Leitsatz (redaktionell)

Ein bindender Bescheid, mit dem der Träger der Rentenversicherung dem Versicherten antragsgemäß Beiträge nach RVO § 1303 aF erstattet hat, kann auf den Antrag des Versicherten weder nach RVO § 1744 Abs 1 Nr 6 aF, noch nach RVO § 1300, noch nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsverfahrensrechts jedenfalls solange nicht zurückgenommen werden, als der Träger nicht zustimmt (möglicherweise Abweichung von BSG 1974-11-13 12 RJ 334/72 = BSGE 38, 207).

 

Normenkette

AVG § 79 Fassung: 1957-02-23, § 82 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1300 Fassung 1957-02-23, § 1303 Fassung 1957-02-23; SGB X § 45 Fassung 1980-08-18; RVO § 1744 Abs. 1 Nr. 6 Fassung 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 14.02.1980; Aktenzeichen L 4 An 204/79)

SG Aachen (Entscheidung vom 28.09.1979; Aktenzeichen S 11 An 7/78)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob eine Beitragserstattung rückgängig zu machen ist.

Der 1932 geborene, aus der DDR stammende Kläger, Diplom-Volkswirt, war vor Beendigung seiner Ausbildung zeitweise als Arbeiter beschäftigt und versichert; bei der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz sind Pflichtbeiträge vom 20. August bis 3. Oktober 1952 nachgewiesen. Seit dem 20. Juni 1960 arbeitet der Kläger, jetzt in leitender Stellung, in einem Industrieunternehmen. Seit 1. Februar 1963 war er zum Teil kraft Gesetzes, zum Teil kraft Antrags von der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung (AV) frei; seit 1. Dezember 1972 ist er wieder versicherungspflichtig.

Auf seinen Antrag vom 2. Februar 1965 hatte ihm die Beklagte außerdem mit Bescheid vom 16. März 1965 gemäß § 82 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG = § 1303 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) wegen Entfallens der Versicherungspflicht bei fehlendem Recht zur freiwilligen Weiterversicherung die Hälfte der in der Zeit vom 20. Juni 1960 bis 31. Januar 1963 zur AV entrichteten Beiträge erstattet. Hiergegen hatte der Kläger keinen Rechtsbehelf eingelegt.

Seit Dezember 1975 bemüht sich der Kläger, für die in der Vergangenheit liegenden beitragsfreien Zeiten Beiträge nachzuentrichten. Am 14. Juli 1976 beantragte er bei der Beklagten außerdem, ihren Erstattungsbescheid vom 16. März 1965 aufzuheben. Er gab dazu an, daß ihm seinerzeit die Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter (ArV) nicht bekannt gewesen seien; nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. November 1974 - 12 RJ 334/72 - habe er daher Anspruch auf Aufhebung der Erstattung.

Mit dem streitigen Bescheid vom 4. August 1977, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 18. November 1977, lehnte dies die Beklagte ab: Der Bescheid über die Beitragserstattung sei rechtmäßig, da seinerzeit ua Beitragsnachweise der ArV nicht vorgelegen hätten. Selbst bei unterstellter Rechtswidrigkeit könnte § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO nicht angewendet werden; dem Kläger sei die Leistung von Beiträgen zur ArV bekannt gewesen.

Im Streitverfahren hat das Sozialgericht (SG) die hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 28. September 1979). Mit der angefochtenen Entscheidung vom 14. Februar 1980 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In der Begründung wird ausgeführt, der Kläger sei im Jahre 1965 selbst unter Berücksichtigung der seinerzeit nicht bekannten weiteren Versicherungszeiten nicht zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt gewesen. Ein "günstigerer Verwaltungsakt" im Sinne von § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO hätte daher damals nicht erteilt werden müssen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers. Mit ihr bringt er vor, die Vorinstanzen hätten § 1744 Abs 1 Nr 6 aaO zu eng ausgelegt. Die Vorschrift müsse auch Fälle erfassen, in denen dem Antragsteller andere - höhere oder niedrigere Beiträge - zurückzuerstatten seien. Die Beklagte müsse ihm einen günstigeren Verwaltungsakt deswegen erteilen, weil sich aus nachträglich aufgefundenen Urkunden ergebe, daß weitere Beiträge zu erstatten sind.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung und Aufhebung des Urteils

