Leitsatz (amtlich)

Aufhebung eines Beitragserstattungsbescheides - Auffinden einer Urkunde iS von RVO § 1744 Abs 1 Nr 6:

1. Ein Beitragserstattungsbescheid kann weder nach RVO § 1300 (AVG § 79) noch in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift aufgehoben werden (Anschluß an BSG 1974-08-30 11 RA 69/73).

2. Ein "günstigerer" Verwaltungsakt (RVO § 1744 Abs 1 Nr 6) wird auch dann herbeigeführt, wenn dem früheren Antrag des Beteiligten voll entsprochen wurde, eine günstigere Entscheidung aber wegen Unkenntnis einer Urkunde nicht möglich war; Voraussetzung ist dabei, daß der Beteiligte mit dem damals erzielten Ergebnis nicht in jedem Fall zufrieden war (Anschluß an BGH 1963-03-20 IV ZR 147/62 = BGHZ 39, 179, 184).

3. Ein "nachträgliches" Auffinden einer Urkunde iS von RVO § 1744 Abs 1 Nr 6 liegt schon vor, wenn die Urkunde zur Zeit der Entscheidung über den bindend gewordenen Verwaltungsakt zwar vorhanden, ihre Existenz oder ihr Verbleib den Beteiligten aber damals nicht bekannt war.

4. Die in RVO § 1744 Abs 1 Nr 6 gebrauchte Formulierung "kann ... vorgenommen werden" gibt dem Versicherungsträger kein Handlungsermessen, sondern lediglich die Ermächtigung, von der Bindungswirkung des angegriffenen Verwaltungsaktes abzuweichen.

 

Normenkette

RVO § 1744 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1953-09-03, § 1300 Fassung: 1957-02-23, § 1303; SGG § 77

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 1. August 1972 teilweise aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 11. Dezember 1970 wird zurückgewiesen, soweit das Sozialgericht die Bescheide der Beklagten vom 17. November 1961 und 23. Januar 1970 - dieser in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 1970 - aufgehoben hat.

Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 17. November 1961, mit dem ihr die in der Zeit von Januar 1958 bis September 1959 entrichteten Beiträge nach § 1303 der Reichsversicherungsordnung (RVO) mit 111,10 DM erstattet wurden. Aus einem ihr im November 1965 zugegangenen Kontoauszug der Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz ergab sich, daß die Klägerin außer den erstatteten Beiträgen auch in den Jahren 1926 bis 1932 für 311 Wochen Beiträge entrichtet hatte. Daraufhin teilte sie der Beklagten mit, sie habe den Erstattungsantrag in Unkenntnis dieser Beitragsleistung gestellt und wolle den Erstattungsbetrag zurückzahlen. Anläßlich einer Rentenantragstellung begehrte sie dann die Aufhebung des Beitragserstattungsbescheides. Das lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 23. Januar 1970; Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 1970). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Dortmund durch Urteil vom 11. Dezember 1970 unter Hinweis auf § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO die Bescheide vom 17. November 1961, 23. Januar 1970 und 29. Juni 1970 sowie einen den Rentenantrag der Klägerin betreffenden Bescheid vom 27. März 1969 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Oktober 1969 aufgehoben; es hat die Beklagte zur Entgegennahme des Betrages von 111,10 DM verurteilt und festgestellt, daß das Versicherungsverhältnis der Klägerin fortbesteht. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 1. August 1972). In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO seien nicht erfüllt. Die die frühere Beitragsleistung belegenden Quittungskarten seien auch zur Zeit der Beitragserstattung bei der LVA Rheinprovinz vorhanden, jederzeit zugänglich und deshalb für die Klägerin objektiv benutzbar gewesen. Die Klägerin habe diese Quittungskarten weder nachträglich aufgefunden, noch sei sie nachträglich instandgesetzt worden, diese Urkunden zu benutzen. Die Bindungswirkung des Erstattungsbescheides werde auch nicht durch § 1300 RVO durchbrochen, weil die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt seien. Ebensowenig werde diese Bindungswirkung durch die anerkannten Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts beseitigt. Die Beklagte sei mithin nicht verpflichtet, den Erstattungsbescheid aufzuheben.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine unrichtige Anwendung des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO. Sie hält die Voraussetzungen dieser Vorschrift für erfüllt und beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist im wesentlichen begründet. Die Klägerin kann die Aufhebung des Erstattungsbescheides verlangen.

