Leitsatz (amtlich)

1. Eine fiktive Nachversicherung nach § 72 G131 berechtigt nicht zur Rentenherabsetzung.

2. Würde eine fiktiv begründete Weiterversicherung die Rente mindern, so ist der Rentenversicherungsträger verpflichtet, die Anwendung des § 1310 RVO zu prüfen. Verletzt er diese Verpflichtung, steht dem Versicherten ein Schadensabwendungsanspruch (Herstellungsanspruch) zu.

 

Normenkette

G131 § 72 Fassung: 1965-10-13; RVO § 1744 Abs 1 Nr 6 Fassung: 1953-09-03, § 1310 Abs 1 Fassung: 1957-07-27

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 01.07.1981; Aktenzeichen L 12 J 1475/80)

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 24.06.1980; Aktenzeichen S 2 J 620/79)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darum, ob die Beklagte infolge einer fiktiven Nachversicherung die Rente des Versicherten herabsetzen durfte.

Der während des Revisionsverfahrens verstorbene Versicherte bezog aufgrund des Bescheides der Beklagten vom 25. April 1975 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Im November 1977 sprach er bei der Beklagten wegen der Nachversicherung seiner während des Krieges bei der Waffen-SS verbrachten Dienstzeit vor. Das Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg erstellte unter dem 16. August 1978 eine Bescheinigung über das Vorliegen der dienstrechtlichen Voraussetzungen der Nachversicherung nach § 72 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsstellung der unter Art 131 des Grundgesetzes (GG) fallenden Personen (G 131) für die Zeit vom 1. Dezember 1941 bis zum 8. Mai 1945.

Die Beklagte ordnete diese Zeit der Angestelltenversicherung zu. Sie setzte mit Bescheid vom 9. Oktober 1978 die Rente aufgrund der durchgeführten Nachversicherung von Beginn an neu fest und gewährte dem Versicherten ab 1. Dezember 1978 die Rente nur noch in Höhe von 1.119,50 DM monatlich (anstatt vorher 1.160,60 DM). Der Widerspruch wurde nach schriftlicher Zustimmung des Klägers dem Sozialgericht (SG) Karlsruhe als Klage zugeleitet.

Das SG hat die Beklagte verpflichtet, die "mit Bescheid vom 25. April 1975 unter Berücksichtigung einer Ersatzzeit vom 11. Dezember 1939 bis 8. Mai 1945 errechnete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Februar 1975 zu gewähren" (Urteil vom 24. Juni 1980). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und im Urteil vom 1. Juli 1981 ausgeführt: Zwar sei die zunächst unterbliebene Anhörung des Versicherten im Widerspruchsverfahren nachgeholt und damit der insoweit dem Bescheid vom 8. Oktober 1978 anhaftende Mangel geheilt worden; es fehle jedoch an den materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Rentenneufestsetzung zuungunsten des Versicherten. Den Bestimmungen des § 72 G 131 könne jedenfalls nicht die Befugnis des Versicherungsträgers entnommen werden, eine bereits bezogene Rente aufgrund der Nachversicherung herabzusetzen. Es bestehe auch keine Pflicht des Versicherten, trotz drohender Rentenminderung die Nachversicherung geltend zu machen. Vielmehr stehe es nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in seinem Ermessen, ob er die Nachversicherungsbescheinigung beantrage (Hinweis auf BSG, Urteil vom 24. Februar 1976 - 5 RKn 17/75 = BSGE 41, 198, 200 = SozR 2600 § 45 Nr 11); nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Juni 1979 - 5 RKn 16/78 (= BSGE 48, 211 = SozR 2600 § 50 Nr 2) sei sogar der Versicherungsträger verpflichtet, den Versicherten über mögliche Nachteile der Nachversicherung aufzuklären. Die Beklagte könne sich demgegenüber nicht auf das BSG-Urteil vom 14. September 1976 - 11 RA 118/75 - (= SozR 7290 § 72 Nr 3) berufen, weil der 11. Senat es lediglich im Rahmen des § 1300 Reichsversicherungsordnung (RVO) als nicht offensichtlich unvertretbar bezeichnet habe, daß aufgrund des § 72 G 131 ein bestehender Rentenbescheid zu Lasten des Versicherten korrigiert werde. Eine Bestätigung des eingenommenen Standpunktes enthalte § 22 des Gesetzes zur Regelung der Verbindlichkeiten nationalsozialistischer Einrichtungen und Rechtsverhältnisse an deren Vermögen (NS-AbwicklungsG) vom 17. März 1965, wonach, falls über den Rentenanspruch bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes entschieden worden sei, unter Berücksichtigung der fiktiven Nachversicherung die Leistung auf Antrag neu festzustellen sei, wenn dies für den Berechtigten günstiger sei.

