Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtigkeit eines Verwaltungsakts

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Nichtigkeit von Bescheiden.

2. Die nicht im förmlichen Verfahren abgegebene Mitteilung eines Versicherungsträgers eines Mitgliedstaates der EWG an einen deutschen Versicherungsträger ist mangels Außenwirkung kein Verwaltungsakt.

3. Mangels Änderung in den Verhältnissen des Klägers kann eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht entzogen werden, wenn die Rentenbewilligung deshalb unrichtig ist, weil der deutsche Versicherungsträger eine unrichtige Mitteilung über Beitragszeiten eines anderen Versicherungsträgers eines Mitgliedstaates der EWG seinem Bescheid zugrunde gelegt hat.

4. Zum Vorbehalt bei einer Rentenbewilligung.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Verwaltungsakt ist nichtig, wenn er schlechthin unsinnig oder mißverständlich ist oder wenn sein Inhalt auch mit Hilfe der Begründung nicht klar und eindeutig feststellbar wäre oder wenn er keine vollziehbare, befolgbare und vollstreckbare Entscheidung enthielte oder die erlassene Stelle nicht erkennen ließe oder wenn die Beklagte für den Erlaß unter keinem denkbaren Gesichtspunkt - also "absolut" - unzuständig gewesen ist, oder wenn der Bescheid mit einem schweren Mangel behaftet ist, der einem aufmerksamen und verständigen Staatsbürger ohne weiteres erkennbar (offensichtlich) ist.

2. Ist aus triftigem Grund - insbesondere im Interesse des Begünstigen - ein schnelles Handeln des Versicherungsträgers angezeigt, darf der Verwaltungsakt einen Widerrufsvorbehalt enthalten.

 

Normenkette

RVO § 1286 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1744 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1953-09-03, Nr. 6 Fassung: 1953-09-03; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; EWGVtr Art. 177 Fassung: 1957-03-25; EuGHVfO 1974 Art. 103 Fassung: 1959-03-03; EWGV 3 Art. 28 Fassung: 1958-09-25; EWGV 4 Art. 34 Fassung: 1958-12-03; GG Art. 20 Abs. 3 Fassung: 1949-05-23, Art. 92 Fassung: 1968-06-18

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. März 1974 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch deren außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, der Klägerin die auf Grund eines bindend gewordenen Bescheids gewährte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) zu entziehen.

Die ... 1902 geborene und zuletzt als Schwesternhelferin von 1966 bis 1969 beschäftigt gewesene Klägerin beantragte im Oktober 1969, ihr Rente wegen EU zu gewähren. Für die Klägerin waren für die Zeit von Januar 1942 bis Februar 1944 und von Dezember 1966 bis Oktober 1969 für 57 Kalendermonate Beiträge entrichtet worden. Ein von der Beklagten veranlaßtes medizinisches Gutachten vom 12. November 1969 ergab, daß die Klägerin seit der Antragstellung als erwerbsunfähig anzusehen sei.

Da die Klägerin Beschäftigungen in Belgien (1934 bis 1938 als Krankenschwester) und Frankreich (1930 bis 1932 als Lernschwester; 1941 als OP-Schwester) angegeben hatte, veranlaßte die Beklagte Ermittlungen bei französischen Versicherungsträgern in S und in P sowie bei dem belgischen Versicherungsträger in B (Office National des Pensions pour Travailleurs Salaries = Rijksdienst voor Werknemerspensioenen). Während die Ermittlungen bei den französischen Versicherungsträgern erfolglos blieben, bescheinigte Office National des Pensions pour Travailleurs Salaries der Beklagten in dem Bearbeitungsformblatt "E 26" am 17. November 1970, die Klägerin habe in Belgien eine Versicherungszeit vom 1. Januar 1934 bis 31. Dezember 1938 zurückgelegt. Daraufhin gewährte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 12. Februar 1971 vom 1. November 1969 an Rente wegen EU.

