Leitsatz (amtlich)

1. Eine als Zwischenurteil bezeichnete und als solches nicht selbständig anfechtbare Entscheidung kann in ein selbständig anfechtbares Teilurteil umgedeutet werden, wenn dies ihrem sachlichen Gehalt entspricht und die Bezeichnung als Zwischenurteil lediglich als Fehlgreifen im Ausdruck aufzufassen ist (Anschluß an BGH 1961-01-25 VIII ZR 28/60 = LM Nr 3 zu § 275 ZPO; BAG 1966-11-10 2 AZR 410/65 = AP Nr 1 zu § 275 ZPO).

2. Zum Begriff der "Leistung" iS SGG § 78 Abs 2 S 1 (Fassung: 1974-07-30).

3. In Streitigkeiten über die Feststellung einer Behinderung und des Grades der auf ihr beruhenden MdE nach SchwbG § 3 Abs 1 (Fassung: 1974-04-29) ist ein Vorverfahren nicht zwingend vorgeschrieben.

 

Leitsatz (redaktionell)

SGG § 78 Abs 2 S 1 gilt nicht nur für reine Anfechtungsklagen, sondern auch, wenn der Betroffene neben der Aufhebung oder Abänderung des Verwaltungsakts, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht, zugleich die Verurteilung des beklagten Versicherungs- oder Versorgungsträgers zur Gewährung der Leistungen oder zur Erteilung eines entsprechenden Bescheids, oder die Feststellung der Leistung begehrt.

 

Normenkette

SGG § 202 Fassung: 1953-09-03, § 78 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 1974-07-30; ZPO §§ 301, 303; SchwbG § 3 Abs. 1 Fassung: 1974-04-29

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Teilurteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 31. Mai 1976 aufgehoben.

Die Klage auf Erteilung eines Widerspruchsbescheides wird abgewiesen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Klage gegen die Feststellung einer Behinderung und des Grades der auf ihr beruhenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz -SchwbG) i. d. F. vom 29. April 1974 (BGBl I S. 1006) ein Widerspruchsverfahren vorauszugehen hat.

Die Klägerin wurde 1971 und 1974 operiert. Unter Vorlage einer Bescheinigung des Staatlichen Gesundheitsamts G vom 24. Februar 1975, wonach wegen der Folgen der Operation eine dauernde MdE um 50 v. H. bestehe, beantragte sie am 1. März 1975 beim Versorgungsamt (VersorgA) H die Feststellung einer Behinderung und des Grades der MdE nach § 3 Abs. 1 SchwbG sowie ggf. die Ausstellung einer Bescheinigung nach § 3 Abs. 4 SchwbG. Mit Bescheid vom 18. August 1975 stellte das VersorgA als Behinderung "Verlust der Gebärmutter und Eierstöcke" mit einer MdE um 20 v. H. fest; die Ausstellung einer Bescheinigung nach § 3 Abs. 4 SchwbG lehnte es ab (MdE unter 50 v. H.). Nach der Rechtsmittelbelehrung des Bescheides konnte entweder Widerspruch oder unmittelbar Klage erhoben werden. Die Klage auf Abänderung des Bescheides vom 18. August 1975 dahin, daß die MdE auf mindestens 50 v. H. festgesetzt werde, wies das Sozialgericht (SG) Hildesheim durch Urteil vom 10. Dezember 1975 als unbegründet ab.

Im anschließenden Berufungsverfahren wurden die Beteiligten vom Landessozialgericht (LSG) darauf hingewiesen, daß die Durchführung eines Vorverfahrens erforderlich sei. Die Klägerin legte Widerspruch ein. Der Beklagte sah demgegenüber keinen Anlaß zur Durchführung eines Vorverfahrens. Die Klägerin beantragte nunmehr vor dem LSG,

1.

den Beklagten zu verurteilen, ihren Widerspruch vom 6. März 1976 gegen den Bescheid des Versorgungsamts H vom 18. August 1975 zu bescheiden;

2.

das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 10. Dezember 1975 aufzuheben und den Bescheid des Versorgungsamts H vom 18. August 1975 zu ändern;

3.

festzustellen, daß der Grad der auf dem Verlust der Gebärmutter und der Eierstöcke beruhenden Minderung der Erwerbsfähigkeit 50 v. H. beträgt.