Auf § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO könne sich die Beklagte nicht stützen, weil die Bescheinigung der Pensionsfestsetzungsbehörde konstitutiven Charakter habe und die Beklagte ihrem Rentenbescheid vom 25. April 1975 auch dann keinen anderen Inhalt hätte geben können, wenn ihr die Zugehörigkeit des Klägers zum Personenkreis des G 131 bekannt gewesen wäre. Ob sie auch aus dem Gesichtspunkt des Herstellungsanspruchs zur Beibehaltung des früheren Bescheides verpflichtet sei, könne danach offenbleiben.

Die Beklagte rügt mit der vom LSG zugelassenen Revision die Verletzung materiellen Rechts: Der Bescheid vom 25. April 1975 sei insoweit objektiv unrichtig, als er die Zeit vom 1. Dezember 1941 bis zum 8. Mai 1945 als Ersatzzeit anstatt als Beitragszeit berücksichtigt habe. Dies rechtfertige sich aus dem Grundsatz des Vorrangs der Beitragszeit vor der Ersatzzeit, der in § 72 Abs 10 G 131 dahin konkretisiert sei, daß Kriegsdienstzeiten nicht als Ersatzzeiten anrechenbar seien, wenn für den gleichen Zeitraum die Nachversicherung als durchgeführt gelte. Entgegen der vom LSG im Anschluß an BSGE 41, 198 vertretenen Auffassung gebe es keinen gesetzlich vorgesehenen Antrag auf Feststellung der dienstrechtlichen Voraussetzungen für die Nachversicherung. Diese gelte vielmehr kraft Gesetzes als durchgeführt. Der in den Verwaltungsvorschriften zu § 72 G 131 genannte Antrag habe lediglich verwaltungstechnische Gründe, weil der Vordruck Fragen enthalte, die nur der Versicherte beantworten könne; dieser sei aber zur Mitwirkung verpflichtet, weil sonst die Erstattungsansprüche des Versicherungsträgers gegen den Dienstherrn verloren gingen. § 22 NS-AbwicklungsG zwinge zu keiner anderen Betrachtung und lasse eher den Umkehrschluß zu, daß bei nach Inkrafttreten jenes Gesetzes festgestellten Renten eine Berichtigung zum Nachteil des Versicherten nicht ausgeschlossen sei.

Die Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 1. Juli 1981 sowie des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24. Juni 1980 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Zutreffend geht das LSG davon aus, daß der Bescheid vom 9. Oktober 1978 nicht schon deshalb rechtswidrig ist, weil der Versicherte vorher nicht gehört worden war; dieser Mangel ist geheilt, nachdem der Versicherte seine Einwendungen vor der Klageerhebung im Widerspruchsverfahren hat vorbringen können. Die fehlende oder zumindest ungenügende Begründung des Bescheides verstößt zwar gegen § 1633 iVm § 1631 Abs 1 RVO in der damals geltenden Fassung, führt aber ebenfalls nicht zu dessen Aufhebung, da die Beklagte im Verfahren vor den Tatsacheninstanzen eine Begründung nachgeschoben hat (vgl Urteil des Senats vom 26. Juni 1982 - 4 RJ 37/81 unter Hinweis auf BSGE 27, 34, 38).

