Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung wegen Tätigkeit für das MfS

 

Normenkette

Einigungsvertrag Anl. I Kap. XIX Sachgeb. A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2; BGB § 626; SächsPersVG § 73; ZPO § 286

 

Verfahrensgang

Sächsisches LAG (Urteil vom 16.01.1996; Aktenzeichen 7 Sa 746/95)

ArbG Leipzig (Urteil vom 03.05.1995; Aktenzeichen 4 Ca 11179/94)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 16. Januar 1996 – 7 Sa 746/95 – aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung, die der Beklagte auf Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 der Anlage I zum Einigungsvertrag (künftig: Abs. 5 Ziff. 2 EV) sowie auf § 626 BGB und § 54 BAT-O stützt.

Die im Jahre 1945 geborene Klägerin war seit 1964 Lehrerin im Staatsdienst der ehemaligen DDR.

Am 17. März 1991 erklärte sie in einem Fragebogen gegenüber dem Beklagten, sie habe weder offiziell noch inoffiziell, hauptamtlich oder sonstwie für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen DDR gearbeitet. Sie bejahte die Frage nach Kontakten, die zu ihrer Anwerbung führen sollten, was sie aber abgelehnt habe. Hierzu führte sie aus: „1974 oder 1975. Ich sollte als Informant fungieren, falls sich dies für unsere Schule erforderlich machen sollte.”

Mit Schreiben vom 7. November 1994 teilte der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Gauck-Behörde) dem Beklagten mit, die Klägerin sei vom 4. Februar 1974 bis zum 9. November 1979 als inoffizielle Mitarbeiterin zur Sicherung und Durchdringung gesellschaftlicher Bereiche oder Objekte unter dem Decknamen „Eva” für das MfS erfaßt gewesen. Die Akte der Klägerin enthält eine Schweigeverpflichtung vom 9. Januar 1974, eine handschriftliche Verpflichtungserklärung vom 4. Februar 1974 sowie fünf Treffberichte des Führungsoffiziers und einen weiteren Bericht des Führungsoffiziers nach Informationen der Klägerin.

Der Beklagte hörte die Klägerin am 6. Dezember 1994 hierzu an. Die Klägerin gab an, es sei im Januar 1974 zu Kontakten mit dem MfS gekommen; sie habe Bereitschaft zu einer Mitarbeit signalisiert. Dabei sei sie wegen einer privaten Angelegenheit unter Druck gesetzt worden. Sie habe Aktivitäten vorgetäuscht, aber keine Ergebnisse geliefert.

Nach Anhörung des Bezirkspersonalrats kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 15. Dezember 1994 außerordentlich fristlos.

Mit der beim Arbeitsgericht am 20. Dezember 1994 eingereichten Kündigungsschutzklage hat die Klägerin geltend gemacht, die Kündigung sei rechtsunwirksam. Sie sei nicht für das MfS tätig gewesen. Der vermeintliche Treffbericht eines Stasi-Mitarbeiters sei kein prozessual verwertbares Beweismittel. Sie könne sich nicht daran erinnern, eine Verpflichtungserklärung abgegeben zu haben. Den Erklärungsbogen habe sie zutreffend ausgefüllt; sie habe angegeben, daß es zu Kontakten mit dem MfS gekommen sei. Zur Zusammenarbeit mit dem MfS sei sie genötigt worden, sie habe jedoch die ihr übertragene Aufgabe nicht erfüllt. Die Personalvertretung sei nicht ordnungsgemäß beteiligt, insbesondere nicht hinreichend unterrichtet worden.

Die Klägerin hat – soweit in der Revisionsinstanz noch von Bedeutung – beantragt

festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung des Beklagten vom 15. Dezember 1994 aufgelöst worden sei.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat vorgetragen, die Klägerin sei für das MfS tätig gewesen. Sie habe die ihr übertragene Aufgabe, näheren Kontakt zu einer verdächtigen Person aufzubauen, erfüllt und zudem dem MfS Informationen über Vorkommnisse an ihrer Schule und über Lehrerkollegen geliefert. Im Erklärungsbogen habe sie bewußt falsche Angaben gemacht, nämlich nicht angegeben, daß sie für das MfS tätig gewesen sei. Ein Festhalten am Arbeitsverhältnis sei deshalb unzumutbar. Der Personalrat sei umfassend über die beabsichtigte außerordentliche Kündigung unterrichtet worden.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision hält die Klägerin an ihrem Klageantrag fest.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht (§§ 564 Abs. 1, 565 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

