Leitsatz (amtlich)

1. Der Versicherungsträger ist nicht berechtigt, während des Gerichtsverfahrens über die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, die ohne die erforderliche Ermessensentscheidung ergangen sind, diese dadurch nachzuholen, daß er die angefochtenen Verwaltungsakte aufhebt und einen denselben Regelungsgegenstand betreffenden neuen Bescheid nach Ermessenserwägungen erläßt (Fortführung von BSG vom 24.7.1980 - 5 RKn 9/79 = SozR 1200 § 34 Nr 13).

2. Zur Frage der Prüfung der Rechtsvoraussetzungen für die Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes durch das Gericht, wenn in dem angefochtenen Bescheid die erforderliche Ermessensausübung fehlt.

 

Normenkette

SGB 10 § 35 Abs 1 S 3, § 41 Abs 2, § 45 Abs 1 S 1; SGG § 96 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 28.05.1986; Aktenzeichen L 3 Ar 20/86)

SG Mannheim (Entscheidung vom 13.11.1985; Aktenzeichen S 10 Ar 383/85)

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) und die Rückforderung der bisher gezahlten Leistungen.

Er war vom 1. Juli 1983 bis 15. Juli 1984 technischer Angestellter in der Lichtpauserei seiner Ehefrau. In der Zeit vom 17. Juli bis 28. November 1984 bezog er aufgrund der Bewilligungsbescheide vom 20. September und 22. November 1984 Alg. Nachdem das Arbeitsamt anläßlich einer Überprüfung zu dem Ergebnis gelangt war, daß der Kläger nach wie vor nicht nur kurzzeitig im Betrieb seiner Ehefrau arbeitete, hob es mit Bescheid vom 4. Dezember 1984 gemäß § 48 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) die Bewilligung des Alg für die Zukunft auf. Mit Bescheid vom 19. Dezember 1984 hob es die Bewilligung auch für die Vergangenheit gemäß § 45 Abs 1 und 2 Satz 3 Nr 2 SGB 10 auf. Außerdem verlangte es die Rückzahlung des bisher geleisteten Alg. Die Widersprüche gegen beide Bescheide waren erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 1985). Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 13. November 1985 die angefochtenen Bescheide aufgehoben, weil der Kläger nicht in nennenswertem Umfange im Betrieb seiner Ehefrau mitgearbeitet habe.

Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte mit Bescheid vom 6. März 1986 den Bescheid vom 19. Dezember 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 1985 wegen fehlender Ermessensausübung aufgehoben und die Bewilligungsbescheide gemäß § 45 Abs 2 Nrn 2 und 3 SGB 10 ganz zurückgenommen, weil der Kläger entgegen seinen Angaben im Leistungsantrag weiterhin im Betriebe seiner Ehefrau in der Regel 20 Stunden und mehr wöchentlich beschäftigt gewesen sei. Er sei somit zu keinem Zeitpunkt arbeitslos gewesen. Die Voraussetzungen für die Aufhebung der Bewilligungsbescheide hätten daher vorgelegen. Das öffentliche Interesse an der Rücknahme der Bewilligung gegenüber den Interessen des Klägers am Behalten der Leistung überwiege. Nach § 50 Abs 2 SGB 10 seien die gezahlten Leistungen in Höhe von insgesamt 6.159,60 DM zu erstatten. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte erklärt, sie halte den Bescheid vom 4. Dezember 1984 nicht mehr aufrecht; sie stütze die Aufhebung der Bewilligung für die Zeit ab 17. Juli 1984 ganz auf § 45 SGB 10.

Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und den Bescheid vom 6. März 1986 aufgehoben. Sein Urteil vom 28. Mai 1986 hat es im wesentlichen wie folgt begründet: Der Bescheid vom 4. Dezember 1984 sei Verfahrensgegenstand geblieben. Die Beklagte habe durch ihre Erklärung im Termin zur mündlichen Verhandlung dem Bescheid lediglich eine andere Begründung gegeben, ohne ihn aufzuheben. Er sei schon deshalb rechtswidrig, weil er auf § 48 SGB 10 statt auf § 45 SGB 10 gestützt worden sei. Nicht rechtmäßig sei auch der Bescheid vom 19. Dezember 1984 gewesen, da die Beklagte nicht erkannt habe, daß sie eine Ermessensentscheidung zu treffen hatte. Deshalb habe sie diesen Bescheid mit dem vom 6. März 1986 aufgehoben, der jedoch gleichfalls rechtswidrig sei. Durch ihn werde eine ursprünglich gebundene Entscheidung nachträglich in eine Ermessensentscheidung umgewandelt. Daran ändere sich auch dadurch nichts, daß die Beklagte die Ermessensgründe in Gestalt eines ersetzenden Verwaltungsaktes nachgeschoben habe. Dieser Bescheid sei zwar gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verfahrensrechtlich Gegenstand des Verfahrens geworden, materiell-rechtlich könne er jedoch nicht die Wirkung haben, die dem ursprünglichen Bescheid fehlende Ermessensausübung im Prozeß wirksam nachzuschieben. Dies wäre eine unzulässige Umgehung der Regelung des § 41 Abs 2 SGB 10. Die Verweisung der Verwaltung auf ein erneutes Verwaltungsverfahren nach rechtskräftigem Abschluß des Gerichtsverfahrens könne zwar unbefriedigend erscheinen, dies sei jedoch als Folge einer konsequenten Anwendung der in § 41 Abs 2 SGB 10 enthaltenen gesetzgeberischen Absicht in Kauf zu nehmen, zumal da es der Verwaltung obliege, von Anfang an verfahrensfehlerfreie Bescheide zu erlassen.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 45 SGB 10. Sie ist der Auffassung, die Beschwer für den Kläger liege nur noch in dem Bescheid vom 6. März 1986, nachdem sie ihre Bescheide vom 19. Dezember 1984, vom 20. September und 22. November 1984 aufgehoben bzw zurückgenommen und auch den Bescheid vom 4. Dezember 1984 in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht mehr aufrechterhalten habe. Die Beklagte sei an der Erteilung des Bescheides vom 6. März 1986 nicht gehindert gewesen. Der Ansicht des LSG, wonach durch diesen Bescheid die ursprünglich gebundene Entscheidung der Beklagten in eine Ermessensentscheidung umgewandelt werde, könne nicht gefolgt werden. Zwar verbiete § 43 Abs 3 SGB 10 die Umdeutung einer Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen könne, in eine Ermessensentscheidung. Die Beklagte habe jedoch den von ihr als fehlerhaft erkannten Bescheid vom 19. Dezember 1984 nicht nachträglich begründet, sondern ihn aufgehoben und durch einen neuen ersetzt, so daß eine Verletzung des § 41 Abs 2 SGB 10 nicht in Betracht komme. Im übrigen habe auch das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 24. November 1983 (BSGE 56, 55, 61) entschieden, daß in ähnlich gelagerten Fällen die Möglichkeit bestehe, während eines gerichtlichen Verfahrens behördliches Ermessen in einem neuen Bescheid auszuüben, der Gegenstand eines Berufungsverfahrens würde. Daneben sprächen auch Gründe der Verfahrensökonomie für die von der Beklagten vorgeschlagene Vorgehensweise.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Mai 1986 und das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 13. November 1985 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist teilweise unzulässig; im übrigen ist sie im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Unzulässig ist die Revision, soweit sich die Beklagte dagegen wendet, daß das LSG über die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 4. Dezember 1984 entschieden hat. Insoweit fehlt es an der gesetzlich zwingend vorgeschriebenen Revisionsbegründung (§ 164 Abs 2 SGG). Die Revision betrifft eine Mehrheit selbständiger prozessualer Ansprüche: einmal die Frage, ob der Kläger durch den Bescheid vom 4. Dezember 1984 noch beschwert ist; zum anderen ist streitig, ob der Bescheid vom 6. März 1986 rechtmäßig ist. Deshalb ist die gesetzlich vorgeschriebene Begründung für jeden Anspruch erforderlich (BSG SozR 1500 § 164 Nr 22 mwN). Das hat die Beklagte nicht beachtet. Sie hat, soweit es um die Frage der Beschwer des Klägers durch den Bescheid vom 4. Dezember 1984 geht, lediglich vorgetragen, diese Beschwer liege nur noch in dem Bescheid vom 6. März 1986, nachdem sie - die Beklagte - den Bescheid vom 4. Dezember 1984 in der Verhandlung vor dem LSG nicht mehr aufrechterhalten habe. Zur Revisionsbegründung gehört aber auch die Darlegung, aus welchen Gründen und mit welchen Erwägungen die Entscheidung der Vorinstanz angegriffen wird und ihre Aussagen für unrichtig angesehen werden (SozR 1500 § 164 Nr 20 mwN). Deshalb muß sich der Revisionskläger zur Rechtfertigung seines Rechtsmittels mit den Gründen des angefochtenen Urteils zumindest kurz auseinandersetzen. Das ist hier nicht geschehen, obwohl das LSG ausgeführt hat, aus welchen Gründen es der Auffassung ist, daß der Bescheid vom 4. Dezember 1984 Verfahrensgegenstand geblieben ist. Deshalb muß die Revision verworfen werden, soweit das LSG über die Berufung der Beklagten entschieden hat. Dies hat zur Folge, daß das Urteil des LSG auch insoweit rechtskräftig geworden ist. Für die Beteiligten steht damit verbindlich fest, daß der Bescheid vom 4. Dezember 1984 aufgehoben worden ist (§ 141 Abs 1 SGG).