Mit "Zwischenurteil" vom 31. Mai 1976 hat das LSG den Beklagten verurteilt, der Klägerin auf ihren Widerspruch gegen den Bescheid vom 18. August 1975 einen Widerspruchsbescheid zu erteilen; es hat die Revision zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Gegenstand des Berufungsverfahrens sei einmal die in diesem Verfahren erstmals erhobene Untätigkeitsklage auf Erteilung eines Widerspruchsbescheides, zum anderen eine kombinierte Änderungs-(Anfechtungs-) und Feststellungsklage. Über die Untätigkeitsklage sei wegen ihres prozessualen Vorranges zunächst zu entscheiden. Sie sei zulässig. Ihre Einführung in das Berufungsverfahren stelle eine Klageänderung dar. Diese sei wegen der Abhängigkeit des weiteren Prozedierens von dem Ausgang der Untätigkeitsklage sachdienlich. Angesichts der Weigerung des Beklagten, einen Widerspruchsbescheid zu erteilen, scheitere die Sachdienlichkeit nicht daran, daß die Dreimonatsfrist des § 88 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht eingehalten sei. Über die Untätigkeitsklage könne in entsprechender Anwendung der §§ 274, 275 der Zivilprozeßordnung (ZPO) durch ein selbständig anfechtbares Zwischenurteil entschieden werden. Sie sei begründet. Verfahren nach § 3 Abs. 1 Satz 1 SchwbG seien vorverfahrenspflichtig. Eine Wahlmöglichkeit nach § 78 Abs. 2 Satz 1 1. Halbsatz SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (ÄndG-SGG) vom 30. Juli 1974 (BGBl. I S. 1625) bestehe nicht. Die Klägerin begehre mit ihrer Anfechtungsklage nicht die Änderung eines Verwaltungsaktes, der eine Leistung betreffe, auf die ein Rechtsanspruch bestehe. Sie habe nicht eine Leistungsklage i. S. des § 54 Abs. 4 SGG erhoben, sondern eine Feststellungsklage i. S. des § 55 Abs. 1 SGG, deren Gegenstand nach § 3 Abs. 1 Satz 1 SchwbG um die Feststellung einer Behinderung und des Grades der auf ihr beruhenden MdE erweitert worden sei. Nach Wortlaut, Systematik, Zweck und Entstehungsgeschichte des ÄndG-SGG erfasse § 78 Abs. 2 Satz 1 1. Halbsatz SGG nur Leistungsansprüche in Geld, die der unmittelbaren Existenzsicherung dienten. Alle anderen Klagearten wie z. B. Anfechtungs- und Feststellungsklagen seien vorverfahrenspflichtig. Dies gelte nicht nur bei Ermessensentscheidungen. Daß nach § 3 Abs. 4 Satz 1 SchwbG von der unanfechtbar gewordenen Feststellung der MdE die Ausstellung einer Bescheinigung über die Schwerbeschädigteneigenschaft abhänge, gebiete eine andere Auslegung nicht.

