Leitsatz (amtlich)

Die Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes (RVO § 1268 Abs 2 S 1 Nr 2) endet mit dessen Volljährigkeit.

 

Orientierungssatz

Nachholung der unterlassenen Anhörung im Widerspruchsverfahren.

Von einer gebotenen Anhörung Beteiligter iS von SGB 1 § 34 kann nicht abgesehen werden, weil die erhöhte Witwenrente bei Wegfall der anspruchsbegründenden Tatsachen kraft Gesetzes wegfällt (vgl BSG 1980-06-26 5 RJ 86/79). Eine unterlassene Anhörung im Vorverfahren kann mit der Folge nachgeholt werden, daß der Mangel geheilt und als nicht vorhanden angesehen wird (vgl BSG 1979-01-25 3 RK 35/77 = SozR 1200 § 34 Nr 7). Das gilt auch dann, wenn die Widerspruchsstelle keinen Widerspruchsbescheid erläßt, sondern den Widerspruch gemäß SGG § 85 Abs 4 dem SG als Klage zuleitet (vgl BSG 1980-07-24 5 RKn 9/79 = SozR 1200 § 34 Nr 13).

 

Normenkette

RVO § 1268 Abs 2 S 1 Nr 2 Fassung: 1975-05-07; SGB 1 § 34 Abs 1 Fassung: 1975-12-11; SGG § 85 Abs 4 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 04.02.1980; Aktenzeichen L 2 J 149/79)

SG Mainz (Entscheidung vom 22.05.1979; Aktenzeichen S 4 J 115/79)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin über den 31. August 1978 hinaus einen Anspruch auf die erhöhte Witwenrente nach § 1268 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.

Die Beklagte gewährte der am 21. Juli 1935 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 17. August 1978 die erhöhte Witwenrente nach § 1268 Abs 2 RVO aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes für die Zeit vom 25. Mai 1978 bis zum 31. August 1978. Der am 9. August 1960 geborene Sohn Frank der Klägerin erhält von der Beklagten wegen fortdauernder Berufsausbildung die Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus. Mit Bescheid vom 19. September 1978 gewährte die Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 1. September 1978 an die einfache Witwenrente nach § 1268 Abs 1 RVO. Die Widerspruchsstelle der Beklagten leitete den Widerspruch der Klägerin gemäß § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) dem Sozialgericht (SG) als Klage zu.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 22. Mai 1979 abgewiesen. Es hat die Ansicht vertreten, eine Anhörung der Klägerin nach § 34 des Allgemeinen Teils zum Sozialgesetzbuch (SGB 1) sei nicht erforderlich gewesen, weil die Leistung kraft Gesetzes weggefallen sei. Die Voraussetzungen des § 1268 Abs 2 RVO lägen nicht vor, denn die Klägerin erziehe seit der Volljährigkeit ihres Sohnes kein waisenrentenberechtigtes Kind. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 4. Februar 1980 zurückgewiesen. Es hat unter Hinweis auf § 202 SGG und § 543 der Zivilprozeßordnung (ZPO) auf das erstinstanzliche Urteil Bezug genommen und insoweit von einer eigenen Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen. Darüber hinaus hat es im wesentlichen ausgeführt, die Erziehungspflicht, an die § 1268 Abs 2 RVO anknüpfe, bestehe nur bis zum Eintritt der Volljährigkeit. Wegen der unveränderten Zweckbestimmung des § 1268 Abs 2 RVO müsse zwangsläufig mit der seit dem 1. Januar 1975 vorverlegten Befreiung der Witwe von ihrer Erziehungspflicht der Wegfall des Anspruchs auf erhöhte Witwenrente verbunden sein. Diese Rechtsauffassung liege auch der Übergangsvorschrift nach Art 10 Nr 3 des Neuregelungsgesetzes zugrunde.

Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Die Klägerin ist der Ansicht, die Voraussetzungen für die erhöhte Witwenrente nach § 1268 Abs 2 RVO hätten auch über den 31. August 1978 hinaus vorgelegen, da ihr Sohn wegen der fortdauernden Berufsausbildung Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus erhalte. Obwohl ihr Sohn mit der Vollendung des 18. Lebensjahres volljährig geworden sei, stehe er noch nicht auf eigenen Füßen und bedürfe ihrer Erziehung.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts

Mainz vom 22. Mai 1979 sowie den Bescheid der Beklagten

vom 19. September 1978 aufzuheben und die Beklagte zu

verurteilen, an die Klägerin die große Witwenrente zu

zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige und begründete Revision der Klägerin führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Das LSG hat zwar zu Unrecht den § 543 ZPO über § 202 SGG fgr entsprechend anwendbar gehalten und unter Verweisung auf das erstinstanzliche Urteil insoweit von einer eigenen Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen (vgl hierzu BSG SozR 1750 § 543 Nr 2). Das ist aber unschädlich, weil das Berufungsurteil trotz der Bezugnahme auf das erstinstanzliche Urteil eigene Tatsachenfeststellungen und Entscheidungsgründe enthält, die das Urteil in sich verständlich erscheinen lassen.