Streitgegenstand ist somit allein noch die Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 6. März 1986. Dieser Bescheid ist, wie das LSG zutreffend erkannt hat, gemäß § 96 Abs 1, § 153 Abs 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Er ist an die Stelle des Bescheides vom 19. Dezember 1984 getreten. Über ihn hat das LSG zutreffend kraft Klage entschieden.

Nach Auffassung des LSG ist der Klage bereits deshalb stattzugeben, weil der streitige Rücknahmebescheid vom 6. März 1986 ungeachtet des Vorliegens der Rechtsvoraussetzungen für die Rücknahme der Bewilligungsbescheide nach § 45 SGB 10 wegen Mängeln in der Ermessensausübung rechtswidrig sei. Der Senat stimmt der Auffassung des LSG zu, daß hier die Beklagte von ihrer Pflicht zur sachgemäßen Ausübung des Ermessens rechtswirksam keinen Gebrauch gemacht hat. Entgegen der Auffassung des LSG rechtfertigt dies allein nicht, schon deswegen den angefochtenen Rücknahmebescheid aufzuheben.

Aus dem Wortlaut des § 45 Abs 1 Satz 1 SGB 10, wonach ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden darf, folgt, daß die Rücknahme eines solchen Verwaltungsaktes eine Ermessensentscheidung ist. Das hat der Senat im Anschluß an die Rechtsprechung des 11. Senats des Bundessozialgerichts -BSG- (vgl BSGE 55, 250, 251 = SozR 1300 § 50 Nr 3; SozR 1300 § 45 Nr 12; vgl auch BSG - 9a Senat - in SozR 1300 § 48 Nr 11) schon entschieden (BSGE 59, 157, 169 = SozR 1300 § 45 Nr 19). Hieran ist auch angesichts der die Entscheidung nicht tragenden Bedenken, die der 9a Senat jüngst erhoben hat (BSGE 60, 147, 150 ff = SozR 1300 § 45 Nr 24), aus Gründen der Rechtseinheit festzuhalten, wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 29. September 1987 - 7 RAr 22/86 - dargelegt hat. Er sieht auch jetzt keine Veranlassung, hiervon abzuweichen, zumal da das Urteil des 11. Senats vom 4. Februar 1988 (SozR 1300 § 45 Nr 34) diese Auffassung erneut bestätigt hat.