Mit der Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG: Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts seien Verfahren nach § 3 Abs. 1 Satz 1 SchwbG nicht vorverfahrenspflichtig. Zwar habe § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG im wesentlichen den Wortlaut des § 54 Abs. 4 SGG übernommen. Gleichwohl solle nach seinem Sinn und Zweck eine Anfechtungsklage ohne Vorverfahren nicht nur bei Leistungsklagen im engeren Sinne statthaft sein. § 78 SGG verweise den Betroffenen lediglich dann auf das Vorverfahren, wenn die Anfechtungsklage Ermessensleistungen betreffe, weil Entscheidungen hierüber nur in beschränktem Umfange gerichtlich überprüfbar seien. Darin erschöpfe sich die Bedeutung des in § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG verwendeten Begriffs der "Leistung". Nicht hingegen deute er auf eine Einengung im Sinne der Leistungsklage hin. Erstrebe ein Kläger, der bereits die Vollrente erhalte und weitere Versorgungsleistungen nicht begehre, lediglich die Feststellung einer weiteren Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge, so liege weder eine Leistungs- noch eine Verpflichtungsklage, sondern eine Feststellungsklage vor. Dennoch erfordere § 78 SGG in einem solchen Fall nicht zwingend ein Vorverfahren. Aus § 78 Abs. 3 in seiner Anknüpfung an § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG sei ebenfalls zu folgern, daß § 78 Abs. 2 SGG keine Einengung unmittelbarer Klagemöglichkeiten bedeuten solle. Schließlich sei § 78 Abs. 2 SGG auch anzuwenden, wenn bei einer MdE unter 25 v. H. ein Rentenanspruch nicht bestehe, der Betroffene aber im Wege der Feststellungsklage die Feststellung einer bestimmten Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge begehre. Die Feststellung einer Behinderung und ihres Grades nach dem SchwbG hätten häufig nicht mindere Bedeutung und Auswirkung für den Betroffenen. Dieser sei auch an einer möglichst schnellen und endgültigen Feststellung seiner Behinderung und ihrer Auswirkungen interessiert.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 31. Mai 1976 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin hat sich im Revisionsverfahren nicht vertreten lassen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist zulässig.

Allerdings bestünden auf der Grundlage der Ansicht des Berufungsgerichts, die angefochtene Entscheidung stelle ein Zwischenurteil dar, Bedenken gegen die Zulässigkeit der Revision. Denn Zwischenurteile, deren Erlaß auch im sozialgerichtlichen Verfahren zulässig ist (§ 202 SGG i. V. m. §§ 275, 303 ZPO; vgl. BSGE 10, 233, 234; 13, 32, 33; 13, 140, 142), sind regelmäßig nicht selbständig anfechtbar und nur unter den Voraussetzungen der §§ 275 Abs. 2, 304 Abs. 2 ZPO in betreff der Rechtsmittel als Endurteile anzusehen (BSGE 13, 163, 164; zu § 304 Abs. 2 ZPO vgl. auch BSGE 29, 69 70). Das angefochtene Urteil stellt jedoch kein Zwischenurteil dar. Dieses entscheidet - in Erledigung eines Zwischenstreits - nur über Fragen, die den Fortgang des Verfahrens betreffen (vgl. BSGE 13, 163, 164). Materiell-rechtliche Streitpunkte hingegen, also Teile des sachlichen Anspruchs, können nicht Gegenstand eines Zwischenstreits und einer Entscheidung durch Zwischenurteil sein (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl., Vorbem. 2 b zu §§ 123 bis 142; Tiedtke, Das unzulässige Zwischenurteil, ZZP 89 (1976), S. 64, 65, 72, 79). Das angefochtene Urteil hat über einen der von der Klägerin geltend gemachten sachlichen Ansprüche entschieden. Die Klägerin hat nicht nur die Aufhebung des Urteils des SG und die Abänderung des Bescheides des VersorgA sowie die Feststellung einer MdE um 50 v. H., sondern zugleich die Verurteilung des Beklagten zur Bescheidung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid vom 18. August 1975 begehrt und damit im Wege der objektiven Klagenhäufung (§ 56 SGG) auch eine Untätigkeitsklage erhoben. Zwar hängt es von der Sachentscheidung hierüber ab, ob über die weitergehenden Sachanträge sogleich sachlich entschieden werden kann oder die Klage insoweit jedenfalls bis zum Erlaß eines Widerspruchsbescheides als unzulässig angesehen werden muß. Ungeachtet dieses Zusammenhanges hat die Klägerin mit der Untätigkeitsklage einen selbständigen Anspruch auf die Erteilung eines Widerspruchsbescheides verfolgt. Damit stellt das angefochtene Urteil ungeachtet seiner Bezeichnung seinem prozessualen Wesen nach (BSGE 13, 163, 164) ein Teilurteil und als solches ein selbständig anfechtbares Endurteil (§ 301 Abs. 1 ZPO) dar. Zumindest kann es in ein rechtsmittelfähiges Teilurteil umgedeutet werden, weil das Berufungsgericht angesichts der ihm bekannten und sonach ersichtlich in einer Mehrzahl von Fällen vertretenen Ansicht des Beklagten, in Angelegenheiten nach § 3 SchwbG bedürfe es der Durchführung eines Vorverfahrens nicht, eine grundsätzliche Klärung dieser Frage durch das Bundessozialgericht (BSG) hat herbeiführen wollen und unter diesem Gesichtspunkt die Bezeichnung der Entscheidung als Zwischenurteil nur als ein Fehlgreifen im Ausdruck aufzufassen ist, ohne daß der sachliche Gehalt der Entscheidung durch diese Bezeichnung erschöpft würde (vgl. BGH LM Nr. 3 zu § 275 ZPO; BAG AP Nr. 1 zu § 275 ZPO). Die fälschliche Bezeichnung des angefochtenen Urteils als "Zwischenurteil" ist somit für die Statthaftigkeit der Revision unschädlich.