des Landessozialgerichts Essen vom

14. Februar 1980 und des Urteils des

Sozialgerichts Aachen vom 28. September 1979

sowie des Bescheides der Beklagten vom

4. August 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids

vom 7. Dezember 1977 (richtig: 18. November 1977)

den Beitragserstattungsbescheid vom 16. März 1965

aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie führt aus, die Grundsätze des Urteils des 12. Senats des BSG vom 13. November 1974 - 12 RJ 334/72 - könnten nur auf Fälle angewendet werden, in denen sich infolge nachträglich aufgefundener Unterlagen eine Berechtigung des Versicherten zur freiwilligen Weiterversicherung ergebe, dem Erstattungsanspruch also die materiell-rechtlichen Voraussetzungen entzogen seien. Im Falle der zu niedrigen Erstattung - wie vorliegend - komme allein eine Überprüfung nach § 1300 RVO, § 79 AVG in Betracht. Berücksichtige man für den Kläger im Zeitpunkt der Erstattung die aufgefundenen Beiträge zur ArV, so bestehe mit einer Versicherungszeit von 49 Monaten kein Recht zur freiwilligen Weiterversicherung. Da der Erstattungsbescheid nach dem zur Zeit seines Erlasses geltenden Recht beurteilt werden müsse (Hinweis auf die Verfallswirkung nach § 82 Abs 7 AVG), sei es ohne Belang, daß in der DDR durch die Rentenverordnung vom 15. März 1968 Schulzeiten nachträglich als fiktive Beitragszeiten in die DDR-Sozialversicherung einbezogen worden seien.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet.

Der nicht angefochtene, nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auch in der Sache bindend gewordene Bescheid der Beklagten vom 16. März 1965 war für den Kläger ein begünstigender Verwaltungsakt (vgl § 45 Abs 1 Sozialgesetzbuch-Verwaltungsverfahren - SGB 10); durch ihn hat die Beklagte ein Recht des Klägers auf Erstattung von Beiträgen anerkannt. Daß der Erstattungsbescheid für den Kläger die wirtschaftlich nachteilige Rechtsfolge aus § 82 Abs 7 RVO aF - Verfall bisher zurückgelegter Versicherungszeiten und Ausschluß des Rechts zur freiwilligen Weiterversicherung - hatte, schließt die Annahme eines begünstigenden Verwaltungsakts nicht aus: Die Ablehnung seines Antrags vom 2. Februar 1965, ihm die für die Zeit nach dem 20. Juni 1948 im Bundesgebiet entrichteten Beiträge zu erstatten, wäre seinerzeit ersichtlich ein belastender, weil die beantragte Regelleistung nach §§ 12 Nr 4, 82 Abs 1 AVG versagender Verwaltungsakt gewesen. Im übrigen hat der Kläger im Erstattungsantrag unterschriftlich versichert, daß ihm die Verfallswirkung in bezug auf die bisher zurückgelegten Versicherungszeiten "in allen Zweigen der Rentenversicherung ... bekannt" sei. Nach der gesetzlichen Regelung kann niemand Beitragserstattung und Rentenanwartschaften aus den erstatteten Beiträgen beanspruchen. Der Kläger hat die Beitragserstattung gewählt, obwohl er ihre rentenrechtlichen Nachteile gesehen hat; er hat diese also bewußt in Kauf genommen. Daß bestimmte rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten die Inkaufnahme bestimmter rechtlicher und wirtschaftlicher Nachteile verlangen, ist häufig; wem eine solche Gestaltungsmöglichkeit offensteht, muß deshalb abwägen, ob er von ihr - wie der Kläger - trotz der mit ihr verbundenen Nachteile Gebrauch machen will.

Stellt nach allem der vom Kläger 1965 beantragte Erstattungsbescheid einen ihm begünstigenden Verwaltungsakt dar, weil sein Recht auf Erstattung von Beiträgen von der Beklagten anerkannt worden ist, so vermag § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO in der vor dem 1. Januar 1981 geltenden Fassung (aF) keine Rechtsgrundlage für die Aufhebung dieses Leistungsbescheides zu liefern. Die Vorschrift ermächtigt, einen bindenden Verwaltungsakt neu zu prüfen, wenn ein Beteiligter eine Urkunde, die einen ihm günstigeren Verwaltungsakt herbeigeführt haben würde, auffindet oder zu benutzen instand gesetzt wird. Im Sinne dieser Vorschrift könnte ein im Vergleich zum Bescheid der Beklagten vom 16. März 1965 - noch - "günstigerer Verwaltungsakt" nur vorsehen, dem Kläger Beiträge in noch weiterem Umfange zu erstatten. Das aber begehrt der Kläger gerade nicht. Er verlangt im Gegenteil, daß die im Bescheid der Beklagten vom 16. März 1965 bewilligte Beitragserstattung rückgängig gemacht wird. Zu diesem Zweck kann sich der Kläger nicht darauf berufen, daß ihm laut Bescheinigung der Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz seinerzeit auch noch die zur ArV entrichteten drei Monatsbeiträge hätten erstattet werden müssen. "Günstiger" als der angeblich neu zu prüfende ursprüngliche Verwaltungsakt und bezogen auf dessen Regelungsinhalt könnte nur ein neuer Bescheid sein, der die Beitragserstattung auf die drei Beiträge zur ArV erstreckt.