I. Das Landesarbeitsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, die Kündigung sei nicht wegen fehlerhafter Personalratsbeteiligung unwirksam. Der Kündigungsgrund des Abs. 5 Ziff. 2 EV liege vor. Die Klägerin habe bewußt und gewollt für das MfS gearbeitet, wie sich aus ihren Einlassungen und den vorgelegten Unterlagen der Gauck-Behörde ergebe. Sie habe eine Verpflichtungserklärung abgegeben und Informationen aus dem Umfeld der verdächtigen Person „S.” geliefert. Sie habe die Herkunft der in den Treffberichten enthaltenen Angaben zu Vorgängen an der Schule nicht substantiiert bestritten. Dem Beklagten sei ein Festhalten am Arbeitsverhältnis mit der Klägerin nicht zuzumuten. Zugunsten der Klägerin könnte die relativ kurze Dauer der Mitarbeit von 1974 bis 1975 sprechen. Dem komme aber keine entscheidende Bedeutung zu, weil damit über Art und Qualität der Mitarbeit nichts ausgesagt werde. Zwar seien zum Zeitpunkt der Kündigung zwanzig Jahre seit der MfS-Tätigkeit vergangen. Doch habe es sich um die Weitergabe von Informationen gehandelt, die mit der beruflichen Tätigkeit der Klägerin als Lehrerin zusammenhingen. Die Informationen hätten möglicherweise Kollegen betroffen, die heute noch mit der Klägerin in beruflichem Kontakt stünden. Daher könne auch die zurückliegende Zeit die Tätigkeit nicht in einem anderen Licht erscheinen lassen. Jedenfalls bestehe noch ein akzeptabler zeitlicher Bezug zum aktuellen Arbeitsverhältnis. Die Einlassungen der Klägerin hinsichtlich einer angeblichen Nötigung zur Mitarbeit seien als Schutzbehauptung anzusehen. Abgesehen davon, daß sich aus den Unterlagen der Gauck-Behörde dafür keine Anhaltspunkte ergäben, habe die Klägerin sich insofern überhaupt nicht mit den erstinstanzlichen Ausführungen auseinandergesetzt und keinen Beweis angetreten. Ob die Kündigung auch damit zu rechtfertigen sei, daß die Klägerin im Erklärungsbogen vom 17. März 1991 eine Mitarbeit für das MfS verneint habe, bedürfe keiner Entscheidung.

II. Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts, die zuständige Personalvertretung sei ordnungsgemäß beteiligt worden, trifft zu. Die Revision wendet sich hiergegen auch nicht mehr.

1. Die Beteiligung der Personalvertretung richtet sich im Streitfalle nach § 73 Abs. 6 SächsPersVG. Danach ist der Personalrat vor fristlosen Entlassungen und außerordentlichen Kündigungen anzuhören. Der Dienststellenleiter hat die beabsichtigte Maßnahme zu begründen. Hat der Personalrat Bedenken, so hat er sie unter Angabe der Gründe dem Dienststellenleiter unverzüglich, spätestens innerhalb von drei Arbeitstagen, schriftlich mitzuteilen. Nach § 73 Abs. 7 SächsPersVG ist eine Kündigung unwirksam, wenn der Personalrat nicht angehört wurde.

2. Die gesetzlichen Voraussetzungen der Anhörung sind erfüllt.

Der kündigungsberechtigte Präsident des Oberschulamts hat zutreffend den auf der Ebene des Oberschulamts gebildeten Bezirkspersonalrat beteiligt. Das Schreiben vom 9. Dezember 1994 unterrichtet ordnungsgemäß über die Kündigungsabsicht und enthält die für den Beklagten maßgeblichen Kündigungsgründe, wie sie auch im Kündigungsschutzprozeß vorgetragen werden. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, daß zwei Personalratsmitglieder von dem Angebot Gebrauch gemacht haben, die Unterlagen der Gauck-Behörde einzusehen. Seine Würdigung, dem Bezirkspersonalrat sei es aufgrund der mitgeteilten Gründe und der übergebenen Unterlagen möglich gewesen, sich ein Bild über die Berechtigung der Kündigung zu machen, ist nicht zu beanstanden. Das Anhörungsverfahren war jedenfalls am 15. Dezember 1994 abgeschlossen, nachdem das Schreiben des Bezirkspersonalrats vom 14. Dezember 1994 mit den darin geäußerten Bedenken gegen die beabsichtigte Kündigung beim Oberschulamt eingegangen war. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, der Beklagte habe die Kündigung nunmehr aussprechen dürfen.

III. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Kündigung sei nach Abs. 5 Ziff. 2 EV gerechtfertigt, hält der revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht stand.

1. Nach Art. 20 Abs. 1 EV gelten für die Arbeitsverhältnisse der Angehörigen des öffentlichen Dienstes zum Zeitpunkt des Beitritts die in der Anlage I zum Einigungsvertrag vereinbarten Kündigungsregelungen. Unstreitig hat das im Jahre 1964 begründete Arbeitsverhältnis der Klägerin beim Zugang der Kündigungserklärung mit dem Beklagten fortbestanden. Das Landesarbeitsgericht ist daher zu Recht davon ausgegangen, daß Art. 20 EV Anwendung findet (vgl. Senatsurteile vom 20. Januar 1994, BAGE 75, 266, 272 und BAGE 75, 280, 281 ff.).

2. Die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung vom 15. Dezember 1994 folgt nicht schon daraus, daß der Beklagte bereits mehr als 2 Wochen vor der Kündigung von den maßgebenden Kündigungstatsachen Kenntnis erlangt hat. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat, stellt Abs. 5 Ziff. 2 EV auch insofern eine eigenständige Regelung dar, als Fristen, innerhalb derer die Kündigung auszusprechen ist, keine Anwendung finden. Das gilt für § 626 Abs. 2 BGB ebenso wie für § 54 Abs. 2 BAT-O, sofern es sich hierbei überhaupt um eine gegenüber § 626 Abs. 2 BGB eigenständige Regelung handelt (Senatsurteile vom 11. Juni 1992, BAGE 70, 309, 317 und BAGE 70, 323, 327; Senatsurteile vom 22. April 1993 – 8 AZR 655/92 – und – 8 AZR 656/92 – jeweils n.v., zu II 4 der Gründe). Der Gesetzgeber hat abschließend festgelegt, was unzumutbar ist.

3. Das Landesarbeitsgericht hat seiner Entscheidung zutreffend die ständige Rechtsprechung des Senats zu den Voraussetzungen einer Kündigung wegen Tätigkeit für das frühere MfS zugrunde gelegt.

a) Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV liegt ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung dann vor, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS bzw. Amt für Nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Abs. 5 Ziff. 2 EV unterscheidet nicht zwischen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Damit gilt auch für inoffizielle Mitarbeiter, daß eine außerordentliche Kündigung nur gerechtfertigt ist, wenn eine bewußte, finale Mitarbeit für das MfS/AfNS vorliegt (vgl. BAG Urteil vom 26. August 1993 – 8 AZR 561/92BAGE 74, 120 = AP Nr. 8 zu Art. 20 Einigungsvertrag; BAG Urteil vom 23. September 1993 – 8 AZR 484/92BAGE 74, 257 = AP Nr. 19 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX).

Aus der Eigenständigkeit der Kündigungsregelung in Abs. 5 Ziff. 2 EV folgt, daß es keiner doppelten Unzumutbarkeitsprüfung bedarf. Die Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung bestimmen sich allein nach Abs. 5 EV, der eine zusätzliche Interessenabwägung nach den Maßstäben des § 626 Abs. 1 BGB nicht vorsieht. Anders als § 626 BGB stellt Abs. 5 EV nicht darauf ab, ob ein Festhalten am Arbeitsverhältnis „bis zu einem ordentlichen Kündigungstermin” zumutbar erscheint. Er bringt vielmehr zum Ausdruck, bei Beschäftigten, die die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllen, sei nicht hinzunehmen, daß sie überhaupt länger im öffentlichen Dienst verbleiben. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob der Arbeitgeber durch eine ungebührliche Verzögerung seinem eigenen Verhalten zuwider handelt oder einen Verwirkungstatbestand setzt.

Die außerordentliche Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV setzt weiter voraus, daß wegen der Tätigkeit für das MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Ob dies der Fall ist, muß in einer Einzelfallprüfung festgestellt werden. Abs. 5 Ziff. 2 EV ist keine „Mußbestimmung”. Nicht jedem, der für das MfS tätig war, ist zu kündigen. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die außerordentliche Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Je größer das Maß der Verstrickung, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentlichen Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar (vgl. BAGE 70, 309, 320 = AP Nr. 4 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, zu B II 1 c der Gründe). Beim inoffiziellen Mitarbeiter wird sich der Grad der persönlichen Verstrickung vor allem aus Art, Dauer und Intensität der Tätigkeit sowie aus Zeitpunkt und Grund der Aufnahme und der Beendigung der Tätigkeit für das MfS ergeben.