Es fehlt jedoch, wie das LSG ebenfalls zutreffend ausgeführt hat, an einer gesetzlichen Grundlage für die Neufestsetzung der mit bindend gewordenem Bescheid vom 25. April 1975 gewährten Rente zuungunsten des Versicherten (§ 77 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Soweit die Beklagte aus § 72 G 131 ihre Berechtigung herleiten möchte, hat sie keine Vorschrift angegeben, aus der sich dies ergibt. Eine solche ist auch nicht ersichtlich. Die Auswirkungen der fiktiven Nachversicherung auf (laufende) Renten sind in § 72 Abs 7 ff G 131 geregelt. Danach beginnt die Rente unter der Voraussetzung des Wohnsitzes oder dauernden Aufenthaltes im Geltungsbereich zu diesem Zeitpunkt mit dem 1. April 1951, wenn der Versicherungsfall bis zum 31. März 1951 eingetreten ist (Abs 7). Muß wegen der Nachversicherung eine laufende Rente neu festgestellt werden, so ist die Neufeststellung rückwirkend zu dem in Abs 7 bestimmten Zeitpunkt vorzunehmen; die Unterschiedsbeträge sind nachzuzahlen (Abs 8). Schließlich gilt gemäß Abs 9 die Regelung der Absätze 7 und 8 nur, wenn die Rente oder ihre Neufeststellung bis spätestens 31. März 1954 beantragt wird. Da im vorliegenden Fall die Rentenneufeststellung nicht innerhalb des genannten Zeitraumes beantragt worden ist, entfällt die Anwendung dieser Bestimmungen. Eine Neufeststellung ist dann nur nach allgemeinen Vorschriften der RVO möglich (vgl § 72 Abs 6 G 131).

Immerhin läßt sich diesen Vorschriften entnehmen, daß der Gesetzgeber von einem auf die Rentenneufeststellung gerichteten Antrag ausgeht. Ein solcher wird also nicht nur, wie die Beklagte meint, in den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Durchführung der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften (§§ 72 bis 74) des G 131 idF vom 20. Februar 1968 - Allgemeine Verwaltungsvorschriften - erwähnt. Dort ist wiederholt von einem "Antrag" oder "Antragsteller" die Rede (vgl Nr 10 Abs 1, 2 und 3; Nr 11 Abs 1, 3 und 4; Nr 12 Abs 1). Dabei ist Nr 10 Abs 2 aufschlußreich. Danach hat das Versicherungsamt ua den Antragsteller zur Erklärung zu veranlassen, ob "er die Nachversicherung geltend macht a) zur Erlangung einer Rente aus den gesetzlichen Rentenversicherungen, b) zur Erhöhung einer bereits laufenden Rente aus den gesetzlichen Rentenversicherungen...". Des weiteren heißt es in Abs 2, letzter Satz: "Wird vom Antragsteller eine Rente oder Erhöhung einer bereits laufenden Rente aus einem Zweige der gesetzlichen Rentenversicherungen... erstrebt, so ist dazu ein besonderer, auf diese Leistung gerichteter Antrag aufzunehmen".

Ob ein solcher Antrag hier vorliegt, ist zumindest zweifelhaft. Das LSG erwähnt nur eine Vorsprache des Versicherten. Einer näheren Erörterung hierüber bedarf es indessen nicht; denn jedenfalls ist sowohl in § 72 G 131 als auch in den dazu erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschriften lediglich die Erhöhung einer laufenden Rente geregelt, deren Herabsetzung aber nirgends auch nur erwähnt. Dies legt sogar den Gegenschluß nahe, daß die Rentenneufeststellung auf die Festsetzung eines höheren Rentenbetrages beschränkt bleiben sollte; sonst wäre auch die Rückforderung oder deren Verbot zu regeln gewesen. Die Nichterwähnung eines Rentenminderungstatbestandes läßt sich auch nicht überzeugend damit erklären, daß nach den bis 1956 gültigen Rentenberechnungsvorschriften eine Beitragszeit stets günstiger als eine Ersatzzeit gewesen sei; denn nach § 1 der "Verordnung über die Gewährung von Steigerungsbeträgen im jetzigen Kriege" vom 8. Oktober 1941 (RGBl 1941 I 634) wurden den Versicherten für Zeiten der Kriegsteilnahme Steigerungsbeträge nach der Klasse gewährt, zu der der letzte Beitrag vor der Einberufung zur Wehrmacht entrichtet worden war (statt dessen konnte - und mußte auf Antrag - von einem dem Durchschnitt der letzten drei Monate entsprechenden Betrag ausgegangen werden).