Der Bescheid enthält u.a. folgenden Zusatz:

"Bis zur endgültigen Entscheidung nach überstaatlichem oder zwischenstaatlichem Recht gilt dieser Bescheid hinsichtlich der Höhe der deutschen Rente als Vorschußbescheid. Ob Ihnen aus den zur belgischen Rentenversicherung entrichteten Beiträgen eine Leistung im Rahmen der Verordnung Nrn. 3 und 4 der EWG gewährt werden kann, werden wir vom zuständigen belgischen Versicherungsträger prüfen lassen. Laut Mitteilung des französischen Versicherungsträgers sind zum dortigen Rentenversicherungsträger keine Beiträge entrichtet worden ..."

Die Beklagte berechnete die Rente wegen EU nur auf Grund der zur deutschen Rentenversicherung zurückgelegten nachgewiesenen Beitragszeit von 57 Kalendermonaten.

Mit Schreiben vom 1. Februar 1971 übersandte der belgische Versicherungsträger der Beklagten erneut das Formblatt "E 26". Darin wurde außer der bereits bestätigten Versicherungszeit vom 1. Januar 1934 bis 31. Dezember 1938 zusätzlich eine "gleichgestellte Zeit" vom 1. Januar 1939 bis 31. Dezember 1945 bescheinigt.

Im März 1971 beantragte die Beklagte gemäß Art. 34 der Verordnung (VO) Nr. 4 der EWG bei dem genannten belgischen Versicherungsträger für die Klägerin Leistung aus den von dieser in Belgien zurückgelegten Versicherungszeiten. Dies lehnte der belgische Versicherungsträger mit dem förmlichen Bescheid vom 22. Oktober 1971 ab, weil die Klägerin in Belgien keine anrechenbare Versicherungszeit zurückgelegt habe. Nachdem die Beklagte den belgischen Versicherungsträger auf den Widerspruch zwischen den früheren Angaben über Versicherungszeiten der Klägerin und den nunmehrigen im Bescheid vom 22. Oktober 1971 hingewiesen hatte, teilte der belgische Versicherungsträger der Beklagten mit Schreiben vom 28. Dezember 1971 mit, die frühere Bestätigung über eine von der Klägerin in Belgien zurückgelegte Versicherungszeit sei als "nichtig anzusehen"; nach belgischen Vorschriften könne die Beschäftigung der Klägerin als Klosterschwester nicht berücksichtigt werden.

Die Beklagte hob daraufhin mit Bescheid vom 26. April 1972 den Bescheid vom 12. Februar 1971 über die Bewilligung einer EU-Rente auf. Sie begründete diesen Bescheid u.a. damit, aus dem Rentenbescheid sei zu ersehen, daß zur deutschen Rentenversicherung nur 57 Beitragsmonate zurückgelegt worden seien. Die Bewilligung sei auf Grund einer Beitragsaufstellung (E 26) des belgischen Versicherungsträgers vom 17. November 1970 erfolgt, wonach von 1934 bis 1938 für fünf Kalenderjahre Versicherungszeiten in Belgien nachgewiesen worden seien. Unter Zusammenrechnung der deutschen und belgischen Zeiten nach den EWG-VOen Nrn. 3 und 4 sei hiernach die erforderliche Wartezeit von mindestens 60 Kalendermonaten erfüllt gewesen. Nach Einleitung des zwischenstaatlichen Rentenverfahrens habe aber der belgische Versicherungsträger mitgeteilt, daß das "seinerzeitige E 26" aufgehoben werde. Die damalige Tätigkeit in einem belgischen Kloster habe nicht der Versicherungspflicht unterlegen. Hiermit sei die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht mehr erfüllt. Die Rente werde ab 1. Juni 1972 entzogen. Auf die Rückforderung der bisher gezahlten Beträge werde verzichtet.

Das Sozialgericht (SG) Freiburg hat der Klage stattgegeben und den Bescheid der Beklagten vom 26. April 1972 aufgehoben (Urteil vom 20. Februar 1973). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 21. März 1974).

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1744 Abs. 1 Nrn. 5 und 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 26. April 1972 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.