Die Revision des Beklagten ist begründet.

Bei einer zugelassenen Revision hat das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen, ob diejenigen Voraussetzungen erfüllt sind, von denen die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes abhängt. Dabei sind insbesondere solche Mängel zu berücksichtigen, die sich aus dem Fehlen unverzichtbarer Prozeßvoraussetzungen ergeben, gleichgültig, ob der Mangel nur das Revisionsverfahren oder schon das Klage- und Berufungsverfahren betrifft. Zu diesen Prozeßvoraussetzungen gehört auch die Zulässigkeit der Klage und der Berufung (BSGE 2, 225, 226 f.; 39, 20, 21).

Die Klage auf Erteilung eines Widerspruchsbescheides ist statthaft (vgl. BSGE 19, 164, 167) und zulässig gewesen. Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler in der Erhebung des zusätzlichen prozessualen Anspruchs eine - auch in der Berufungsinstanz noch zulässige (BSGE 8, 113, 115) - Klageänderung gesehen (vgl. BSGE 37, 245, 247) und sie für sachdienlich gehalten (§ 99 Abs. 1 SGG). Zwar ist die Sachdienlichkeit zu verneinen, wenn die Prozeßvoraussetzungen der Klage oder der Berufung fehlen und deswegen die geänderte Klage als unzulässig abgewiesen werden müßte (Peters-Sautter-Wolff, aaO., § 99, Anm. 2). Das Berufungsgericht hat jedoch die geänderte Klage zutreffend für zulässig erachtet. Dem steht nicht entgegen, daß im Zeitpunkt ihrer Erhebung mit dem am 29. März 1976 eingegangenen Schriftsatz der Klägerin die dreimonatige Wartefrist des § 88 Abs. 2 Satz 1 SGG seit Einlegung des Widerspruchs (Schriftsatz vom 6. März 1976) noch nicht abgelaufen war. Der Einhaltung der dreimonatigen Wartefrist bedarf es nicht in jedem Fall (a. M. Peters-Sautter-Wolff aaO., § 88, Anm. 2 und 4). Dies gilt zumindest dann, wenn die Verwaltungsbehörde bereits vor Ablauf der Frist eindeutig und unmißverständlich zu erkennen gegeben hat, sie werde über den Widerspruch nicht entscheiden. In diesem Fall fehlt ein sachlicher Grund dafür, den Widersprechenden auf die Frist des § 88 Abs. 2 Satz 1 SGG zu verweisen und seine vor ihrem Ablauf erhobene Klage als unzulässig abzuweisen. So liegt der Fall hier; der Beklagte hat im Schriftsatz vom 19. März 1976 eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß er über den Widerspruch der Klägerin nicht zu entscheiden beabsichtige.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist in Streitigkeiten über Feststellungen nach § 3 Abs. 1 SchwbG eine Anfechtungsklage auch ohne Vorverfahren zulässig (§ 78 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Angelegenheiten aus dem Bereich des Schwerbehindertengesetzes sind in § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG zwar nicht ausdrücklich genannt worden. Für Streitigkeiten über Feststellungen nach § 3 Abs. 1 SchwbG sind jedoch die besonderen Vorschriften des SGG für die Kriegsopferversorgung anwendbar (§ 3 Abs. 5 - jetzt Abs. 6 i. d. F. des Achten Anpassungsgesetzes - KOV vom 14. Juni 1976; BGBl. I S. 1481 - Satz 2 SchwbG). Hierzu gehört auch § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG.

