit vom 21. Juni bis 31. August 1983 sowie vom 12. September 1983 bis 3. Mai 1984 gegen ihren Vater ein Unterhaltsanspruch zustand, ist vom LSG in tatsächlicher Hinsicht nicht geklärt worden.

Die Frage nach der Unterhaltsberechtigung der Klägerin gegenüber ihrem Vater entscheidet sich allein nach bürgerlichem Recht. Gemäß § 1601 BGB sind Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Unterhaltsberechtigt ist nach § 1602 Abs 1 BGB aber nur der Verwandte, der außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Mit dieser gesetzlichen Regelung wird der wirtschaftlichen Eigenverantwortlichkeit eines jeden Volljährigen für die Bestreitung seines Lebensunterhalts der Vorrang eingeräumt mit der Folge, daß derjenige Volljährige, der durch Aufnahme einer Tätigkeit seinen Lebensbedarf erwirtschaften kann, keinen Unterhaltsanspruch gegen seine Eltern hat. Der Volljährige muß bereit sein, auch berufsfremde und unterhalb seiner Lebensstellung liegende Tätigkeiten, selbst außerhalb seines bisherigen Wohnortes, auszuüben. Fehlt es an dieser Bereitschaft, besteht kein Unterhaltsanspruch, und zwar auch dann nicht, wenn der Volljährige eine mögliche Beschäftigung deswegen nicht annimmt, weil er sich für eine Beschäftigung im erlernten Beruf freihalten will (BSGE 58, 165, 169; vgl auch BSG SozR 4100 § 138 Nr 10 sowie BSG vom 7. September 1988 - 11 RAr 25/88 - zur Veröffentlichung vorgesehen).

Im vorliegenden Fall hat das LSG offengelassen, ob die Klägerin zur Aufnahme jeglicher Art von Tätigkeit im oa Sinn, die sie hätte ausüben können, bereit war oder nur zu Tätigkeiten in ihrem erlernten Beruf als Sekretärin. Demgemäß fehlt es an ausreichenden Feststellungen zur Frage des Bestehens eines Unterhaltsanspruches und damit zu den hiervon abhängigen Fragen der Bedürftigkeit der Klägerin und der Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide. Da auch im Wege einer "Fiktion" kein Unterhaltsanspruch gemäß § 138 Abs 1 Nr 1 AFG angerechnet werden kann (BSG vom 7. September 1988 - 11 RAr 25/88 - und - 11/7 RAr 81/87 -), ist ohne die fehlenden Feststellungen eine abschießende Entscheidung über diese Fragen nicht möglich. Es ist jedenfalls tunlich, deswegen die Sache an das LSG zurückzuverweisen (vgl hierzu auch BSG vom 24. August 1988 - 7 RAr 53/86 - zur Veröffentlichung vorgesehen); denn sollte sich herausstellen, daß die Klägerin gegen ihren Vater keinen Unterhaltsanspruch hatte, würde es sich bei den Bewilligungsbescheiden nicht um rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte handeln; dies im anhängigen Verfahren mit Rechtskraftwirkung zwischen den Beteiligten zu klären, ist sachdienlich.