Unterläßt es die Verwaltung, wie sie es hier nach ihrem eigenen Vorbringen in ihrem Bescheid vom 19. Dezember 1984 getan hat, von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen, dann ist der Verwaltungsakt rechtswidrig. Sie hat damit gegen die Bestimmungen des § 35 Abs 1 Satz 3 SGB 10 verstoßen. Hiernach muß ein schriftlicher Verwaltungsakt, sofern er eine Ermessensentscheidung zum Gegenstand hat, die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Verwaltung bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Ist, wie das hier der Fall ist, eine solche Begründung unterblieben, darf sie mit heilender Wirkung nur bis zum Abschluß des Vorverfahrens oder bis zur Erhebung der Klage nachgeholt werden (§ 41 Abs 2 SGB 10). Das ist hier nicht geschehen. Die Beklagte hat vielmehr den Bescheid vom 19. Dezember 1984 mit ihrem Bescheid vom 6. März 1986 aufgehoben und in dem letzteren nunmehr Ermessenserwägungen angestellt. Die Beklagte glaubt, damit habe sie ihrer Pflicht zur Ermessensausübung genügt. Das ist indes nicht der Fall. Sie hat vielmehr damit die Bestimmung des § 41 Abs 2 SGB 10 umgangen. Hiernach ist es der Behörde verwehrt, die für die Begründung von Verwaltungsakten wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben, während des gerichtlichen Verfahrens mitzuteilen. Hiergegen verstößt die Beklagte, weil sie in dem Bescheid vom 6. März 1986, sieht man von den Ermessenserwägungen ab, inhaltlich das wiederholt, was sie bereits in dem Bescheid vom 19. Dezember 1984 entschieden hatte. Der Verfügungssatz beider Bescheide geht dahin, daß die Bewilligung von Alg aufgehoben wird, weil dem Kläger von Anfang an kein Alg zugestanden habe. Begründet wird dies jeweils damit, daß der Kläger nicht arbeitslos gewesen sei. Der Regelungsgegenstand beider Bescheide ist also derselbe. Wegen des identischen Regelungsinhalts war die Beklagte nicht befugt, den Bescheid vom 6. März 1986 zu erlassen. Indem sie mit diesem Bescheid die Ermessenserwägungen nachholt, verhält sie sich so, als ob ihr ungeachtet der Bestimmungen des § 41 Abs 2 SGB 10 das Recht zustünde, im anhängigen gerichtlichen Verfahren die erforderlichen Handlungen nachzuholen. Diese Befugnis steht ihr jedoch nicht zu.

§ 41 Abs 2 SGB 10 entspricht, wie aus der Begründung zu § 39 des Entwurfs eines Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - hervorgeht (BT-Drucks 8/2034 S 33 zu §§ 36 bis 41) dem § 45 Abs 2 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG). Dieser Bestimmung liegt nach der Begründung des Entwurfs eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (BT-Drucks 7/910 S 66 zu § 41 Abs 2) die Erwägung zugrunde, daß die in § 45 Abs 1 Nrn 2 bis 5 VwVfG genannten Verfahrensmängel aus Gründen einer vertieften Auffassung vom Wesen des Rechtsstaatsprinzips künftig nur bis zur Erhebung der Klage bzw bis zum Abschluß des Vorverfahrens geheilt werden können. Für die erforderliche Begründung des angefochtenen Verwaltungsakts folgt dies aus der Erwägung, daß der Betroffene vor Erhebung der Klage anhand der ihm gegebenen Begründung prüfen können muß, ob er ein gerichtliches Verfahren überhaupt einleiten soll. Die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts kann in der Regel, zumal bei Ermessensentscheidungen, erst nach Kenntnis von den den Verwaltungsakt tragenden Gründen nachgeprüft werden. Mit darauf gerichteten Maßnahmen wird zudem nicht verdeutlicht, was vor der Klageerhebung entschieden wurde, sondern was die Behörde zu einem späteren Zeitpunkt für maßgeblich hält (vgl BVerwG NJW 1975, 2309). Den Betroffenen auf die Möglichkeit zu verweisen, diese Gründe erst nach Einleitung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zu erfahren, ist hiernach nicht mehr hinnehmbar. Das Rechtsstaatsprinzip, das auch im Verfahren der Sozialverwaltung gilt (BSGE 44, 207, 211 = SozR 1200 § 34 Nr 2), verbietet es daher, die unterlassene erforderliche Begründung eines Verwaltungsakts durch einen denselben Regelungsgegenstand betreffenden weiteren Bescheid während des Gerichtsverfahrens zu ersetzen. Der Senat sieht sich insoweit im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des BSG zur Frage der Nachholung der vorgeschriebenen Anhörung eines Beteiligten, wenn diese erst im Klageverfahren erfolgt. Diese kann aus Gründen des Rechtsstaatsprinzips in einem gerichtlichen Verfahren nicht durch einen Zweitbescheid nachgeholt werden (vgl BSGE 49, 229, 232 = SozR 1200 § 34 Nr 10 mwN; BSG SozR 5670 Anl 1 Nr 5101, Nr 3; SozR 1200 § 34 Nr 15).