Die Vorschrift gilt nicht nur für reine Anfechtungsklagen, sondern auch, wenn der Betroffene neben der Aufhebung oder Abänderung des Verwaltungsaktes, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht, zugleich die Verurteilung des beklagten Versicherungs- oder Versorgungsträgers zur Gewährung der Leistung oder zur Erteilung eines entsprechenden Bescheides, oder die Feststellung der Leistung begehrt. Hiervon sind für den Fall der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) der erkennende Senat (Urteil vom 10. März 1976 - 10 RV 185/75 -) und der 9. Senat (Urteil vom 14. Juli 1976 - 9 RV 176/75 -) schon bisher ausgegangen. Dies entspricht dem Sinn und Zweck des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG. Eine Beschränkung des Wahlrechts zwischen Widerspruch und Klage auf die Fälle der reinen Anfechtungsklage würde der Vorschrift weitgehend ihre praktische Bedeutung nehmen. Kann nämlich das erstrebte Prozeßziel nur durch eine zusammengefaßte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) erreicht werden, so ist eine reine Anfechtungsklage wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig (BSG SozR RVO § 1613 Nr. 4). Eine Beschränkung des Anwendungsbereiches des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG auf die Fälle der reinen Anfechtungsklage würde somit dem Betroffenen ein Wahlrecht zwischen Widerspruch und Klage nur dann einräumen, wenn die Klage unzulässig und deswegen dem Gericht eine sachliche Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes von vornherein verwehrt ist. Dies ist mit Sinn und Zweck der Vorschrift nicht vereinbar, durch welche gerade eine sachliche Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes unmittelbar durch das Gericht unter Vermeidung des Vorverfahrens ermöglicht werden soll. Im Falle der Verbindung einer Verpflichtungsklage auf Erteilung eines neuen Bescheides über die Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, oder einer Klage auf Feststellung dieser Leistung bzw. der Verpflichtung zu ihrer Gewährung können diese Erwägungen allerdings nicht in gleicher Weise durchgreifen. Die Verpflichtungs- bzw. Feststellungsklage müßte, weil der Anspruch im Wege der Leistungsklage geltend gemacht werden kann, mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig abgewiesen werden (zur Verpflichtungsklage vgl. BSGE 8, 3, 5 ff.; zur Feststellungsklage BSGE 5, 121, 123; 7, 3, 6). Dies ändert jedoch nichts daran, daß der zugrundeliegende Verwaltungsakt eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Allein dies ist für die Anwendbarkeit des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG maßgebend; unerheblich ist, ob mit der Anfechtungsklage zugleich eine - im Regelfall unzulässige - Verpflichtungs- oder Feststellungsklage erhoben wird. Bezüglich der Verpflichtungsklage steht dem § 78 Abs. 3 SGG nichts entgegen. Er erfaßt nicht grundsätzlich alle Verpflichtungsklagen. Maßgebend für die Abgrenzung des § 78 Abs. 3 SGG gegenüber Abs. 2 ist nicht die Art der erhobenen Klage, sondern die Art des geltend gemachten Anspruchs (Rechtsanspruch oder aber Anspruch auf eine im Ermessen der Verwaltung stehende Leistung) (vgl. Urteil des Senats vom 10. März 1976 - 10 RV 185/75 -). Wird daher neben der Anfechtung eines Verwaltungsaktes, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht, die Leistung selbst im Wege der Verpflichtungsklage geltend gemacht, so ist ungeachtet der Zulässigkeit einer solchen Klage nicht Abs. 3, sondern Abs. 2 des § 78 SGG anwendbar mit der Folge, daß der Kläger auch in diesem Falle unmittelbar Klage erheben kann.