Das LSG ist mit Recht davon ausgegangen, als nationales Gericht zur Entscheidung des Falles berufen zu sein. Es besteht nämlich kein Grund, den Gerichtshof der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EuGH) zur Vorabentscheidung gemäß Art. 177 des EWG-Vertrages (EWGV), Art. 103 der Verfahrensordnung des EuGH vom 3. März 1959 (BGBl II 1205) anzurufen. Das hätte geschehen müssen, wenn EWG-Recht hätte ausgelegt werden müssen (Art. 177 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3 EWGV). Hier ist jedoch keine Bestimmung des EWGV oder der EWG-VOen Nrn. 3 und 4 auszulegen. Zwar hat das Berufungsgericht anhand von Vorschriften der EWG-VOen Nrn. 3 und 4 einen Bearbeitungsfehler geglaubt aufdecken zu können, jedoch ist diese Feststellung ohne Rechtsfolge, da sie nicht den Kern der Sache betrifft und als lediglich zusätzliche Begründung die Entscheidung nicht trägt.

Der EuGH ist vor allem deshalb nicht zuständig, weil das EWG-Recht keine eigene Vorschrift über die eigentliche Streitfrage des Falles enthält. Es wäre nämlich eine EWG-Vorschrift erforderlich gewesen, die die Rücknahme eines Leistungsbescheids eines Versicherungsträgers eines Mitgliedsstaates regelt, bei dem dieser Versicherungsträger irrig auf Grund einer Mitteilung eines Versicherungsträgers eines anderen Mitgliedsstaates angenommen hat, daß alle versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung erfüllt sein würden, und er deshalb einen auf der sich später als unrichtig herausstellenden Mitteilung beruhenden Vorschußbescheid erteilt. Das EWG-Recht sieht zwar in Art. 28 Abs. 1 Buchst. g EWG-VO Nr. 3 die Rücknahme eines Bescheids vor. Danach werden in den Fällen der Buchst. e und f desselben Artikels die bereits festgestellten Leistungen jeweils neu nach Buchst. b festgestellt, sobald die Voraussetzungen der Rechtsvorschrift eines oder mehrerer anderer Mitgliedsstaaten unter Berücksichtigung der Zusammenrechnung der Zeiten nach Art. 27 erfüllt sind. Buchst. e bezieht sich aber nur auf solche Fälle, in denen die Rente nach Art. 28 Abs. 1 Buchst. b nach Zeitabschnitten (pro rata temporis) berechnet worden ist; Buchst. f erfaßt nur solche Fälle, in denen die Voraussetzung einer Rente dem Grunde und der Höhe nach allein unter Berücksichtigung der nationalen Beiträge - hier der deutschen Beiträge - festgestellt worden ist. Keiner dieser Fälle liegt hier vor. Die Beklagte hat vielmehr die Rente der Klägerin wegen Erwerbsunfähigkeit, soweit die Erfüllung der Wartezeit festzustellen war, also dem Grunde nach, unter Anrechnung belgischer und deutscher Beiträge festgestellt, die Höhe der Rente jedoch allein aus den deutschen Beiträgen mit 57 Kalendermonaten berechnet. Die Rücknahmemöglichkeit nach Art. 28 Abs. 1 Buchst. g der EWG-VO Nr. 3 scheidet daher für einen solchen Fall aus. Dies hat bereits der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 29. April 1970 - 5 RKn 58/67 - (SozR Nr. 13 zu EWG-VO Nr. 3 Art. 28) angesprochen. Der erkennende Senat schließt sich dem an. Eine Vorabentscheidung des EuGH ist somit nicht einzuholen.

Die Beklagte war nicht berechtigt, ihren Bescheid vom 12. Februar 1971 aufzuheben. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Bescheid vom 12. Februar 1971 in der Sache bindend geworden war, weil die Klägerin gegen ihn keinen Rechtsbehelf eingelegt hatte (§ 77 SGG). Dem Bescheid hätte die Bindungswirkung dann von vornherein gefehlt, wenn er nichtig gewesen wäre. Dies wäre etwa der Fall gewesen, wenn der Bescheid schlechthin unsinnig oder mißverständlich (BSGE 25, 251, 256), sein Inhalt auch mit Hilfe der Begründung nicht klar und eindeutig feststellbar wäre, er keine vollziehbare, befolgbare und vollstreckbare Entscheidung enthielte, die die erlassende Stelle nicht erkennen ließe (Peter Badura, Das Verwaltungsverfahren, in: Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1975, S. 232, hier: S. 275, 279). Nichtigkeit wäre auch anzunehmen, wenn die Beklagte für den Erlaß des Bescheids unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zuständig und damit "absolut" unzuständig gewesen wäre (BVerwGE 1, 67, 70; BSGE 9, 171, 178; 15, 282, 286; 24, 162, 167; SozR Nr. 48 zu § 77 SGG), oder wenn der Bescheid mit einem schweren Mangel behaftet gewesen wäre, der einem aufmerksamen und verständigen Staatsbürger ohne weiteres erkennbar (offensichtlich) gewesen wäre (BVerwGE 19, 284, 289; BSGE 24, 162, 165, 168). Derartige Mängel enthält der Bescheid jedoch nicht.