Der Umstand, daß die Beklagte den Bescheid vom 19. Dezember 1984 aufgehoben und gleichzeitig durch den Bescheid vom 6. März 1986 ersetzt hat, ändert hieran nichts. Der während des Berufungsverfahrens erlassene Zweitbescheid wird kraft Gesetzes gemäß §§ 153 Abs 1, 96 Abs 1 SGG unmittelbar Gegenstand des Berufungsverfahrens, so daß der Versicherungsträger keine Gelegenheit mehr hat, in einem Vorverfahren den Zweitbescheid in eigener Zuständigkeit zu überprüfen und dabei mit der Ermessensausübung durch die Widerspruchsstelle ggfs zu einem für den Betroffenen günstigeren Ergebnis zu gelangen. Diese Möglichkeit wird durch den Erlaß eines Bescheides, der nach § 96 SGG unmittelbar Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird, gänzlich abgeschnitten. Das mit § 35 Abs 1 SGB 10 vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, allgemein das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung zu stärken und die Stellung des Bürgers insbesondere durch den Schutz vor Überraschungsentscheidungen zu verbessern, kann deshalb auf diesem Wege nicht erreicht werden. Ebenso wie die in § 35 Abs 1 Satz 3 SGB 10 vorgeschriebene Begründung einer Ermessensentscheidung im Klageverfahren nicht nachgeholt werden kann, wenn der Betroffene statt des Widerspruchs unmittelbar Klage erhoben hat, muß derselbe Gesichtspunkt auch dann gelten, wenn während des Berufungsverfahrens ein Zweitbescheid erlassen worden ist, der in die Rechte des Betroffenen eingreift.

Hiernach kann die Beklagte eine unterlassene Ermessensentscheidung nur noch dadurch nachholen, daß sie die fehlerhaften Bescheide aufhebt und im Verwaltungsverfahren einen neuen Bescheid mit Ermessensausübung erteilt. Dieses Ergebnis mag mit den Grundsätzen der Verfahrensökonomie nicht im Einklang stehen. Das ist jedoch unbeachtlich; denn hier muß der Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie einem höherrangigen Rechtsgut, nämlich dem Rechtsstaatsprinzip, weichen, durch welches das Vertrauen des Bürgers in die Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung gestärkt werden soll. Das verbietet eine Tolerierung des Verfahrens der Beklagten. Letztlich kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß Vorschriften ohne Sanktion die Neigung fördern, sie aus vermeintlichen Gründen der Verwaltungseffizienz wie der Praktikabilität, der Flexibilität, der Beschleunigung und Vereinfachung nicht anzuwenden (vgl dazu Stelkens/Bonk/Leonhardt, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl 1983, § 45 RdNr 3).

Soweit sich die Beklagte darauf beruft, daß der 10. Senat des BSG in einem ähnlich gelagerten Fall (BSGE 56, 55, 61) die Möglichkeit bejaht habe, während eines gerichtlichen Verfahrens behördliches Ermessen in einem neuen Bescheid auszuüben, der Gegenstand des Berufungsverfahrens würde, gibt dies dem Senat keine Veranlassung, von seiner vorstehend aufgezeigten Rechtsauffassung abzuweichen. Es handelt sich um einen beiläufig gegebenen Hinweis, der nicht zu den tragenden Gründen der Entscheidung gehört. Eine Abweichung iS von § 42 SGG, die eine Anrufung des Großen Senats gebietet, liegt hiernach nicht vor. Der Senat weicht mit seiner Rechtsauffassung auch nicht von den vom LSG aufgezeigten Urteilen des BSG vom 19. Dezember 1979 (BSGE 49, 229 ff) und 30. Juni 1981 (SozR 1200 § 34 Nr 15) ab.

