Entscheidungsstichwort (Thema)

Anhörung. Rentenumwandlung

 

Orientierungssatz

1. Bei der Regelung in SGB 1 § 34 Abs 2 Nr 3 handelt es sich nur um solche Angaben oder Erklärungen, die in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der durch die Verwaltung zu treffenden Entscheidung stehen.

2. Die Anhörung der Witwe vor Wegfall der Waisenrente enthält nicht gleichzeitig die Anhörung zu der Gewährung der einfachen Witwenrente. Von dieser Pflicht, die Witwe zu hören, ist der Versicherungsträger nicht deshalb entbunden, weil die Rechtsfolgen, die er auszusprechen gedachte, sich bereits aus dem Gesetz ergeben, also nur deklaratorischer Natur sind.

 

Normenkette

SGB 1 § 34 Abs 1 Fassung: 1975-12-11; SGB 1 § 34 Abs 2 Nr 3 Fassung: 1975-12-11; RVO § 1268 Abs 1; RVO § 1268 Abs 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 11.05.1979; Aktenzeichen L 4 J 234/78)

SG Dortmund (Entscheidung vom 26.10.1978; Aktenzeichen S 2 J 165/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, ab 1. Juni 1978 der Klägerin statt der erhöhten Witwenrente (§ 1268 Abs 2 Reichsversicherungsordnung -RVO-) die einfache Witwenrente (§ 1268 Abs 1 RVO) zu gewähren. Die Klägerin ist der Meinung, daß die Beklagte sie dabei nicht, wie in § 34 Abs 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch, Allgemeiner Teil (SGB 1) vorgeschrieben, angehört habe.

Die im April 1936 geborene Klägerin, Türkin und der deutschen Sprache nicht mächtig, ist die Witwe des im September 1973 verstorbenen Versicherten T. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen, der 1959 geborene Sohn M und die im Mai 1960 geborene Tochter S. Beide leben bei der Klägerin.

Bei ihrem Antrag auf Gewährung von Hinterbliebenenrente im Dezember 1973 gab die Klägerin in der beigefügten "Meldung zur Krankenversicherung der Rentner" an, beschäftigt und bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse pflichtversichert zu sein. Auf dem in deutscher Sprache abgefaßten Antragsformular für die Hinterbliebenenrente war in Kleindruck folgendes erläutert:

Einfache W-Rente: Berechtigter unter 45 Jahren,

sofern nicht die Voraussetzung für die erhöhte

W-Rente vorliegt (§ 1268 Abs 1 RVO).

Erhöhte W-Rente: Berechtigter über 45 Jahre oder

- falls jünger - solange der Berechtigte berufs- oder

erwerbsunfähig ist oder mindestens ein

waisenberechtigtes Kind erzieht (§ 1268 Abs 2 BVG).

Seit 1974 gewährte die Beklagte Halbwaisenrente für die Kinder und für die Klägerin erhöhte Witwenrente (§§ 1264, 1268 Abs 2 RVO).

Die Beklagte richtete im November 1976 eine Anfrage an die Klägerin, mit der sie auch, weil der Sohn M im Februar 1977 das 18. Lebensjahr vollendete, die Klägerin darüber belehrte, unter welchen Voraussetzungen die Waisenrente über das 18. Lebensjahr gewährt werden könne. Die Klägerin beantwortete die Anfrage dahingehend, daß ihr Sohn sich in einem Arbeitsverhältnis befinde. Die Beklagte entzog darauf mit Ablauf des Monats Februar 1977 die Waisenrente für den Sohn M.

Eine gleichlautende Anfrage wegen des jüngeren Kindes richtete die Beklagte im Februar 1978 an die Klägerin. Diese Anfrage beantwortete die Tochter der Klägerin selber und teilte mit, daß sie seit 1976 in einem Arbeitsverhältnis stehe. Darauf wurde auch die Halbwaisenrente für dieses Kind mit Ablauf des Monats Mai 1978 nicht mehr gewährt.

Mit Bescheid vom 28. März 1978 entzog die Beklagte mit Wirkung vom 1. Juni 1978 die bisher gewährte erhöhte Witwenrente und gewährte die einfache Witwenrente nach § 1268 Abs 1 RVO, weil die Klägerin das 45. Lebensjahr nicht vollendet habe, nicht berufs- oder erwerbsunfähig sei, kein waisenberechtigtes Kind erziehe und auch nicht für ein Kind sorge, das wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen eine Waisenrente erhalte.

Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten aufgehoben, weil dieser unter Verletzung der Anhörungspflicht des § 34 Abs 1 SGB 1 ergangen sei (Urteil vom 26. Oktober 1978). Mit Urteil vom 11. Mai 1979 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine falsche Anwendung des § 34 Abs 1 SGB 1. Sie trägt vor:

Der von ihr im März 1978 erlassene Bescheid, mit dem sie der Klägerin mitgeteilt habe, daß statt der erhöhten Witwenrente gem § 1268 Abs 2 RVO nunmehr die einfache Witwenrente gem § 1268 Abs 1 RVO gewährt werde, enthalte als deklaratorischen Verwaltungsakt keine eingreifende Regelung. Ein Verstoß gegen die Anhörungspflicht des § 34 SGB 1 könne auch nicht die Aufhebung eines Verwaltungsaktes rechtfertigen, wenn dieser seinem Regelungsinhalt nach, also materiell-rechtlich, richtig sei. Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes allein wegen der Verletzung des rechtlichen Gehörs stelle eine Art Zurückverweisung uer Streitsache an die Verwaltungsbehörde dar, die dem deutschen Sozialgerichtsprozeß fremd sei und im Ergebnis auch sinnlos erscheine. Denn die Beklagte müsse den gleichen Verwaltungsakt erneut erlassen, wenn er inhaltlich richtig ergangen sei. Die Gerichte dürften sich in solchen Fällen nicht darauf beschränken, allein die formelle Seite des angefochtenen Verwaltungsaktes nachzuprüfen, müßten vielmehr darüber hinaus den Bescheid darauf prüfen, ob er zu einem richtigen Ergebnis gelange.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des

Sozialgerichts Dortmund vom 26. Oktober 1978

aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zurückzuweisen. Zu Recht hat das LSG beanstandet, daß der Bescheid der Beklagten vom 28. März 1978 unter Verletzung der Anhörungspflicht des § 34 Abs 1 SGB 1 ergangen ist.

Nach § 34 Abs 1 SGB 1 ist einem Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, wenn ein Verwaltungsakt erlassen werden soll, der in seine Rechte eingreift. Die Beklagte wollte der Klägerin Rente ab 1. Juni 1978 nicht mehr wie bisher nach § 1268 Abs 2 RVO, sondern nach § 1268 Abs 1 RVO gewähren. Sie hat zu diesem Vorhaben die Klägerin jedoch nicht gehört. Sie hat an die Klägerin nur eine Anfrage zu der ebenfalls beabsichtigten Einstellung der Waisenrente für das jüngste Kind (Tochter) gerichtet, die dann von der Tochter selbst beantwortet wurde.

Die Anhörung der Klägerin vor Wegfall der Waisenrente enthielt aber nicht gleichzeitig die Anhörung zu der Gewährung der einfachen Witwenrente. Von dieser Pflicht, die Klägerin zu hören, war die Beklagte nicht, wie sie meint, deshalb entbunden, weil die Rechtsfolgen, die sie auszusprechen gedachte, sich bereits aus dem Gesetz ergaben, also nur deklaratorischer Natur waren.

Das Merkmal des § 34 Abs 1 SGB 1, daß in die Rechte eines Beteiligten eingegriffen wird, ist nicht nur erfüllt, wenn die Rente herabgesetzt oder entzogen wird, sondern auch dann, wenn es sich um den Wegfall einer erhöhten Rente handelt, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit besteht, diesen Wegfall durch einen anderen Erhöhungstatbestand zu kompensieren und die erhöhte Rente nicht von vornherein zeitlich begrenzt gewährt worden ist (Urteil des Senats vom 28. Mai 1980 - 6 RKnU 6/79). Hier hätte die Klägerin noch vortragen können, sie sei berufs- oder erwerbsunfähig (§ 1268 Abs 2 S 1 Nr 2 RVO).