Das Berufungsgericht ist daher zutreffend davon ausgegangen, daß die Beklagte an den zwar fehlerhaften, aber nicht nichtigen Bescheid vom 12. Februar 1971 gebunden ist, "soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist" (§ 77 SGG). Dem LSG ist darin beizupflichten, daß Rechtsgrundlagen eines zulässigen Eingriffs in die Bindungswirkung von Bescheiden fehlen.

Dafür kommt der in dem Bescheid vom 12. Februar 1971 enthaltene Widerrufsvorbehalt seinem ganzen Inhalt nach nicht in Betracht. Der dem Bescheid beigegebene Zusatz macht lediglich einen Vorbehalt zur "Höhe der deutschen Rente". Er enthält keinen Vorbehalt zu dem für die Rentenleistung entscheidenden Rechtsgrund der voll zu erfüllenden Wartezeit.

Als Rechtsgrundlage scheiden auch die Vorschriften des § 1744 Abs. 1 Nrn. 5 und 6 RVO aus. Daß die Vorschrift des § 1744 Abs. 1 Nr. 5 RVO nicht unmittelbar anzuwenden ist, erhellt bereits aus ihrem Wortlaut. Danach kann in einen bindenden Verwaltungsakt eines Versicherungsträgers eingegriffen werden, wenn "ein strafgerichtliches Urteil, auf das sich der Verwaltungsakt stützt, durch ein anderes rechtskräftig gewordenes Urteil aufgehoben worden ist". Es fehlt schon an einem strafgerichtlichen Urteil, auf das sich der Bescheid vom 12. Februar 1971 hätte stützen müssen. Indes ist die Vorschrift des § 1744 Abs. 1 Nr. 5 RVO nach ihrem Sinn und Zweck und damit über ihren Wortlaut hinaus auch dann anzuwenden, wenn die "Entscheidung", welche die Grundlage des Verwaltungsakts gewesen ist, nicht ein strafgerichtliches Urteil, sondern ebenfalls ein Verwaltungsakt war und wenn dieser Verwaltungsakt später wieder aufgehoben wurde (BSGE 22, 13, 14 ff = SozR Nr. 7 zu § 1744 RVO). Das LSG hat hierzu zutreffend ausgeführt, die Mitteilung des belgischen Versicherungsträgers vom 17. November 1970 bzw. die Feststellung in dem gleichzeitig übersandten Vordruck "E 26", die Klägerin habe in Belgien eine Versicherungszeit von 5 Jahren zurückgelegt, sei kein Verwaltungsakt i.S. einer rechtsverbindlichen Entscheidung. Entgegen der Auffassung der Beklagten fehlt der Mitteilung die einem Bescheid wesenseigene unmittelbare Rechtswirkung nach außen. Denn dieser Mitwirkungsakt des belgischen Versicherungsträgers richtete sich allein an die Beklagte. Die Klägerin hat davon nichts erfahren. Die Beklagte hat den Mitwirkungsvorgang der Klägerin nicht offengelegt. Die Beklagte hat in ihrem Bescheid die Mitteilung des belgischen Versicherungsträgers inhaltlich übernommen und sie insofern zur Rechtsvoraussetzung für ihren Bescheid gemacht. Damit ist der Bescheid zwar ein gebundener Verwaltungsakt, jedoch kommt der Mitteilung des belgischen Versicherungsträgers keine Außenwirkung mit der Folge zu, daß diese Mitteilung kein Verwaltungsakt ist. Im allgemeinen Verwaltungsrecht ist dies anerkannt (vgl. BVerwGE 16, 116 betr. Zustimmung der Landesstraßenbaubehörde gemäß § 9 Abs. 2 BFernStrG; BVerwGE 18, 333 betr. Zustimmung des Bundesamtes für gewerbliche Wirtschaft zur Erteilung eines Warenbegleitscheins im Interzonenhandel; BVerwGE 21, 354 betr. Zustimmung der Luftfahrtbehörde gemäß § 12 Abs. 2 LuftVG; BVerwGE 26, 31 und 32, 148, 154 ff betr. Zulassung einer Ausnahme von der laufbahnrechtlichen Mindestbewährungszeit durch den Bundespersonalausschuß bei der Beamtenernennung; OVG Münster OVGE 19, 285; Haug, JuS 1965, 134; Eyermann/Fröhler, VerwGO, 6. Aufl. 1974, § 42, Anm. 56, 56 a bis e, 57; Peter Badura, aaO., S. 262 f). Es ist kein Grund ersichtlich, im vorliegenden Fall anders zu entscheiden. Ob die Mitteilung des belgischen Versicherungsträgers an die Beklagte mit einem auch bei Wanderversicherten vorkommenden verwaltungsinternen Vorgang verglichen werden kann, wie dies das LSG annimmt, kann offenbleiben. Dies ist nämlich für die Entscheidung unerheblich. Ebenfalls kann in diesem Zusammenhang offenbleiben, ob die Beklagte in der Zusammenarbeit mit dem belgischen Versicherungsträger und bei der Erteilung ihres Bescheids vom 12. Februar 1971 nach den Vorschriften der EWG-VOen Nrn. 3 und 4 richtig verfahren ist. Selbst wenn der Beklagten insofern - wie dies das Berufungsgericht angenommen hat - ein Verfahrensfehler vorzuwerfen wäre, würde dies am Ergebnis nichts ändern. Denn auch dann könnte der Mitteilung des belgischen Versicherungsträgers keine Außenwirkung zugeschrieben werden; die Mitteilung wäre nach wie vor kein Verwaltungsakt.