Im übrigen zeigt die dem § 72 G 131 unmittelbar folgende Vorschrift, daß der Gesetzgeber das Problem der Herabsetzung einer laufenden Rente gesehen hat. Wurde nämlich lediglich irrtümlich (zunächst) eine Nachversicherung angenommen oder später eine Anwartschaft auf Versorgung begründet oder erworben, so entfallen die an die Annahme der Nachversicherung geknüpften Rechtsfolgen (§ 72a Abs 1 Satz 1 und Abs 2 G 131); in einem solchen Fall ist bis zur Einstellung oder Neufeststellung der Rente diese in bisheriger Höhe weiterzuzahlen, während eine Rückforderung nicht stattfindet (§ 72a Abs 1 Satz 2 G 131).

Bei der Konzeption des § 72 G 131 und dem Zusammenhang, in den diese Vorschrift hineingestellt ist, kann somit eine planwidrige Lücke des Gesetzes nicht angenommen werden (hierzu vgl BSG, Urteil vom 18. Dezember 1975 - 12 RJ 148/74 = SozR 2200 § 1286 Nr 2, hier: S 4 f). Soweit der 11. Senat des BSG im Urteil vom 14. September 1976 (= SozR 7290 § 72 Nr 3 S 14 und Leitsatz Nr 4) offen gelassen hat, ob G 131 § 72 die Möglichkeit einer Neufeststellung voraussetze oder begründe, kommt der erkennende Senat mithin zu dem Ergebnis, daß diese Vorschrift jedenfalls nicht die Befugnis einräumt, eine Rente zuungunsten des Versicherten neu festzustellen.

Mit der dargelegten Rechtsansicht des Senats steht auch im Einklang, daß es nach dem vom LSG genannten Urteil des 5. Senats vom 24. Februar 1976 (BSGE 41, 198, 201) im Ermessen des Versicherten liegt, ob er einen Antrag auf Nachversicherung stellen will (vgl auch die in den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 72 G 131 Nr 1 Abs 4 Satz 3 dem Betroffenen eingeräumten Möglichkeiten). Schließlich hat die Vorinstanz auf § 22 NS-AbwicklungsG hingewiesen, wonach, soweit bei Versicherungsfällen vor Inkrafttreten jenes Gesetzes bereits über den Rentenanspruch entschieden ist, die Leistung unter Berücksichtigung des die fiktive Nachversicherung regelnden § 20 (nur dann) neu festgestellt werden muß, wenn dies für den Berechtigten günstiger ist. Mit Recht hat das LSG in dieser zeitlich letzten Regelung der Materie eine Bestätigung seiner Ansicht gesehen und ausgeführt, es sei kein sachlicher Grund erkennbar, weshalb für den vom NS-AbwicklungsG erfaßten Personenkreis eine von den anderen Nachversicherungsfällen abweichende Regelung habe getroffen werden sollen. Das hiergegen von der Revision vorgebrachte Argument, eher ergebe der Umkehrschluß, daß für Bescheide nach Inkrafttreten des NS-AbwicklungsG die Möglichkeit einer Berichtigung auch zum Nachteil des Berechtigten eröffnet sei, überzeugt nicht, zumal § 21 auch im Rahmen des § 22 Anwendung findet und dort nur die Begründung eines Rentenanspruchs und die (durch Nachversicherung) höhere Leistung genannt sind. In diesem Zusammenhang ist noch auf Art 2 § 50a Abs 7 Satz 3 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes hinzuweisen, wonach ehemaligen Seelotsen, deren Rente aufgrund der Nachversicherung nach dieser Vorschrift neu festgestellt wird, eine schon bisher bezogene höhere Rente weiterzugewähren ist (vgl hierzu und zur Besitzstandswahrung BSGE 34, 41, 43).

Die von der Beklagten gegen das angefochtene Urteil ins Feld geführten Gesichtspunkte, eine Beitragszeit verdränge die Ersatzzeit, beamtenrechtliche Versorgungsansprüche gingen Ansprüchen der gesetzlichen Rentenversicherung vor, und wegen des dem Rentenversicherungsträger gegenüber der Versorgungsdienststelle eingeräumten Erstattungsanspruchs könne es dem Berechtigten nicht freistehen, ob er die Nachversicherung durchgeführt wissen wolle, gehen am Inhalt der hier zu treffenden Entscheidung - Frage der Berechtigung, eine laufende Rentenleistung herabzusetzen - vorbei; sie sind letztlich auf eine Änderung der bestehenden Gesetze gerichtet, weswegen im übrigen der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger bereits beim zuständigen Fachminister vorstellig geworden ist.