Die von der Klägerin begehrte Feststellung nach § 3 Abs. 1 SchwbG - die Erteilung einer Bescheinigung nach § 3 Abs. 4 Satz 1 SchwbG bzw. eines Ausweises nach § 3 Abs. 5 Satz 1 SchwbG i. d. F. des 8. AnpG-KOV ist nicht im Streit - ist eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Nach dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 SchwbG hat der Behinderte bei Erfüllung der sachlichen Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf die Feststellung der Behinderung und des Grades der auf ihr beruhenden MdE. Diese Feststellung ist eine "Leistung" i. S. des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG.

Der Begriff der "Leistung" ist weder in dieser noch in anderen Vorschriften des SGG definiert worden und daher durch Auslegung zu ermitteln. In dem hier maßgeblichen Umfang stimmt § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG mit § 54 Abs. 4 SGG wortgenau überein. Diesem wiederum entspricht hinsichtlich der Verwendung des Begriffs der "Leistung" § 54 Abs. 5 SGG (vgl. auch § 79 Abs. 1 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung). Den Begriff der "Leistung" verwendet das SGG auch an anderen Stellen (§§ 144, 147, 149 SGG). § 130 Satz 1 SGG trifft eine Regelung für den Fall, daß eine "Leistung in Geld" verlangt wird. Die genannten Vorschriften und die zu ihnen entwickelten Rechtsgrundsätze sind zur Auslegung des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG heranzuziehen, soweit nicht Sinn und Zweck der jeweiligen Bestimmung und ihr sachlicher Zusammenhang dem entgegenstehen.

Ob - ähnlich wie im Rahmen des § 144 SGG (vgl. dazu BSGE 22, 181 m. w. N.; Urteil des 7. Senats vom 22. September 1976 - 7 RAr 107/75 -) - eine "Leistung" im Sinne des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG nur der Anspruch des einzelnen gegen die öffentliche Hand oder aber auch jedes pflichtige Tun, Unterlassen oder Dulden eines Leistungspflichtigen gegenüber der leistungsberechtigten Verwaltung ist (so zu § 54 Abs. 4 SGG Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl., § 54, Randnote 4), braucht nicht erörtert zu werden. Ansprüche des einzelnen gegen die öffentliche Hand gehören - vorbehaltlich der folgenden Ausführungen - jedenfalls zu den Leistungen i. S. des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG. Nur derartige Ansprüche sind hier im Streit.

Für die Frage, ob die Feststellung nach § 3 Abs. 1 SchwbG eine "Leistung" darstellt, ist es entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts unerheblich, daß die Klägerin ihr sachliches Begehren in Form der Feststellungsklage verfolgt. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG zu § 144 Abs. 1 SGG ist für die hierin vorgenommene Unterscheidung die prozessuale Gestalt der Klage (Anfechtungs-, Leistungs-, Feststellungsbegehren) ohne Bedeutung und allein der materielle Kern des Verfahrens, d. h. die Frage entscheidend, welches Ziel der Kläger mit seinem Klagebegehren sachlich verfolgt (BSGE 4, 206, 208; 18, 266, 267 f.; BSG SozR SGG § 144 Nr. 29; Urteil des 7. Senats vom 22. September 1976 - 7 RAr 107/75 -). Dasselbe gilt im Rahmen des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG. Auch insoweit ist das prozessuale Gewand der Klage unerheblich und allein maßgebend, ob das sachliche Klagebegehren eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht.