Sofern die Feststellungen des LSG ergeben, daß die Klägerin von Anfang an nicht bedürftig war, sind allerdings die gesetzlichen Voraussetzungen des § 45 Abs 1, Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB 10 für die Berechtigung der Beklagten zur Aufhebung der Alhi-Bewilligungsbescheide erfüllt. Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß die Klägerin die im Alhi-Antrag vom 23. Juni 1983 zu "Beruf oder Tätigkeit" sowie zum "Netto-Gesamteinkommen" des Vaters aufgeführten Fragekästchen nicht ausgefüllt und die vom zuständigen Sachbearbeiter mit Grünstift fehlerhaft eingetragenen Angaben nicht korrigiert hat, obwohl sie die Richtigkeit der Änderung/Ergänzung durch ihre Unterschrift vom 2. Juli 1983 bestätigte, seinerzeit im Haushalt ihrer Eltern lebte, folglich deren Vermögensverhältnisse kannte und das Merkblatt für Arbeitslose ausgehändigt erhalten hatte, in dem ua auf die Anrechenbarkeit von Unterhaltsansprüchen gegen Eltern hingewiesen wird. Hiergegen hat die Klägerin keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe vorgebracht. Die aus den somit für den Senat bindend festgestellten Tatsachen (§ 163 SGG) gezogene Schlußfolgerung des LSG, die Klägerin habe sich aufgrund ihres Verhaltens nicht mit Erfolg auf Vertrauen in die Bestandskraft der Bewilligungsbescheide berufen können, weil diese auf Angaben beruhten, die sie grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht habe, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Indessen weist der Bescheid vom 18. Juni 1986 aus einem anderen Grund Rechtsmängel auf. Die Beklagte hat nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form der Ermessensausübung genügt. Mit Recht geht das LSG davon aus, daß es sich bei der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß §45 SGB 10 um eine Ermessensentscheidung handelt. Das leitet sich aus dem Wortlaut des § 45 Abs 1 SGB 10 ab, wonach ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden "darf". Der Senat hat dies mehrfach entschieden (BSGE 59, 157, 169 = SozR 1300 § 45 Nr 19; BSG vom 29. September 1987 - 7 RAr 22/86 - und 24. August 1988 - 7 RAr 53/86 -; vgl auch BSGE 55, 250, 251 = SozR 1300 § 50 Nr 3; BSGE 60, 147, 150 = SozR 1300 § 45 Nr 24; SozR 1300 § 45 Nrn 12 und 34; SozR 1300 § 48 Nr 11).

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte weder im Bescheid vom 7. Mai 1984 noch im Widerspruchsbescheid vom 6. November 1984 von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht. Dadurch hat sie gegen die Bestimmung des § 35 Abs 1 Satz 3 SGB 10 verstoßen, wonach ein schriftlicher Verwaltungsakt, sofern er eine Ermessensentscheidung enthält, auch die Gesichtspunkte erkennen lassen muß, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Ist die Begründung unterblieben, darf sie mit heilender Wirkung nur bis zum Abschluß des Vorverfahrens oder, falls ein solches nicht stattfindet, bis zur Erhebung der Klage nachgeholt werden (§ 41 Abs 1 Nr 2, Abs 2 SGB 10). Hier ist bis zum Abschluß des Vorverfahrens keine entsprechende Begründung abgegeben worden. Der Aktenvermerk der Beklagten vom 25. Juni 1984 ist zwar nach Erlaß des Bescheides vom 7. Mai 1984 angelegt worden; sein Inhalt ist der Klägerin jedoch nicht mitgeteilt worden. Auf die Frage, ob darin ausreichende Ermessenserwägungen enthalten sind, kommt es deshalb nicht an.

Die Beklagte hat erst während des Berufungsverfahrens durch den Bescheid vom 31. Januar 1986 Ermessen ausgeübt und Ermessenserwägungen nach außen kundgetan. Sodann hat sie den Bescheid vom 31. Januar 1986 und ua den Bescheid vom 7. Mai 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. November 1984 durch den Bescheid vom 18. Juni 1986 ersetzt. Auch dadurch hat sie der gesetzlich vorgeschriebenen Form der Ermessensausübung nicht genügt. Sie hat § 35 Abs 1 Satz 3 iVm § 41 Abs 1 Nr 2, Abs 2 SGB 10 vielmehr umgangen. Das war ihr verwehrt, weil sie in ihrem Bescheid vom 18. Juni 1986, sieht man von den Ermessenserwägungen ab, inhaltlich das wiederholt hat, was sie bereits in ihrem Bescheid vom 7. Mai 1984 entschieden hatte. Die Verfügungssätze beider Bescheide lauten, daß die Bewilligungsentscheidungen über Alhi ab 21. Juni 1983 bzw 12. September 1983 aufgehoben werden, weil die Voraussetzungen für diese Leistung von vornherein nicht vorgelegen hätten. Begründet wird dies jeweils damit, daß die Klägerin nicht bedürftig gewesen sei. Der Regelungsgegenstand beider Bescheide ist somit derselbe. Wegen dieses identischen Regelungsinhalts hat die Beklagte sich so verhalten, als ob ihr ungeachtet des § 35 Abs 1 Satz 3 iVm § 41 Abs 1 Nr 2, Abs 2 SGB 10 die Befugnis zustände, die erforderlichen Ermessenserwägungen im anhängigen gerichtlichen Verfahren nachzuholen. Dazu war sie nicht berechtigt. Der Senat hat dies in seiner oa Entscheidung vom 24. August 1988 des näheren begründet. Auf sie wird Bezug genommen. Aus ihr geht auch hervor, daß sich die Rechtswidrigkeit des während des Berufungsverfahrens ergangenen Ersetzungsbescheides allein aus § 35 Abs 1 Satz 3 iVm § 41 Abs 1 Nr 2 und Abs 2 SGB 10 ableitet und es insoweit eines Rückgriffes auf die im § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 enthaltene Einjahresfrist nicht bedarf. Schließlich hat der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 24. August 1988, aaO, betont, daß er, soweit der 10. Senat des BSG in einem ähnlich gelagerten Fall die Möglichkeit bejaht hat, während eines gerichtlichen Verfahrens behördliches Ermessen in einem neuen Bescheid auszuüben, der Gegenstand des Berufungsverfahrens werde (BSGE 56, 55, 61), keine Veranlassung sehe, von seiner vorstehend aufgezeigten Rechtsauffassung abzuweichen. Es handele sich um einen beiläufig gegebenen Hinweis, der nicht zu den tragenden Gründen der Entscheidung gehöre. Eine Abweichung iS von § 42 SGG, die eine Anrufung des Großen Senats gebiete, liege nicht vor. Dies gilt auch für den vorliegenden Fall.

