Entscheidungsstichwort (Thema)

Erhöhte Witwenrente wegen Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes. Herabsetzung des Volljährigkeitsalters

 

Orientierungssatz

1. Die Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes (RVO § 1268 Abs 2 S 1 Nr 2) endet mit dessen Volljährigkeit (vgl BSG 1980-09-11 5 RJ 40/80 = SozR 2200 § 1268 Nr 16).

2. Es besteht kein Anlaß, unter den Aspekten des VolljG wegen der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters andere Überlegungen anzustellen. In § 45 Abs 2 S 1 Nr 2 AVG (= RVO § 1268 Abs 5 S 1 Nr 2) hat der Gesetzgeber nicht auf das Lebensalter des Kindes, sondern auf das Recht und die Pflicht der Witwe abgestellt, das Kind zu erziehen. Darauf, ob das noch waisenrentenberechtigte Kind über das 18. Lebensjahr hinaus weiterhin erzieherisch betreut wurde, kommt es nicht an.

3. Die Zahlung der erhöhten Witwenrente bis zur Beendigung der Erziehung des waisenrentenberechtigten Kindes mit dessen Volljährigkeit, das mit dem GG in Einklang steht. GG Art 3 Abs 1 Art 14 Abs 1 und Art 20 sind nicht verletzt (vgl BVerfG 1979-10-24 1 BvR 972/79).

 

Normenkette

AVG § 45 Abs 2 S 1 Nr 2 Fassung: 1975-05-07; RVO § 1268 Abs 2 S 1 Nr 2 Fassung: 1975-05-07; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 14 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; VolljG Fassung: 1974-07-31; GG Art 20 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; BGB § 2 Fassung: 1974-07-31

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 21.08.1979; Aktenzeichen L 6 An 1329/78)

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 27.06.1978; Aktenzeichen S 6 An 322/78)

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung der erhöhten Witwenrente nach der Nr 2 des § 45 Abs 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) von Januar bis November 1978.

Die im Dezember 1933 geborene Klägerin ist die Witwe des Versicherten R W (W). Aus der Ehe stammen die waisenrentenberechtigten Töchter C W (geboren am 26. Februar 1956) und G W (geboren am 16. November 1957), die sich über das 18. Lebensjahr hinaus in Schul- bzw Berufsausbildung befanden. Im Dezember 1977 kündigte die Beklagte der Klägerin an, die ihr nach dem Tode von W gewährte erhöhte Witwenrente werde am 31. Dezember 1977 aufgrund von Art 10 Nr 3 Abs 2 des Gesetzes zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters vom 31. Juli 1974 - VolljG- (BGBl I 1713) enden; ab Januar 1978 stehe Witwenrente nur noch nach § 45 Abs 1 AVG zu, Überzahlungen würden nach § 80 AVG zurückgefordert. Mit Bescheid vom 26. Januar 1978 wandelte die Beklagte der Ankündigung entsprechend die Rente um (Zahlbetrag monatlich 238,20 DM gegenüber 772,30), stellte die laufende Zahlung in neuer Höhe ab April 1978 in Aussicht und bat, die (bis dahin) überzahlten 1.602,30 DM zurückzuüberweisen. Die Rentenumwandlung begründete sie damit, daß die Klägerin das 45. Lebensjahr noch nicht vollendet und mit der Volljährigkeit der Töchter kein waisenrentenberechtigtes Kind mehr zu erziehen habe.