Das Berufungsgericht hat darüber hinaus ebenfalls zutreffend als Rechtsgrundlage für die Rücknahme des Bescheids § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO ausgeschlossen. Ein Eingriff in einen bindenden Bescheid eines Versicherungsträgers ist nach dieser Vorschrift statthaft, "wenn ein Beteiligter nachträglich eine Urkunde, die einen ihm günstigeren Verwaltungsakt herbeigeführt haben würde, auffindet oder zu benutzen instand gesetzt wird". Als eine solche Urkunde kommt der förmliche Bescheid des belgischen Versicherungsträgers vom 22. Oktober 1971 nicht in Betracht. In § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO sind nur solche Urkunden gemeint, die vor dem Eintritt der Bindungswirkung des Erstbescheids (12. Februar 1971) errichtet worden sind, also zur Zeit der Entscheidung über den bindenden Verwaltungsakt vorhanden waren (BSGE 6, 283, 286 f; 10, 151, 153; 30, 99, 101; SozR 2200 § 1744 RVO Nr. 2 mit Nachweisen). Der Bescheid des belgischen Versicherungsträgers ist daher keine derartige Urkunde.

Als Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Rentenbewilligungsbescheids vom 12. Februar 1971 und die Entziehung der der Klägerin gewährten Rente wegen EU scheidet ferner § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO aus. Danach ist u.a. dem Empfänger einer Rente wegen EU diese Rente zu entziehen, wenn er infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. Die Beklagte wäre nach § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO nur dann berechtigt gewesen, der Klägerin die Rente wegen EU zu entziehen, wenn sich ihre Verhältnisse, wie sie zur Zeit der Rentenbewilligung bestanden, nachträglich so geändert hätten, daß die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs. 2 RVO) nunmehr im Zeitpunkt der Rentenentziehung nicht mehr vorhanden gewesen wären. Nach den unangefochtenen Feststellungen des LSG hat sich aber an den insoweit maßgeblichen tatsächlichen Verhältnissen überhaupt nichts geändert; die Klägerin ist nach wie vor erwerbsunfähig (§ 1247 Abs. 2 RVO).