Nach § 77 SGG ist ein Verwaltungsakt, gegen den - wie hier im Falle des Erstattungsbescheides - kein Rechtsbehelf eingelegt worden ist, für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Diese Bindungswirkung kann auch nicht - wie das LSG zutreffend erkannt hat - nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts rückgängig gemacht werden. Das ist nur möglich, soweit besondere gesetzliche Vorschriften dies gestatten (BSG Urteil vom 26. September 1972 - 11 RA 232/71 -, DRV 1973, 36). Als derartige anderweitige gesetzliche Regelung, die eine Aufhebung des Beitragserstattungsbescheides gestatten würde, kommt im vorliegenden Fall allerdings - wie das LSG ebenfalls zutreffend ausgeführt hat - § 1300 RVO nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift hat der Träger der Rentenversicherung eine Leistung neu festzustellen, wenn er sich bei erneuter Prüfung überzeugt, daß die Leistung zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt oder zu niedrig festgestellt worden ist. Diese Tatbestände fehlen; die Beklagte hat dem auf Erstattung der Beiträge gerichteten Antrag der Klägerin mit dem Erstattungsbescheid voll entsprochen. Die Voraussetzungen des § 1300 RVO lassen sich auch nicht damit begründen, daß die Beitragserstattung nach § 1303 Abs. 7 RVO das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung ausschloß (BSG Urteil vom 30. August 1974 - 11 RA 69/73 -). Dieses Recht zur freiwilligen Weiterversicherung ist keine "Leistung" - Leistung des Versicherungsträgers - i.S. des § 1300 RVO und die Beklagte hat dieses Recht auch nicht "abgelehnt, entzogen oder eingestellt"; sie hat über dieses Recht nicht entschieden, sein Verlust für die Klägerin ergab sich vielmehr als gesetzliche Folge der Beitragserstattung.

Auch eine entsprechende Anwendung des § 1300 RVO kommt hier nicht in Betracht. Einmal ist im Recht der sozialen Rentenversicherung die Aufhebung von Verwaltungsakten abschließend geregelt; zum anderen betrifft § 1300 RVO nur Fälle, in denen der Versicherungsträger "Belastungen" der Versicherten rückgängig zu machen hat. Der Beitragserstattungsbescheid ist jedoch - jedenfalls überwiegend - begünstigender Natur (BSG Urteil vom 30. August 1974 - 11 RA 69/73 -).

Der Erstattungsbescheid ist dennoch aufzuheben, weil entgegen der Auffassung des LSG die Voraussetzungen des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO vorliegen. Nach dieser Vorschrift kann gegenüber einem bindenden Verwaltungsakt eines Versicherungsträgers eine neue Prüfung vorgenommen werden, wenn ein Beteiligter nachträglich eine Urkunde, die einen ihm günstigeren Verwaltungsakt herbeigeführt haben würde, auffindet oder zu benutzen instandgesetzt wird. Dem LSG kann nicht gefolgt werden, wenn es ein nachträgliches Auffinden der die frühere Beitragsleistung der Klägerin belegenden Quittungskarten, von deren Rechtscharakter als Urkunden es zutreffend ausgeht, allein deshalb verneint, weil diese Quittungskarten schon zur Zeit der Beitragserstattung bei der LVA Rheinprovinz vorhanden, jederzeit zugänglich und deshalb objektiv auch benutzbar gewesen seien. Ein "nachträgliches" Auffinden i.S. des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO liegt schon dann vor, wenn die Urkunden zur Zeit der Entscheidung über den bindend gewordenen Verwaltungsakt zwar vorhanden, ihre Existenz oder ihr Verbleiben den Beteiligten aber damals nicht bekannt waren (vgl. übereinstimmend: RVO-Gesamtkommentar, RVO § 1744 Anm. 10; Pickel, RVO § 1744 Anm. 4 f unter Hinweis auf LSG Niedersachsen, BG 9, 154, 156; Lohmann, Mitt. LVA Rheinprovinz 1968, 450; Stein/Jonas, ZPO, 19. Aufl. 1972, § 580 Anm. IV, 3; Rosenberg-Schwab, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 11. Aufl., § 161 II 3 c am Ende - S. 873; RGZ 135, 124, 128; ebenso BSG Breithaupt 1965, 61, 63, 64 für die insoweit inhaltsgleiche Vorschrift des § 42 Abs. 1 Nr. 19 VerwVG-KOV). Das war hier der Fall. Die Klägerin erhielt den aufgrund der Quittungskarten erstellten Kontoauszug der LVA Rheinprovinz erst im November 1965. Anhaltspunkte dafür, daß ihr oder der Beklagten schon vor diesem Zeitpunkt die Existenz der Quittungskarten bekannt war, sind nicht gegeben. Das Gegenteil wird selbst von der Beklagten nicht behauptet. Ob und inwieweit diese Kenntnis auf ein Verschulden eines der beiden Beteiligten zurückzuführen ist, kann auf sich beruhen, denn nach der durch § 220 Nr. 18 SGG erfolgten Neufassung des § 1744 RVO hängt die Anwendung dieser Vorschrift nicht mehr von der Prüfung der Verschuldensfrage ab.