Die hiergegen erhobene Klage und die Berufung blieben erfolglos. Unter Hinweis auf den während des Berufungsverfahrens ergangenen weiteren Umwandlungsbescheid, mit dem die Beklagte der Klägerin ab Januar 1979 nach der Nr 1 des § 45 Abs 2 AVG wegen Vollendung des 45. Lebensjahres wieder die erhöhte Witwenrente gewährt, hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt, für das Jahr 1978 habe die Klägerin nur die auf der Grundlage von § 45 Abs 1 AVG berechnete einfache Witwenrente zu beanspruchen. Die Voraussetzungen für die erhöhte Witwenrente wegen der Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes nach Abs 2 Nr 2 - die weiteren in dieser Nummer genannten Tatbestände kämen nicht in Betracht - erfülle sie schon seit November 1975 nicht mehr; in diesem Monat sei ihre jüngere Tochter 18 Jahre und damit volljährig geworden (§ 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs -BGB- in der seit 1. Januar 1975 geltenden Fassung). Allein die Übergangsregelung in Art 10 Nr 3 Abs 2 VolljG habe es ermöglicht, noch bis zum 31. Dezember 1977 die höhere Leistung weiterzugewähren. Verfassungsrecht (Art 14, 20 des Grundgesetzes -GG-) seit mit der Regelung nicht verletzt.

Ein ausdrücklicher Rückforderungsbescheid liege bisher nicht vor. Sollte die Beklagte sich zur Rückforderung des überzahlten Betrages entschließen, müßte sie nach Durchführung der erforderlichen Ermittlungen einen solchen Bescheid erlassen.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision beantragt die Klägerin (sinngemäß),

1. das angefochtene Urteil aufzuheben und die

Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung

an das LSG zurückzuverweisen,

2. hilfsweise,

die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid

der Beklagten vom 26. Januar 1978 aufzuheben,

3. weiter hilfsweise,

die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

darüber einzuholen, ob Art 10 Nr 3 VolljG

mit Art 14 und 3 GG vereinbar ist.

Sie meint, der erste Bewilligungsbescheid über die erhöhte Witwenrente habe ihr eine unentziehbare Anwartschaft auf diese Leistung eingeräumt bis November 1978, dem Monat der Volljährigkeit ihrer jüngeren Tochter nach altem Recht. Die Neuregelung der Volljährigkeit in Verbindung mit dem Umwandlungsbescheid bewirke eine entschädigungslose Enteignung in Höhe des Differenzbetrages der Renten nach § 45 Abs 2 Nr 2 und Abs 1 AVG. Auch sei der Gleichheitssatz verletzt, denn die in Art 10 Nr 3 VolljG vorgenommene Unterteilung der Personenkreise sei sachlich nicht gerechtfertigt. Überdies habe sie ihre Töchter auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres weiter erzogen; die neue Volljährigkeitsregelung habe in den Lebensverhältnissen keine Änderung bewirkt.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet; von Januar bis November 1978, für welche Zeit die Klägerin die erhöhte Witwenrente begehrt, steht ihr die Leistung nicht zu.

Da nach dem Sachverhalt die Klägerin das 45. Lebensjahr erst im Dezember 1978 vollendet hat (vgl § 45 Abs 2 Nr 1 AVG) und sie während der besagten Monate weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig war im Sinne von §§ 23 Abs 2, 24 Abs 2 AVG, noch für ein Kind zu sorgen hatte, das wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen Waisenrente erhielt (vgl § 45 Abs 2 Nr 2 Alternative 1 bzw 3 AVG), kommt es darauf an, ob sie von Januar bis November 1978 (mindestens) ein waisenrentenberechtigtes Kind erzog (§ 45 Abs 2 Nr 2 Alternative 2 AVG). Dies war nicht der Fall. Die jüngere Tochter war wegen andauernder Schul- bzw Berufsausbildung zwar in der Zeit noch waisenrentenberechtigt gemäß § 44 Abs 1 Satz 2 AVG; die Klägerin hat sie jedoch nicht mehr erzogen. Denn mit der Vollendung des 18. Lebensjahres wurde die Tochter nach § 2 BGB idF des seit 1. Januar 1975 geltenden VolljG volljährig und war der elterlichen Gewalt damit nicht mehr unterworfen (vgl § 1626 BGB).