Die Aufhebung des Rentenbewilligungsbescheides läßt sich auch nicht auf § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO stützen (zur Anwendung dieser Vorschrift vgl Art 2 § 40 Abs 2 Satz 3 Sozialgesetzbuch, Verwaltungsverfahren, -SGB X- und VDR-Komm, Stand: 1. Juli 1981, Vorbem § 44 SGB X). Nach dieser Vorschrift kann gegenüber einem bindenden Verwaltungsakt eine neue Prüfung vorgenommen werden, wenn ein Beteiligter nachträglich eine Urkunde, die einen ihm günstigeren Verwaltungsakt herbeigeführt haben würde, auffindet oder zu benutzen instandgesetzt wird. Der 11. Senat hat es in seinem bereits genannten Urteil (SozR 7290 § 72 Nr 3) als vertretbare Ansicht des Versicherungsträgers gewertet, daß eine nach Ergehen eines Rentenbescheids erteilte Bescheinigung über die dienstrechtlichen Voraussetzungen der Nachversicherung nach § 72 G 131 als Urkunde iS von § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO in Betracht kommt. Daraus ergibt sich aber zugleich - und der in SozR aa0 unter Nr 3 wiedergegebene Leitsatz stellt das klar -, daß die Beantwortung dieser Frage offen geblieben ist. Dort kam es nur darauf an, ob der Versicherungsträger als von der Unrichtigkeit seines früheren, den Rentenzahlbetrag herabsetzenden Bescheids überzeugt zu gelten hatte.

Die offen gebliebene Frage ist zu verneinen. Der Senat hat schon Bedenken anzunehmen, daß der Rentengewährungsbescheid vom 25. April 1975 wegen der Nachversicherung objektiv unrichtig gewesen ist. Der 11. Senat führt für seine gegenteilige Ansicht ins Feld, eine Nachversicherung gelte stets als zum 1. April 1951 durchgeführt. Die hierzu angegebene Entscheidung (Urteil vom 29. Januar 1963 - 1 RA 198/58 = SozR Nr 3 zu G 131 § 72) nennt dieses Datum mit dem Hinweis auf das Inkrafttreten des G 131. Andererseits trifft aber nach dem Urteil des 1. Senats vom 20. November 1959 - 1 RA 191/57 - (= BSGE 11, 63, 66) die Versorgungsdienststelle über die dienstrechtlichen Voraussetzungen des § 72 G 131 eine Regelung mit Außenwirkung, welche die Rechtsstellung des Antragstellers unmittelbar berührt und deshalb ein Verwaltungsakt ist. Deshalb gilt eine Dienstzeit so lange nicht als fiktive Nachversicherungszeit, als die zuständige Versorgungsbehörde nicht die dienstrechtlichen Voraussetzungen durch Verwaltungsakt festgestellt hat. Diese Feststellungen haben konstitutiven Charakter (vgl BSGE 41, 198, 200). Streitigkeiten über dienstrechtliche Voraussetzungen der fiktiven Nachversicherung werden demzufolge vor den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgetragen und können nicht als Vorfragen von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit mitentschieden werden (BSGE 11, 63, 68). Demgemäß hat auch zutreffend das LSG (wenngleich in etwas anderem Zusammenhang) sinngemäß ausgeführt, der Rentengewährungsbescheid vom 25. April 1975 hätte auch dann keinen anderen Inhalt haben können, wenn der Beklagten bereits damals die in der später vom Landesamt für Besoldung und Versorgung ausgestellten Bescheinigung getroffenen Feststellungen bekannt gewesen wären.