§ 78 Abs. 2 Satz 1 SGG erfaßt nicht nur Leistungsansprüche in Geld. Das ergibt schon ein Vergleich mit § 130 Satz 1 SGG. Nur darin ist eine Regelung für den Fall getroffen worden, daß eine "Leistung in Geld" verlangt wird. Der in § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG verwendete Begriff der "Leistung" ist weitreichender und umfassender. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift stützt die gegenteilige Auffassung des Berufungsgerichts nicht. § 78 Abs. 2 SGG in seiner ab 1. Januar 1975 geltenden Fassung geht auf den von der Bundesregierung beschlossenen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (BT-Drucks. 7/861) zurück. Hiernach sollte in Angelegenheiten der Unfallversicherung und der Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten die Anfechtungsklage auch ohne Vorverfahren zulässig sein, wenn die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Damit sollte einerseits vermieden werden, daß der Versicherte zur Anfechtung bestimmter Verwaltungsakte ausschließlich auf die Möglichkeit der Klage angewiesen ist. Andererseits aber sollte er, um der Befürchtung entgegenzuwirken, durch die obligatorische Vorschaltung eines Vorverfahrens könne das Verfahren in manchen Fällen verlängert werden, in gleichem Umfange wie bisher den Bescheid unmittelbar mit der Klage angreifen können (vgl. BT-Drucks. 7/861, S. 9). Insofern schließt die neue Regelung an § 79 Nr. 1 SGG a. F. an, welcher das obligatorische Vorverfahren nur für den Fall vorgeschrieben hatte, daß mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der nicht eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Auf Vorschlag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung sind sodann in die Regelung des § 78 Abs. 2 SGG n. F. die Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung einbezogen worden, um den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, auch in diesen Angelegenheiten ohne Vorverfahren unmittelbar mit der Klage die Anfechtung eines Verwaltungsaktes zu betreiben, wenn dieser eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht (BT-Drucks. 7/2024, S. 4 und 8). Die Bedeutung der Neuregelung liegt demnach darin, daß dem durch einen Verwaltungsakt Betroffenen gegenüber dem früheren Rechtszustand einerseits (Unfallversicherung und Rentenversicherung) die Möglichkeit eingeräumt wird, ein Vorverfahren durchführen zu lassen, er aber andererseits (Kriegsopferversorgung) ohne Vorverfahren unmittelbar Anfechtungsklage erheben kann (vgl. Urteil des 9. Senats vom 14. Juli 1976 - 9 RV 176/75 -). Hinsichtlich des Begriffs der "Leistung" hingegen ist im Vergleich zu § 79 Nr. 1 SGG a. F. eine Neuregelung weder beabsichtigt gewesen noch getroffen worden. Zu den Leistungen i. S. des § 79 Nr. 1 SGG a. F. haben nicht nur Geldleistungen gehört. So hat der 6. Senat des BSG (BSGE 7, 292, 293) vor Erhebung der Anfechtungsklage gegen die von einer Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) erteilte Genehmigung zur Einsetzung eines Vertreters für die Hinterbliebenen eines verstorbenen Kassenarztes ein Vorverfahren nach §§ 78, 79 Nr. 1 SGG für erforderlich gehalten und demnach die Erteilung der Genehmigung als "Leistung" angesehen. Dasselbe hat er für die Entscheidung einer KÄV über die Beteiligung eines von mehreren Bewerbern an der Ersatzkassenpraxis ausgesprochen (BSG SozR SGG § 79 Nr. 9). Der 2. Senat des BSG (BSGE 37, 267, 268) hat für die Klage gegen die Ablehnung einer Bestellung zum Durchgangsarzt die Voraussetzungen des § 79 Nr. 1 SGG a. F. grundsätzlich als erfüllt und damit die Bestellung zum Durchgangsarzt als "Leistung" angesehen. Ähnlich weit gefaßt worden ist der Begriff der Leistung i. S. des § 144 Abs. 1 SGG. Hierzu zählt etwa eine Heilbehandlung i. S. des § 1237 Abs. 1 und 2 RVO a. F. (BSG SozR SGG § 144 Nr. 29). Nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Dezember 1972 (BSG SozR SGG § 144 Nr. 30) stellt die Erteilung einer Bestätigung nach § 8 GrEStG über die Erfüllung der Voraussetzungen für den Anspruch auf Kapitalabfindung nach §§ 72 ff. BVG eine "Leistung" i. S. des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG dar; als solche ist eine vom Staat oder von einem öffentlich-rechtlichen Versorgungs- oder Versicherungsträger zu bewirkende Handlung zu verstehen, die dieser Träger aufgrund seiner zum Sozialrecht gehörenden Aufgabenstellung vorzunehmen hat und aus der für den einzelnen ein rechtlicher Vorteil erwächst.