Daß im Sinne von § 45 Abs 2 Nr 2 AVG (= § 1268 Abs 2 Nr 2 RVO) die Erziehung eines Kindes in aller Regel mit dem Eintritt der Volljährigkeit endet, ist vom Bundessozialgericht (BSG) schon mehrfach entschieden worden (BSGE 27, 139, 140; 38, 44, 45; SozR 2200 § 1268 Nr 12). Die Urteile betreffen zwar noch Fälle, in denen die Volljährigkeitsgrenze bei 21 Jahren lag; von dieser Grenze ist der Gesetzgeber bei der Schaffung der hier anzuwendenden Vorschrift sowie in den Parallelvorschriften der Reichsversicherungsordnung und des Reichsknappschaftsgesetzes auch ausgegangen. Wie der 5. Senat des BSG in seinem am 11. September 1980 ergangenen Urteil (5 RJ 40/80, zur Veröffentlichung bestimmt) dargelegt hat, besteht deshalb aber kein Anlaß, unter den Aspekten des VolljG wegen der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters andere Überlegungen anzustellen. Der Ansicht ist auch der erkennende Senat. In § 45 Abs 2 Nr 2 AVG hat der Gesetzgeber nicht auf das Lebensalter des Kindes, sondern auf das Recht und die Pflicht der Witwe abgestellt, das Kind zu erziehen. Darauf, ob das noch waisenrentenberechtigte Kind über das 18. Lebensjahr hinaus weiterhin erzieherisch betreut wurde, kommt es nicht an. Daß die neue Volljährigkeitsregelung in den Lebensverhältnissen keine Änderung bewirkt habe, wie die Klägerin vorträgt, ist deshalb ohne Bedeutung.

Daß diese Auslegung dem Willen des Gesetzgebers entspricht, wird durch die Übergangsregelung des VolljG bestätigt. Wie der Art 10 Nr 3 Abs 1 und 2 VolljG zeigt, geht der Gesetzgeber davon aus, daß die erhöhte Witwenrente bei Eintritt der Volljährigkeit des waisenrentenberechtigten Kindes wegfällt; gerade diese Folge hat ihn veranlaßt, die Vorschrift in der geschehenen Weise auszugestalten. In ihr hat er bestimmt, daß in den Fällen, in denen das waisenrentenberechtigte Kind beim Inkrafttreten des VolljG am 1. Januar 1975 das neue Volljährigkeitsalter von 18 Jahren bereits vollendet hatte, die erhöhte Witwenrente bis zum Ablauf des Monats weiterzuzahlen ist, in dem es das 21. Lebensjahr vollendet (Art 10 Nr 3 Abs 1 VolljG), dh längstens bis zum 31. Dezember 1977. Auf denselben Endtermin hat er gemäß dem Abs 2 die Gewährung der erhöhten Witwenrente begrenzt, wenn das Kind zwar erst nach dem 31. Dezember 1974, aber vor dem 1. Januar 1978 18 Jahre alt wird. Aufgrund dieser Übergangsvorschrift hat die Klägerin die Leistung bis zum 31. Dezember 1977 erhalten.

Verfassungswidrig ist die Regelung nicht.

Was die Beendigung der Erziehung des waisenrentenberechtigten Kindes mit dessen Volljährigkeit angeht, so hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits mit Beschluß vom 24. Oktober 1979 (1 BvR 972/79) entschieden, daß § 45 Abs 2 Nr 2 AVG mit dem GG insoweit in Einklang steht (vgl BSG aaO). Durch die im VolljG erfolgte Herabsetzung des Volljährigkeitsalters auf 18 Jahre wird dieser Grundsatz nicht berührt.