Die Beklagte hat es versäumt, der Klägerin vor Erlaß des angefochtenen Bescheides vom 19. September 1978 gemäß § 34 Abs 1 SGB 1 Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Entgegen der vom LSG gebilligten Ansicht des SG konnte die Beklagte nicht deshalb von der gebotenen Anhörung absehen, weil die erhöhte Witwenrente bei Wegfall der anspruchsbegründenden Tatsachen kraft Gesetzes wegfällt (vgl hierzu Urteile des erkennenden Senats vom 28. Mai 1970 - 5 RKnU 6/79 - und vom 26. Juni 1980 - 5 RJ 86/79 -). Dieser Mangel ist im vorliegenden Fall aber unerheblich. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits mehrfach entschieden, daß die unterlassene Anhörung im Vorverfahren mit der Folge nachgeholt werden kann, daß der Mangel geheilt und als nicht vorhanden angesehen wird (vgl BSG SozR 1200 § 34 Nrn 1, 7). Das gilt auch dann, wenn - wie hier - die Widerspruchsstelle keinen Widerspruchsbescheid erläßt, sondern den Widerspruch gemäß § 85 Abs 4 SGG dem SG als Klage zuleitet (vgl Urteile des erkennenden Senats vom 24. Juli 1980 - 5 RKnU 1/79 und 5 RKn 9/79).

Den Urteilen der Vorinstanzen ist darin zuzustimmen, daß die Klägerin über den 31. August 1978 hinaus kein waisenrentenberechtigtes Kind iS des § 1268 Abs 2 Nr 2 RVO erzogen hat. Zwar ist der Sohn der Klägerin wegen der fortdauernden Schulausbildung auch über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus waisenrentenberechtigt. Der Klägerin oblag aber seit diesem Zeitpunkt nicht mehr seine Erziehung. Im Regelfall endet die Erziehung eines Kindes mit dem Eintritt seiner Volljährigkeit (vgl BSGE 27, 139, 140 = SozR Nr 9 zu § 1268 RVO; BSGE 38, 44, 45 = SozR 2200 § 1268 Nr 3 und BSG SozR 2200 § 1268 Nr 12). Zwar ist der Gesetzgeber in § 1268 Abs 2 Nr 2 RVO noch von der damals geltenden Volljährigkeitsgrenze von 21 Jahren ausgegangen. Er hat aber nicht dieses Lebensalter, sondern die Erziehungspflicht der Witwe zum Tatbestandsmerkmal erhoben. Für den Anspruch auf die erhöhte Witwenrente ist es gleichgültig, aus welchen Gründen die Erziehungspflicht der Witwe nicht vorhanden ist oder wegfällt. Das Gesetz zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters vom 31. Juli 1974 (BGBl I, 1713) hat die Volljährigkeitsgrenze auf die Vollendung des 18. Lebensjahres herabgesetzt. Das hat zur Folge, daß die Erziehungspflicht der Klägerin mit der am 9. August 1978 eingetretenen Volljährigkeit ihres Sohnes endete. Davon ist auch der Gesetzgeber ausgegangen (vgl BT-Drucks 7/1752, Bericht des Rechtsausschusses zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters, S 7; BT-Drucks 7/3237, Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter, S 8). Nach § 1268 Abs 2 Nr 2 RVO kommt es nicht darauf an, ob die rentenberechtigte Waise der finanziellen und sonstigen Fürsorge durch die Witwe bedarf. Das Gesetz geht davon aus, daß die nicht berufsunfähige Witwe, die nicht durch die Erziehung eines Kindes zeitlich gebunden ist, vor Vollendung des 45. Lebensjahres der erhöhten Witwenrente nicht bedarf, weil sie einer Berufstätigkeit nachgehen kann. Eine Ausnahme macht das Gesetz nur für den Fall, daß die Witwe für eine körperlich oder geistig gebrechliche Waise sorgt. Daß auch der Gesetzgeber von dem Wegfall der erhöhten Witwenrente bei Eintritt der Volljährigkeit der Waise ausgeht, zeigt insbesondere die Übergangsregelung des Art 10 Nr 3 Abs 1 des Gesetzes vom 31. Juli 1974. Nach dieser Vorschrift ist die Rente nach § 1268 Abs 2 Nr 2 RVO, auf die am 1. Januar 1975 wegen der Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes Anspruch besteht und deren Voraussetzungen entfallen, weil das Kind aufgrund dieses Gesetzes volljährig wird, bis zum Ablauf des Monats, in dem das Kind das 21. Lebensjahr vollendet, zu zahlen. Dieser Regelung hätte es nicht bedurft, wenn die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters auf den Anspruch auf erhöhte Witwenrente keinen Einfluß gehabt hätte.

Schließlich ist - wie das Bundesverfassungsgericht bereits mit Beschluß vom 24. Oktober 1979 (1 BvR 972/79) entschieden hat - die Regelung, daß die Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes mit dessen Volljährigkeit endet (§ 45 Abs 2 Nr 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes § 1268 Abs 2 Nr 2 RVO), auch nicht grundgesetzwidrig.

Gleichwohl muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden, denn es enthält keine Tatsachenfeststellungen zu den übrigen Anspruchsvoraussetzungen des § 1268 Abs 2 Nr 2 RVO. Nach dieser Vorschrift stände die erhöhte Witwenrente der Klägerin auch vor Vollendung des 45. Lebensjahres dann zu, wenn sie entweder berufsunfähig iS des § 1246 Abs 2 RVO oder gar erwerbsunfähig iS des § 1247 Abs 2 RVO wäre. Das hat die Klägerin zwar nicht geltend gemacht, jedoch sind im Rahmen eines erhobenen Anspruchs alle Voraussetzungen von Amts wegen zu prüfen, die den Anspruch rechtfertigen könnten. Das Berufungsurteil enthält keinerlei Feststellungen zu der Frage, welche beruflichen Tätigkeiten die Klägerin seit August 1978 verrichten konnte.

Auf die danach begründete Revision der Klägerin hat der erkennende Senat das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen an das LSG zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Breith. 1981, 596

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