Die Ermessensentscheidung der Beklagten kann hier ferner nicht unter dem Gesichtspunkt als rechtmäßig bezeichnet werden, daß sich angesichts der besonderen Umstände dieses Falles der Ermessensspielraum der Beklagten auf "Null reduziert" hätte (vgl dazu etwa BSG SozR 1300 § 45 Nr 34; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl, § 114 RdNr 6). Die vom LSG festgestellten und für den Senat bindenden Tatsachen lassen mehrere rechtmäßige Ermessensentscheidungen möglich erscheinen. Das ergibt eine Gegenüberstellung des Fehlverhaltens der Klägerin mit dem des Antragannehmers. Die Klägerin muß sich vorhalten lassen, daß sie den Alhi-Fragebogen zu "Beruf oder Tätigkeit" sowie zum "Netto-Gesamteinkommen" ihres Vaters unvollständig ausgefüllt und die Richtigkeit der vom Antragannehmer fehlerhaft vorgenommenen Änderung/Ergänzung durch ihre Unterschrift vom 2. Juli 1983 bestätigt hat. Der zuständige Sachbearbeiter der Beklagten hat übersehen, daß die Klägerin - mit Geburtsnamen F.      - bei der (väterlichen) Firma Kurt F.      Tierprodukte GmbH beschäftigt gewesen war, worauf der interne Aktenvermerk vom 22. September 1983 hinweist. Weiter hätte sich ihm bei dem Gespräch mit der Klägerin wegen Überprüfung und Vervollständigung der Angaben im Alhi-Antrag die Frage aufdrängen müssen, wovon die Eltern der Klägerin, wenn der Vater weder einen Beruf ausübte noch Rente bezog, ihren Lebensunterhalt bestritten; entsprechende Rückfragen wären angezeigt gewesen. Schließlich hat die Beklagte, obschon sie seit dem internen Aktenvermerk vom 22. September 1983 ernsthafte Hinweise auf "erhebliche" Einnahmen des Vaters der Klägerin aus Kapitalvermögen hatte, der Klägerin gleichwohl noch bis zum 19. April 1984 ungekürzt und vom 20. April bis 3. Mai 1984 gekürzt Alhi gewährte. Bei dieser Sachlage kann nicht davon die Rede sein, daß nur eine Entscheidung, nämlich die Aufhebung der Bewilligung der Alhi ab 21. Juni 1983 bzw 12. September 1983, richtig wäre.

Eine abschließende Entscheidung des Senats über den Ersetzungsbescheid vom 18.Juni 1986 könnte sich nach alledem nur auf die fehlende Ermessensausübung der Beklagten stützen. Dies aber wäre, wie aufgezeigt, untunlich, weil offenbleiben würde, ob die von der Beklagten aufgehobenen Bewilligungsbescheide überhaupt rechtswidrig waren. Die Sache ist daher insgesamt unter Aufhebung des ergangenen Urteils gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664844

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