Bei den die frühere Beitragsleistung der Klägerin belegenden Quittungskarten handelt es sich aber auch um Urkunden, die zur Zeit der Beitragserstattung für einen der daran Beteiligten einen ihm günstigeren Verwaltungsakt herbeigeführt hätten. Unbeachtlich ist insoweit, daß der Beitragserstattungsbescheid für die Klägerin ein jedenfalls überwiegend begünstigender Verwaltungsakt war. Entscheidend ist allein, ob ein die später aufgefundenen Urkunden berücksichtigender Verwaltungsakt für einen der Beteiligten günstiger wäre als der ohne Berücksichtigung dieser Urkunden ergangene Beitragserstattungsbescheid. Entgegen der Auffassung der Beklagten trifft dies schon für die Klägerin zu. Nach Sinn und Zweck des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO wird nämlich ein "günstigerer" Verwaltungsakt auch dann herbeigeführt, wenn dem früheren Antrag - hier auf Beitragsrückerstattung - von der Beklagten voll entsprochen wurde, eine günstigere Entscheidung aber wegen Unkenntnis der Urkunden nicht möglich war, vorausgesetzt, daß die Klägerin mit dem damals erzielten Ergebnis nicht in jedem Fall zufrieden war (ebenso zu der inhaltsgleichen Vorschrift des § 580 Nr. 7 b ZPO; Baumbach/Lauterbach, ZPO, 32. Aufl., § 580 Anm. 4 C; BGHZ 39, 179, 184). Hier kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Klägerin mit der Beitragserstattung auch einverstanden gewesen wäre, wenn sie von dem Inhalt der Quittungskarten Nr. 1 bis 4 als Grundlage für etwaige spätere Rentenansprüche gewußt hätte.

Selbst wenn man aber von der - vom erkennenden Senat nicht geteilten - Auffassung ausgeht, bei jeder Beitragserstattung stehe das Interesse des Versicherten an der Wiedererlangung der von ihm entrichteten Beitragsteile derart im Vordergrund, daß für ihn die Erstattung dieser Beiträge auch die "günstigste" Entscheidung i.S. des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO darstelle, hätte bei Berücksichtigung der später aufgefundenen Quittungskarten ein für die Beklagte "günstigerer" Verwaltungsakt ergehen müssen. Da die Klägerin unter Berücksichtigung der durch diese Quittungskarten belegten Beitragsleistungen nach § 1233 RVO zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt war, hätte ihr Erstattungsantrag abgelehnt werden müssen. Das wäre für die Beklagte die der Beitragserstattung gegenüber günstigere Entscheidung gewesen, denn damit wäre ihre Erstattungspflicht entfallen. Auch ist eine Leistungsverpflichtung anderer Art für sie bisher nicht eingetreten und es ist vorerst nicht abzusehen, ob für sie der Klägerin gegenüber jemals eine irgendwie geartete Leistungsverpflichtung eintreten wird. Zur Zeit der Beitragserstattung wäre mithin für die Beklagte die - unter Berücksichtigung der die frühere Beitragsleistung der Klägerin belegenden Quittungskarten allein mögliche - Ablehnung des Erstattungsantrags günstiger gewesen als die Beitragserstattung. Auf ihrer Seite sind mithin die Voraussetzungen des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO erfüllt. Da die in dieser Vorschrift vom Gesetzgeber gebrauchte Formulierung "kann ... vorgenommen werden" kein Handlungsermessen des Versicherungsträgers beinhaltet, sondern lediglich die Ermächtigung zum Abweichen von der Bindungswirkung des angegriffenen Verwaltungsaktes erteilt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, S. 730 c), hat mithin das SG den Beitragserstattungsbescheid vom 17. November 1961 und den Bescheid vom 23. Januar 1970, mit dem die Beklagte die Aufhebung des Beitragserstattungsbescheides abgelehnt hat, zu Recht aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das sozialgerichtliche Urteil mußte deshalb insoweit zurückgewiesen werden.

Im übrigen beanstandet die Klägerin das Urteil des LSG jedoch zu Unrecht. Für die vom SG getroffene Feststellung, daß das Versicherungsverhältnis der Klägerin fortbesteht, mangelt es an dem erforderlichen Feststellungsinteresse, denn die Aufhebung des Beitragserstattungsbescheides hat ohnehin zur Folge, daß das Versicherungsverhältnis der Klägerin weiterbesteht. Eine Verurteilung der Beklagten zur Entgegennahme des Erstattungsbetrages von 111,10 DM erübrigt sich, weil die Beklagte infolge der Aufhebung des Erstattungsbescheides von sich aus prüfen muß, ob sie die überzahlte Leistung zurückfordern darf (§ 1301 RVO) oder gegebenenfalls gegen einen Leistungsanspruch der Klägerin aufrechnen kann (§ 1299 RVO). Den den Rentenantrag betreffenden Bescheid vom 27. März 1969 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Oktober 1969 schließlich hat das SG zu Unrecht aufgehoben, weil das insoweit anhängig gewesene gerichtliche Verfahren bereits durch Klagerücknahme erledigt war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 207

NJW 1975, 752

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