Selbst wenn aber unterstellt wird, der Bescheid vom 25. April 1975 sei von Anfang an rechtswidrig gewesen, vermag sich die Beklagte nicht auf § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO zu stützen. Es fehlt am Erfordernis des "nachträglichen" Auffindens einer Urkunde, die zu dem Zeitpunkt, als der frühere Bescheid bindend wurde, schon existierte (vgl zB BSG vom 13. November 1974 - 12 RJ 334/72 = SozR 2200 § 1744 Nr 2); die Bescheinigung der Versorgungsdienststelle wurde erst später erteilt. Zwar soll ausnahmsweise unter § 1744 Abs 1 Nr 6 auch eine Urkunde fallen, die zwar später errichtet wurde, aber "ihrer Natur nach" nur einer zurückliegenden Zeit angehörende Tatsachen beweisen kann (so BSG in SozR 7290 aa0 unter Hinweis auf BSGE 18, 186, 188 = SozR Nr 6 zu § 179 SGG). Abgesehen davon, daß BSGE 18, 186 einen Fall des § 580 Nr 7 b der Zivilprozeßordnung betraf, wo das Wort "nachträglich" im Gesetzestext fehlt, kann das nach der Ansicht des Senats aber nur gelten in Fällen, "in denen ihrer Natur nach solche Urkunden nicht vor Abschluß des Vorprozesses errichtet werden konnten (so BGHZ 34, 77, 80 - insoweit in BSG SozR 7290 § 72 Nr 3 nur unvollständig und deshalb mißverständlich zitiert). Es wird demnach für den Ausnahmefall zweierlei gefordert; einmal, daß die zu bezeugenden Tatsachen die vor der früheren Entscheidung liegende Zeit betreffen, zum anderen, daß die Urkunde so gestaltet ist, daß sie bis zur früheren Entscheidung nicht hat errichtet werden können. Die im vorliegenden Fall von der Versorgungsbehörde erteilte Bescheinigung wäre indessen "ihrer Natur nach" bereits zu erstellen gewesen, bevor der Rentenbewilligungsbescheid bindend geworden war. Es bleibt mithin dabei, daß § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO als Rechtsgrundlage für die Beklagte versagen muß.

Der Bescheid vom 9. Oktober 1978 ist aber auch aus einem weiteren Grund rechtswidrig. Das LSG hat - ebenso wie vorher das SG - offen gelassen, ob die Beklagte unter dem Gesichtspunkt des sogenannten Herstellungsanspruchs ebenfalls verpflichtet sein kann, die Rente auf der Grundlage des Bescheides vom 25. April 1975 weiterzugewähren. Das mit dem - für sich allein wenig aussagekräftigen - Begriff "Herstellungsanspruch" angesprochene Rechtsinstitut wird erst durch die nähere Umschreibung seines Inhalts und Ziels deutlich; es erstrebt die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustands, der bestehen würde, wenn sich der Leistungsträger ordnungsgemäß verhalten hätte (vgl Funk, DAngVers 1981, S 26, 34 nebst Fußnote 106 und die dort zitierte Rechtsprechung). Dieser Anspruch hat den Charakter eines sozialrechtlichen Schadensabwendungsanspruches; denn er dient zur Abwendung des Schadens, der durch ein rechtswidriges vorangegangenes Tun oder Unterlassen des Leistungsträgers entstanden ist oder wäre. Ein solcher Anspruch ist von den Vorinstanzen möglicherweise deshalb nicht näher geprüft worden, weil hierfür anscheinend nur eine Auskunft über die voraussichtliche Auswirkung der Nachversicherung anläßlich der Vorsprache des Versicherten bei der Beklagten in Betracht gezogen wurde.