Auf eine Verletzung des Art 14 GG kann die Klägerin sich schon deshalb nicht berufen, weil hier nicht unmittelbar durch Gesetz in einen Rentenanspruch bzw in eine Anwartschaft auf eine Rente (in bestimmter Höhe) eingegriffen worden ist (siehe hierzu BVerfGE 45, 297, 325). Der zeitlich frühere Wegfall der höheren Leistung ist vielmehr eine Auswirkung dessen, daß der Gesetzgeber im VolljG die Volljährigkeitsgrenze vorverlegt hat. Der Klägerin ist entgegen ihrer Ansicht keine unentziehbare Anwartschaft auf Zahlung der großen Witwenrente bis zum 30. November 1978 eingeräumt gewesen. § 45 Abs 2 Nr 2 AVG sieht die erhöhte Leistung vor, "solange der Berechtigte ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht". Ein Anspruch bestand hiernach von vornherein nur so lange, wie diese Voraussetzung insgesamt erfüllt war. Des weiteren kommt die dem Gesetzgeber in Art 14 Abs 1 Satz 2 GG eingeräumte Regelungsbefugnis hinzu. Wenn sie es erlaubt, daß durch den Erlaß neuer, für die Zukunft geltender Vorschriften subjektive Rechte entzogen oder gemindert werden, die der einzelne aufgrund des alten Rechts erworben hatte (BVerfG 52, 1, 26 ff unter Hinweis auf 25, 112, 121 ff), so kann die hier getroffene, auf drei Jahre erstreckte Übergangsregelung nicht (nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) ungerechtfertigt sein.

Daß der Klägerin die erhöhte Witwenrente anstatt bis November 1978 nur bis Dezember 1977 gezahlt wird, verstößt auch nicht gegen Art 20 GG. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, zu dem außer der Voraussehbarkeit die Rechtssicherheit, die materielle Gerechtigkeit und der Vertrauensschutz gehören, verlangt es zwar, daß der einzelne vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt bewahrt bleibt. Doch ist es das Recht des Gesetzgebers, bestehende Sachverhalte durch eine Gesetzesänderung einer neuen Rechtslage zu unterwerfen, denn die Möglichkeit, durch neue Gesetze auf vorhandene Rechtsverhältnisse einzuwirken, ist der Gesetzgebung immanent (BVerfGE 17, 306, 313; 30, 392, 403; 48, 403, 415). Hiervon ausgehend hält der Senat die in Art 10 Nr 3 Abs 2 VolljG getroffene Übergangsregelung auch für rechtsstaatlich unbedenklich. Durch sie wurde die Klägerin in die Lage versetzt, sich während zweier Jahre mit ihren Dispositionen auf die veränderte Rechtslage einzustellen; damit ist insbesondere ihrem Anspruch auf Schutz des Vertrauens in eine bestehende Rechtslage genügend Rechnung getragen.

Inwiefern die Übergangsregelung in dem hier in Betracht kommenden Umfang gegen Art 3 GG verstoßen soll, vermag der Senat nicht zu erkennen. Mit der Gruppe von Witwen, die Kinder erzogen, die erst nach dem 1. Januar 1978 volljährig wurden, kann die Klägerin sich nicht vergleichen, weil für sie im VolljG eine Übergangsregelung nicht vorgesehen ist. Ein Vergleich mit Witwen, deren Kinder am 1. Januar 1975 nach neuem Recht volljährig waren, zeigt indessen, daß sie ebenso wie die Klägerin nur bis zum 31. Dezember 1977 leistungsberechtigt gewesen sind. Abgesehen von ihrer nicht stichhaltigen Argumentation muß die Klägerin sich überdies entgegenhalten lassen, daß jede als Übergangsregelung konzipierte Vorschrift eine Stichtagsregelung enthalten muß. die den Anwendungsbereich der Übergangsregelung beschränkt; demnach ist die Bestimmung eines Stichtags als solche hier geboten und sachgerecht (vgl BVerfGE 29, 245, 258).

Nach alledem hatte der Senat keinen Anlaß, nach Art 100 Abs 1 GG das BVerfG anzurufen; die Revision war vielmehr zurückzuweisen. Die Rückforderung war nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658150

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