Ist hiernach der angefochtene Bescheid deshalb fehlerhaft, weil er keine wirksame Ermessenserwägung enthält, ist es dennoch untunlich, ihn allein deswegen aufzuheben, wie es das LSG getan hat. Dagegen sprechen Gründe der Prozeßökonomie und der Rechtskraftwirkung, wie das BSG bereits mehrfach entschieden hat (vgl Urteile des Senats vom 17. April 1986 - 7 RAr 127/84 - und 29. September 1987 - 7 RAr 22/86 -; BSG SozR 1300 § 45 Nr 34).

Nach § 141 Abs 1 SGG binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Bei einer Anfechtungsklage, wie sie hier vorliegt, ist Streitgegenstand die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides. Hat die Klage Erfolg, wird der Bescheid aufgehoben, weil er rechtswidrig ist. Die Rechtskraft eines solchen Urteils hat zur Folge, daß die Verwaltung den aufgehobenen Verwaltungsakt bei gleicher Sachlage nicht mit derselben Begründung wiederholen darf. Wird in Fällen vorliegender Art die angefochtene Rücknahme allein wegen Fehlens einer Ermessensentscheidung aufgehoben und offengelassen, ob die Verwaltung überhaupt berechtigt war, die ausgesprochene Bewilligung zurückzunehmen, muß damit gerechnet werden, daß nochmals ein Rücknahmebescheid erlassen wird. Ein Kläger müßte dann erneut Klage erheben, wenn er geltend machen will, daß ein Rücknahmerecht niemals gegeben war. Wird aber auch diese Frage im anhängigen Verfahren geklärt, hier also, ob die Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg gegeben waren und, falls dies nicht der Fall gewesen ist, ob die Beklagte wegen eines dem Kläger einzuräumenden Vertrauensschutzes gehindert war, die rechtswidrig erfolgte Bewilligung zurückzunehmen, wird sich ein erneutes Verfahren erübrigen und, wenn das nicht der Fall ist, in seiner Durchführung jedenfalls vereinfachen. Wird nämlich ein Rücknahmerecht verneint, braucht der Kläger keinen weiteren Rücknahmebescheid mehr zu befürchten. Wird dagegen entschieden, daß die Beklagte die Bewilligung zurücknehmen durfte und die erfolgte Rücknahme nur mangels Ausübung bzw mangels zutreffender Ausübung des Ermessens rechtswidrig ist, und spricht die Beklagte anschließend die Rücknahme erneut aus, kann sich die rechtliche Prüfung in der Regel auf die Frage beschränken, ob die Ausübung des Ermessens zu beanstanden ist. Um einen neuen Rechtsstreit zu vermeiden, erscheint es im Interesse der schnellen Wiederherstellung des Rechtsfriedens daher geboten, im anhängigen Rechtsstreit nicht offen zu lassen, ob die Beklagte die Bewilligung, wie geschehen, für die Vergangenheit zurücknehmen darf. Das gilt im vorliegenden Fall um so mehr, als die Befürchtung der Prozeßwiederholung schon deshalb nicht ausgeschlossen werden kann, weil das LSG - von seinem Rechtsstandpunkt aus zutreffend - es unterlassen hat, die für die Rechtsvoraussetzungen des Aufhebungsbescheides erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu treffen. Wenn der 1. Senat des BSG in seinem Urteil vom 15.Oktober 1987 - 1 RA 37/85 - in einem Einzelfall davon abgesehen hat, über das Vorliegen der Rechtsvoraussetzungen bei einer Ermessensentscheidung zu befinden, so ist das, wie der 11. Senat des BSG im Urteil vom 4. Februar 1988 (SozR 1300 § 45 Nr 34) zutreffend festgestellt hat, im Sinne einer Ausnahme zu verstehen.

Eine abschließende Entscheidung über den Rücknahmebescheid durch den Senat, die sich nur auf die fehlende Ermessensentscheidung stützen könnte, ist daher untunlich. Die Sache ist zur Prüfung, ob sich die erfolgte Rücknahme auf einen anderen Grund stützen läßt, insgesamt unter Aufhebung des ergangenen Urteils gemäß § 170 Abs 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

BSGE, 36

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