Die von der Beklagten ausgesprochene Rentenentziehung läßt sich nur dann halten, wenn das Gesetz für Fälle der vorliegenden Art als lückenhaft anzusehen wäre und die Lücke im Wege der Analogie durch den Richter geschlossen werden könnte. Das ist hier jedoch nicht der Fall.

Im Recht der Sozialen Sicherheit sind bei nachträglicher wesentlicher Änderung der für die Bewilligung der Leistung maßgeblichen Verhältnisse Leistungen für die Zukunft neu festzustellen. Diesem Zweck dienen die Vorschriften der §§ 622, 1286 RVO, § 63 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), § 86 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG), § 151 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) und § 62 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG - (BSGE 34, 221, 224 = SozR Nr. 33 zu § 1291 RVO; SozR Nr. 24 zu § 1286 RVO, Bl. Aa 25 Rückseite). Wie das BSG mehrfach entschieden hat, sind die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätze über die Rücknahme von Verwaltungsakten auf den Gebieten des Rechts der Sozialen Sicherheit nicht anzuwenden. Vielmehr sind die Regelungen über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten abschließend in den §§ 622, 1286, 627, 1300, 1744 RVO geregelt. Sie sind damit grundsätzlich nicht lückenhaft und in aller Regel einer Lückenfüllung nicht zugänglich (BSGE 2, 188, 190 f; 7, 275, 277; 11, 226, 229; 14, 10, 13 ff; 14, 154, 157; 15, 118, 120; 15, 252, 256; 18, 84, 90; 20, 287, 288; 22, 36, 37; 24, 203, 206, 207; 31, 190, 194).

Allerdings hat der 5. Senat des BSG in seinem Urteil vom 11. Juli 1972 - 5 RJ 350/71 - (BSGE 34, 221 = SozR Nr. 33 zu § 1291 RVO) im Wege der Lückenfüllung entschieden, daß der Rentenversicherungsträger dann eine nach § 1291 Abs. 2 RVO wiederaufgelebte Witwen- und Witwerrente entziehen darf, wenn und soweit der Berechtigte nach der Wiederbewilligung dieser Rente einen auf sie anrechenbaren Versorgungs-, Unterhalts- oder Rentenanspruch erwirbt. Derselbe Senat hat diese Rechtsprechung in seinem Urteil vom 18. Dezember 1973 - 5 RKn 48/72 - (SozR Nr. 24 zu § 1286 RVO) im Fall einer Zulagengewährung nach Art. 28 Abs. 3 der EWG-VO Nr. 3 fortgeführt. Dort hat der 5. Senat ausgesprochen, daß der deutsche Rentenversicherungsträger einen Rentenbewilligungsbescheid zurücknehmen darf, wenn und soweit sich der Anspruch auf die Zulage infolge Erhöhung der mitgliedsstaatlichen Teilrente verringert. Der 5. Senat hat in dem letzterwähnten Fall das Recht der §§ 622, 1286 RVO, § 63 AVG, § 86 RKG, § 151 AFG und § 62 BVG lückenhaft erklärt, die so festgestellte Lücke im Wege der Analogie zu diesen Vorschriften geschlossen und daher den Rentenversicherungsträger als rechtlich ermächtigt angesehen, den infolge der Erhöhung der mitgliedsstaatlichen Rente in bezug auf die gemäß Art. 28 Abs. 3 Satz 1 der EWG-VO Nr. 3 bewilligte Zulage nachträglich sachlich-rechtlich unrichtig gewordenen Rentenbescheid auch zu Ungunsten des Versicherten für die Zukunft zu widerrufen und durch einen Neufeststellungsbescheid zu ersetzen (SozR Nr. 24 zu § 1286 RVO, Bl. Aa 25 Rückseite). Indes ist dieser Rechtsprechung des 5. Senats für den vorliegenden Fall keine tragfähige Grundlage zu entnehmen. Anders als hier hatten sich nämlich dort wegen der Erhöhung der mitgliedsstaatlichen Rente die tatsächlichen Verhältnisse geändert. Nach der Lage des hier zu entscheidenden Falles konnten die maßgeblichen Verhältnisse allein in der Zahl der auf die Wartezeit anrechnungsfähigen Versicherungsbeiträge liegen. Die Klägerin hatte in der deutschen Rentenversicherung eine Versicherungszeit von 57 Kalendermonaten zurückgelegt, nicht aber ebenfalls bei dem belgischen Versicherungsträger. Diese von Anfang an bestehende und unverändert gebliebene Sachlage war freilich der Beklagten zunächst auf Grund der Mitteilung des belgischen Versicherungsträgers vom 17. November 1970, wonach die Klägerin in Belgien eine Versicherungszeit von 5 Jahren zurückgelegt haben sollte, verborgen geblieben. Wenn auch die Beklagte erst durch den förmlichen Bescheid des belgischen Versicherungsträgers erfuhr, daß die Mitteilung desselben belgischen Versicherungsträgers vom 17. November 1970 unrichtig war, änderten sich dadurch die für den Fall maßgeblichen Verhältnisse - vorhanden war allein eine deutsche Versicherungszeit von 57 Kalendermonaten - nicht. Die "Verhältnisse" wurden nunmehr lediglich offengelegt. Es fehlt deshalb schon an der auch für eine entsprechende Anwendung des § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO erforderlichen Voraussetzung der Änderung in den Verhältnissen des Rentenempfängers. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß die Beklagte den Rentenbewilligungsbescheid - ohne den förmlichen Bescheid des belgischen Versicherungsträgers abzuwarten - deshalb erlassen hat, weil sie der Klägerin alsbald die Rente zukommen lassen wollte und die irrige Mitteilung über die belgische Versicherungszeit von 5 Jahren ohne ihre eigene Mitwirkung und erst recht ohne ihr Verschulden ergangen war.