Dieser Begriff der "Leistung" ist - soweit es um Ansprüche des einzelnen gegen die öffentliche Hand geht - auch im Rahmen des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG maßgebend. Damit gehören einerseits zu den Leistungen nicht nur Ansprüche auf Geldleistungen. Andererseits ist nur diejenige Handlung eines Versorgungs- oder Versicherungsträgers eine Leistung, die konstitutive Wirkung hat und zu einer unmittelbaren Verbesserung der Rechtsposition des einzelnen führt. Eine Handlung mit lediglich deklaratorischer Bedeutung ohne unmittelbaren und gegenwärtigen Einfluß auf die Rechtsstellung des einzelnen stellt hingegen keine Leistung i. S. des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG dar.

Die Feststellung einer Behinderung und des Grades der auf ihr beruhenden MdE nach § 3 Abs. 1 Satz 1 SchwbG ist in diesem Sinne eine Leistung. Sie führt zu einer gegenwärtigen und unmittelbaren Verbesserung der Rechtsposition des Antragstellers. Bei Erfüllung der sachlichen Voraussetzungen des § 1 SchwbG wird der Behinderte schon durch die Feststellung nach § 3 Abs. 1 SchwbG in den Schutz des Gesetzes einbezogen. Zwar dient als Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft im Regelfall die nach § 3 Abs. 4 SchwbG auszustellende Bescheinigung bzw. der nach § 3 Abs. 5 SchwbG in der Fassung des 8. AnpG-KOV zu erteilende Ausweis. Diese sind jedoch nicht die einzigen Beweismittel und keine Voraussetzung für den Schutz des SchwbG. Schon die nichtrechtskräftige Feststellung nach § 3 Abs. 1 SchwbG kann die Schwerbehinderteneigenschaft nachweisen und zur Einbeziehung des Antragstellers in den Schutzbereich des Gesetzes führen (vgl. Wilrodt-Neumann, Schwerbehindertengesetz, 4. Aufl 1976, § 3, Randnoten 32 und 38). Insofern hat sie eine konstitutive Bedeutung; die Rechtsstellung des Behinderten wird gegenwärtig und unmittelbar verbessert.

Der Bescheid des Versorgungsamts Hildesheim vom 18. August 1975 hat demnach wahlweise mit dem Widerspruch oder mit der Klage angefochten werden können. Ein Vorverfahren ist nicht zwingende Prozeßvoraussetzung für die Klage auf Abänderung des Bescheides gewesen. Dies muß unter Aufhebung des angefochtenen Teilurteils zur Abweisung der Klage führen. Der Senat konnte insoweit in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Für die vom Beklagten beantragte Zurückverweisung der Sache bestand kein Anlaß. Das Berufungsgericht wird nunmehr über den bei ihm noch anhängigen Teil des Rechtsstreits (Berufungsanträge zu 2 und 3) zu entscheiden und dabei gemäß § 193 Abs. 1 SGG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

DVBl. 1979, 89

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