Gegen den Schluß, die Beklagte habe die Klägerin hören müssen, läßt sich auch nicht einwenden, die Beklagte habe schon bei der Anhörung der Klägerin hinsichtlich der Beendigung der Waisenrentenzahlung die Tatsachen erfragt, die auch für die Neubemessung der Witwenrente von Bedeutung waren und die Klägerin damit angehört. Das trifft zum einen nur teilweise zu. Denn der Vortrag der Klägerin, sie sei berufs- oder erwerbsunfähig (§ 1268 Abs 2 S 1 Nr 2 RVO), wäre wie bereits ausgeführt, noch möglich gewesen. Zu Recht hat andererseits aber auch das LSG ausgeführt, daß die Beklagte die Klägerin nicht nur über die rechtserheblichen Tatsachen habe hören müssen, sondern sie auch über die Entscheidungserheblichkeit der Tatsachen habe aufklären müssen. Nur der kann von seinem Recht darauf, von der Verwaltung vor einer Entscheidung gehört zu werden, den vollen und sinnentsprechenden Gebrauch machen, der weiß, worauf es ankommt und der sich dementsprechend bemühen kann, die für ihn sprechenden Umstände vorzutragen.

Auch liegt kein Fall des § 34 Abs 2 Nr 3 SGB 1 vor. Die Beklagte ging zwar von der Fortdauer der Umstände aus, die die Klägerin in ihrem Rentenantrag von 1973 angegeben hatte, also davon, daß die Klägerin berufstätig sei, demnach nicht berufs- oder erwerbsunfähig. Wenn Art 1 § 34 Abs 2 Nr 3 SGB 1 der Verwaltung gestattet, von den tatsächlichen Angaben eines Beteiligten auszugehen, die dieser in einem Antrag oder einer Erklärung gemacht hat, so nicht, weil dann über Jahre hinweg das Fortbestehen dieser Umstände angenommen werden dürfe, sondern weil es sinnwidrig wäre, bei einem Verwaltungsakt, der auf Antrag ergeht, die Verwaltung zu zwingen, den Antragsteller gerade noch einmal zu den Tatsachen zu hören, die dieser selbst bereits vorgetragen hat (vgl Wannagat, Sozialgesetzbuch § 34 RdNr 17; Burdenski/v Maydell/Schellhorn SGB-AT, § 34 RdNr 32; Hauck/Haines, SGB I, § 34 RdNr 14). Bei der Ausnahmeregelung des Art 1 § 34 Abs 2 Nr 3 SGB 1 handelt es sich nur um solche Angaben oder Erklärungen, die in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der durch die Verwaltung zu treffenden Entscheidung stehen.

Die Beklagte hat zwar zu Recht dargelegt, daß grundsätzlich ein Verwaltungsakt, der nicht nichtig ist, nicht allein deswegen aufgehoben werden wird, weil er unter Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften oder von Regelungen über die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn er nur sonst richtig ist (BSGE 24, 134, 137). Eine entsprechende Regelung sieht auch der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum zehnten Buch des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (Bundesrats-Drucks 170/78, §§ 39, 40) vor. Doch ist weder geklärt, in welcher Fassung diese Bestimmung Gesetz werden wird, noch wie sie sich nach ihrem Inkrafttreten zu § 34 SGB 1 verhalten wird. Die Regel, daß ein inhaltlich richtiger Verwaltungsakt aufrecht zu erhalten ist, gilt nach geltendem Recht nicht uneingeschränkt, wenn ein Verwaltungsakt unter Verletzung der Anhörungspflicht erlassen wurde. Dieser Mangel kann nicht dadurch geheilt werden, daß der Beteiligte seine Anhörung erzwingt, indem er durch seine Klage das gerichtliche Verfahren einleitet (BSG SozR 1200 § 34 Nr 1; SozR 1200 § 34 Nr 2).

Die Aufhebung des somit rechtswidrigen Verwaltungsaktes besagt indes, wenn die Rente kraft Gesetzes wegfällt, noch nicht, daß wegen der unterlassenen Anhörung die Rente über den gesetzlich festgelegten Zeitpunkt des Wegfalls hinaus weiter zu gewähren ist. Die Frage des Wegfalls und gegebenenfalls den Zeitpunkt des Wegfalls wird die Beklagte nur in einem neuen ordnungsgemäßen Verfahren zu prüfen haben.

Da das Verhalten der Beklagten den Anforderungen des § 34 Abs 1 SGB 1 nicht genügt hat, ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig. Die Revision gegen das angefochtene Urteil ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656467

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