Der Senat geht aber von einem anderen Ansatzpunkt für den Anspruch des Versicherten auf Schadensabwendung aus. Dieser liegt in der in § 1310 RVO vorgesehenen Möglichkeit der Beschränkung des Leistungsantrages. Nach Abs 1 Satz 2 dieser Vorschrift gilt der Leistungsantrag für alle beteiligten Versicherungszweige, es sei denn, daß er ausdrücklich auf einzelne Versicherungszweige beschränkt wird. Dabei muß es sich nicht um den erstmaligen und auch nicht um einen auf einen neuen Versicherungsfall bezogenen Antrag handeln. Beruht die Neufeststellung - wie die Beklagte hier geltend macht - auf § 1744 RVO, und wird demzufolge der bindend gewordene Bescheid aufgehoben, so muß auch das Gestaltungsrecht der Leistungsbeschränkung iS des § 1310 RVO wieder aufleben (vgl BSG, Urteil vom 31. Januar 1974 - 5 RKn 12/72 = SozR 2200 § 1268 Nr 1). Darüber hinaus hat die Rechtsprechung dem Versicherten die sich aus § 1310 RVO ergebende Dispositionsbefugnis auch bei Leistungsfeststellungen aus anderem Anlaß als dem Eintritt eines weiteren Versicherungsfalles eingeräumt, sofern nicht bereits anläßlich einer früheren Feststellung durch die Beschränkung eine höhere Leistung hätte bewirkt werden können (BSG, Urteil vom 5. Juli 1978 - 1 RJ 4/78 = BSGE 47, 13, 19 = SozR 2200 § 1300 Nr 4). Eine derartige Rechtslage ist vorliegend erst durch den Neufeststellungsbescheid vom 9. Oktober 1978 eingetreten.

Auf die Gestaltungsmöglichkeit der Leistungsbeschränkung nach § 1310 Abs 1 Satz 2 RVO hätte die Beklagte aufgrund ihrer aus dem Versicherungsverhältnis resultierenden Betreuungspflicht den Versicherten spätestens bei Erlaß ihres Neufeststellungsbescheides hinweisen müssen, zur Schadensabwendung aber auch noch während des sozialgerichtlichen Verfahrens hinweisen können. Der von der Rechtsprechung geforderte "konkrete Anlaß", der für den Leistungsträger bestanden haben muß (vgl Funk aa0 S 32 und Fußnote 83), liegt hier auf der Hand: Der aufgrund durchgeführter Nachversicherung erlassene Neufeststellungsbescheid führte zu einem niedrigeren Rentenzahlbetrag. Gleichzeitig erlangte der Versicherte - da die fingierten Beiträge der Angestelltenversicherung zugeordnet wurden und zuvor keine Beiträge dieses Versicherungszweiges vorhanden waren - den Status eines Wanderversicherten. Damit mußte sich der Beklagten als derjenigen, die die Zuordnung der fingierten Beiträge vorgenommen hat, die Frage aufdrängen, ob der Versicherte durch die vom Gesetz eingeräumte Möglichkeit der Leistungsbeschränkung den Zustand herstellen könnte, den er offenkundig (zumindest) anstrebte, nämlich, den bisherigen Rentenzahlbetrag beizubehalten. Gerade die (Nachholung der) Ausübung eines Wahlrechts, wie in § 1310 Abs 1 Satz 2 RVO vorgesehen, ist ein Anwendungsgebiet für den Schadensabwendungsanspruch (vgl H. Bogs, Festschrift zum 25jährigen Bestehen des BSG, S 149 ff, 172, 173). Indem es die Beklagte unterließ, auf die aus ihrer Sicht naheliegende und dem vom Versicherten angestrebten Ergebnis entsprechende Rechtsgestaltung hinzuweisen, handelte sie rechtswidrig.

Allerdings muß das rechtswidrige Unterlassen kausal für einen sozialrechtlichen Schaden sein können; dazu gehört nicht nur, daß hier der Beschränkungsantrag zu dem Erfolg führt, sondern auch, daß dieses Ergebnis von der Rechtsprechung gebilligt wird. Das ist indessen der Fall: Durch Beschränkung des Leistungsantrages auf die Arbeiterrentenversicherung fallen die der Angestelltenversicherung zugeordneten fingierten Beiträge ganz allgemein aus. Dies hindert aber nicht die Anrechnung derjenigen Zeit als Ersatzzeit, auf die diese Beiträge entfallen sind; nur kann die Anrechnungsfähigkeit nicht mehr mit den ausgefallen Beiträgen begründet werden (vgl BSG, Urteil vom 16. Januar 1979 - 5 RKn 14/78 = BSGE 47, 293, 295). Der Anrechnung der Ersatzzeit steht hier nicht entgegen, daß die fingierten Beiträge als Pflichtbeiträge gegolten hätten, zumal durch die fiktive Nachversicherung ohnehin nicht rückwirkend eine Versicherungspflicht begründet werden kann (vgl zB BSGE 11, 278, 285).

Die Revision konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 193

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