Die Beklagte war daher nach dem geltenden Recht (§§ 1286 Abs. 1, Satz 1, 1744 Abs. 1 Nrn. 5 und 6 RVO; BSGE 22, 13, 14 ff = SozR Nr. 7 zu § 1744 RVO; BSGE 34, 221 = SozR Nr. 33 zu § 1291 RVO; SozR Nr. 24 zu § 1286 RVO) nicht berechtigt, den bindenden Rentenbescheid vom 12. Februar 1971 mit Bescheid vom 26. April 1972 aufzuheben und der Klägerin die Rente wegen EU zu entziehen. Vielmehr ist der Bescheid der Beklagten vom 26. April 1972, wie dies die Vorinstanzen richtig entschieden haben, rechtswidrig.

Gegenüber diesem Ergebnis hat allerdings schon das Berufungsgericht zutreffend auf die insgesamt unzulänglichen gesetzlichen Regelungen bei einem Eingriff in die Bindungswirkung eines Leistungsbescheids hingewiesen. Für die hier in Rede stehenden gesetzlichen Regelungen der Rücknahme und des Widerrufs von Verwaltungsakten auf den Gebieten des Rechts der Sozialen Sicherheit ist dies bereits vor nahezu 10 Jahren durch das BSG in den Urteilen des 11. Senats vom 19. Januar 1966 - 11/1 RA 344/62 - (BSGE 24, 203, 206 f), vom 15. Februar 1966 - 11 RA 289/65 - (BSGE 24, 236, 240) und vom 21. September 1966 - 11 RA 109/66 - (BSGE 25, 211, 213) geschehen. Dort ist es als unbefriedigend bezeichnet worden, daß die Versicherungsträger im allgemeinen keine rechtliche Möglichkeit haben, eine zu Unrecht bewilligte Rente wenigstens für die Zukunft zu entziehen und Bewilligungsbescheide insoweit zurückzunehmen. Obschon bereits damals die Ergebnis der Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages, (Bd. II - Sitzungsberichte - H 6 ff, H 10 - H 24 (Thieme), H 61 (Langkeit), H 67 (Wickenhagen), H 91 (Rohwer/Kahlmann), H 122, K 22 (Bogs), bekannt waren, inzwischen für den Bereich des allgemeinen Verwaltungsrechts im Entwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (EVwVfG) 1973 (BT-Drucks. 7/910) in den §§ 44, 45 und 47 Regeln über die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts, den Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsakts und das Wiederaufgreifen des Verfahrens erarbeitet worden sind, hat der Gesetzgeber die zusammenfassende und vereinheitlichende Neuregelung für das Recht der Sozialen Sicherheit bisher nicht geschaffen. Dies erscheint aber dringend geboten. Nur so können die bestehende Unübersichtlichkeit und die daraus folgende Rechtsunsicherheit in der Korrektur von Gewährung und Fortbestand objektiv nicht zustehender Sozialleistungen, die auch die Finanzlage der Versicherungsträger nachteilig beeinflussen, ausgeräumt werden.