Nach allem gibt § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO dem Kläger keine Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Erstattungsbescheides vom 16. März 1965. Soweit sich aus der Entscheidung des 12. Senats des BSG vom 13. November 1974 - 12 RJ 334/72 (BSGE 38, 207, 210 = SozR 2200 § 1744 Nr 2), - die sich im übrigen auf einen anderen Sachverhalt bezieht, etwas anderes ergeben sollte, hält der erkennende Senat hieran nicht fest. Einer Anrufung des Großen Senats wegen Abweichung nach § 42 SGG bedurfte es nicht; der 12. Senat ist nicht mehr zuständig, über Anträge auf Aufhebung von Erstattungsbescheiden zu entscheiden; da er nunmehr andere Zuständigkeiten hat, kommt für die Zukunft eine uneinheitliche Rechtsprechung von 12. und 1. Senat nicht in Betracht (vgl dazu den Geschäftsverteilungsplan des BSG für das Jahr 1981).

Daß § 79 AVG, § 1300 RVO das Begehren des Klägers ebenfalls nicht stützen, haben das LSG und die Beklagte unter Zitierung der einschlägigen Rechtsprechung des BSG zutreffend dargelegt: Diese Vorschriften betreffen nur den Fall, daß Leistungen zu Unrecht vorenthalten worden sind, nicht aber - wie hier - die (angeblich) rechtswidrige Gewährung von Leistungen; vorgeblich zu Unrecht bewilligte Beitragserstattungen lassen sich daher unter Berufung auf sie nicht rückgängig machen (vgl zuletzt BSG in SozR 2200 § 1303 Nr 12).

Für den vorliegenden Fall fehlt nicht nur eine ausdrückliche Vorschrift, die die Bindung des Erstattungsbescheides der Beklagten vom 16. März 1965 zu durchbrechen gestattet, sondern auch ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Verwaltungsverfahrens gleichen Inhalts. Die Aufhebung des begünstigenden - angeblich - rechtswidrigen Verwaltungsakts (vgl § 45 SGB 10) mit Zustimmung oder gar - wie hier - auf Wunsch des Begünstigten verletzt zwar grundsätzlich nicht dessen schutzwürdiges Vertrauen (vgl dazu Abs 2 aaO); trotzdem kann es im öffentlichen Interesse liegen, daß es bei der durch Bescheid gewährten Vergünstigung verbleibt. Eine freie Aufhebbarkeit des bindend gewordenen Erstattungsbescheides nach § 82 AVG scheitert im übrigen daran, daß der durch die Beitragserstattung bewirkte Verfall von Leistungsansprüchen (Abs 7 aaO) die von der Beklagten vertretene Solidargemeinschaft aller Rentenversicherten von Rentenanwartschaften freistellt und sie insofern begünstigt; sie hat daher ein anzuerkennendes rechtliches Interesse daran, an der Bindung des Erstattungsbescheides nach § 77 SGG festzuhalten. Mithin kann der Erstattungsbescheid trotz der Zustimmung des Klägers jedenfalls solange nicht aufgehoben werden, als sich die Beklagte auf die Bindung dieses Bescheides beruft.

Nach alledem dringt der Kläger mit seinem behaupteten Anspruch auf Aufhebung des Erstattungsbescheides nicht durch. Das angefochtene Urteil trifft zu, so daß die Revision des Klägers zurückzuweisen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 60392

RegNr, 9438

Das Beitragsrecht Meuer, B 60 A 9a 25/4 (LT1)

EzS, 60/36

SozR 2200 § 1303, Nr 23 (LT1)

SozSich 1982, 160 (L1)

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