Die Beklagte hätte allerdings dem sie belastenden Ergebnis hier von vornherein durch einen umfassenden Vorbehalt in dem Rentenbewilligungsbescheid vom 12. Februar 1971 entgehen können. Dieser Vorbehalt hätte dahin gefaßt werden müssen, daß die gewährte Versichertenrente nur dann Bestand haben sollte, wenn die der Beklagten von dem belgischen Rentenversicherungsträger mitgeteilte belgische Versicherungszeit von 5 Jahren in dem späteren förmlichen Verfahren nach Art. 28 der EWG-VO Nr. 3 und Art. 34 der EWG-VO Nr. 4 bestätigt werde. Einem solchen Vorbehalt stehen keine Vorschriften der EWG-VOen Nrn. 3 und 4 entgegen. Der nach Art. 34 Abs. 3 der EWG-VO Nr. 4 bei einer Vorschußrente zulässige Vorbehalt bezieht sich nur auf die Rentenhöhe, nicht aber - worauf es hier angekommen wäre - auf den Rechtsgrund der Rente. Diese besondere Regelung im EWG-Recht schließt aber einen den Rechtsgrund betreffenden umfassenden Vorbehalt des deutschen Rentenversicherungsträgers bei der Vorschußrentenbewilligung nicht aus, insbesondere, wenn er sich, ohne den Ausgang des förmlichen Verfahrens abzuwarten, entschließt, dem Rentenbewerber möglichst bald eine Rente zu bewilligen. Deutsche Rechtsvorschriften, insbesondere solche der RVO, stehen einem solchen Vorgehen ebenfalls nicht entgegen. Es kann offenbleiben, ob ein Verwaltungsakt auf Grund eines Widerrufsvorbehalts nur nach Ermessen und aus solchen Gründen widerrufen werden kann, die innerhalb des jeweiligen Sachbereichs liegen, auf Grund dessen der Verwaltungsakt erlassen worden ist (vgl. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, S. 410; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Erster Band Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1973, S. 216 f) oder ob der vorbehaltene Widerruf sogar ohne diese Beschränkung zulässig ist (so § 45 Abs. 2 Nr. 1 EVwVfG 1973: "Ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt darf, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft nur widerrufen werden, 1. wenn der Widerruf durch Rechtsvorschrift zugelassen oder im Verwaltungsakt vorbehalten ist"). Die Rechtsprechung des BSG hat nämlich jedenfalls in Fällen, in denen aus triftigem Grund, insbesondere im Interesse des Begünstigten, ein schnelles Handeln des Versicherungsträgers angezeigt ist, einen Vorbehalt zugelassen (BSGE 20, 287, 288 f; 30, 124, 125; 37, 155, 158 f). Auf derselben Linie würde ein umfassender, auch den Grund des Rentenanspruchs einschließender Vorbehalt in Fällen der hier in Betracht kommenden Art liegen. Der Rentenversicherungsträger könnte in zügiger, wenngleich zunächst nicht förmlicher Weise im Interesse des Versicherten alsbald eine Rente feststellen. Ein solches beschleunigtes Verfahren käme den Versicherten zugute, die nicht darauf verwiesen werden müßten, das langwierigere förmliche Verfahren abzuwarten, ehe ihnen eine Rentenleistung zuerkannt werden könnte. Andererseits müssen sie dann den Leistungsvorbehalt, der im Interesse des Rentenversicherungsträgers und der ihm aufgetragenen richtigen Rechtsanwendung liegt, hinnehmen. Insgesamt ist daher der umfassende Vorbehalt geeignet, sowohl den Belangen des Begünstigten als auch denjenigen des Rentenversicherungsträgers ausgewogen Rechnung zu tragen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646753

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