Die Tätigkeit eines inoffiziellen Mitarbeiters ist häufig nach außen nicht erkennbar geworden. Ein inoffizieller Mitarbeiter arbeitete typischerweise verdeckt. Dennoch kann es nicht darauf ankommen, ob er nicht entdeckt wurde und deshalb seine Tätigkeit für das MfS nicht bekannt ist. Maßgebend ist, ob das Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bei Bekanntwerden der Tätigkeit für das MfS in einer Weise beeinträchtigt würde, die das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar macht. Eine glaubwürdige rechtsstaatliche Verwaltung kann nicht aufgebaut werden auf der Annahme, die Belastung eines Mitarbeiters werde schon nicht bekannt werden.

Ebenfalls bei der Prüfung der Zumutbarkeit zu beachten ist die Art der Tätigkeit, die der Arbeitnehmer in dem in Frage stehenden Arbeitsverhältnis ausübt. Ob das Vertrauen in die Verwaltung durch die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers erschüttert wird, hängt nicht nur von der Verstrickung des Arbeitnehmers mit dem MfS ab, sondern auch davon, welche Wirkungsmöglichkeiten und Befugnisse der Arbeitnehmer in seinem jetzigen Arbeitsverhältnis hat (BVerfG Urteil vom 8. Juli 1997 – 1 BvR 1934/93 – NJW 1997, 2305 f., zu C I 2 b der Gründe). Die Beschäftigung eines belasteten Arbeitnehmers mit rein vollziehender Sachbearbeitertätigkeit oder handwerklicher Tätigkeit wird das Vertrauen in die Verwaltung weniger beeinträchtigen als die Ausübung von Entscheidungs- und Schlüsselfunktionen durch einen ebenso belasteten Arbeitnehmer.

b) Der Frage, ob die frühere Tätigkeit ein Festhalten am jetzigen Arbeitsverhältnis noch zu rechtfertigen vermag, wohnt auch ein zeitliches Element inne. Der Arbeitgeber kann die Kündigung nicht zeitlich unbegrenzt aussprechen. § 626 Abs. 2 BGB stellt eine Konkretisierung des Gedankens dar, daß die Fortsetzung des Dienst- oder Arbeitsverhältnisses aufgrund von Zeitablauf zumutbar werden kann (vgl. näher Senatsurteil vom 28. April 1994 – 8 AZR 157/93BAGE 76, 334, 340 = AP Nr. 13 zu Art. 20 Einigungsvertrag, zu II 3 a bb der Gründe, m.w.N.).

4. Bei der Würdigung der Zumutbarkeit im Rahmen der Einzelfallprüfung sind dem Landesarbeitsgericht Rechtsfehler unterlaufen.

a) Nicht zu beanstanden ist allerdings die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Klägerin sei bewußt und gewollt für das MfS tätig geworden. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht ausgeführt, die Klägerin habe die durch die Gauck-Akten belegten Behauptungen des Beklagten nicht substantiiert bestritten. Die Revision bringt hiergegen wiederum nur vor, es bestehe die Möglichkeit eines atypischen Geschehensverlaufs, MfS-Unterlagen seien oftmals unter dem Druck der Planerfüllung und zur Schonung der Erfolgsbilanz angefertigt worden, häufig sei keine Erinnerung der Kläger bei Vorhaltung lange zurückliegender MfS-Tätigkeiten vorhanden. Diese Ausführungen ersetzen ein substantiiertes Bestreiten des Tatsachenvortrags nicht.

b) Das Landesarbeitsgericht führt zwar – floskelhaft – aus, bei Abwägung aller Umstände sei die Weiterbeschäftigung der Klägerin als Lehrerin für den Beklagten nicht zumutbar. Das Landesarbeitsgericht hat aber nicht alle Umstände des Falles abgewogen. Das angefochtene Urteil kann daher auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten Überprüfungsmaßstabs des Revisionsgerichts keinen Bestand haben.

aa) Das Landesarbeitsgericht hat Art und Qualität der Tätigkeit der Klägerin für das MfS nicht gewürdigt. Es hat die Bedeutung und die Qualität der Auskünfte vielmehr ausdrücklich dahinstehen lassen. Die Klägerin hat sich demgegenüber gerade darauf berufen, im Rahmen des operativen Vorgangs „S.” die gewünschten Auskünfte nicht gegeben zu haben. Der Grad der persönlichen Verstrickung richtet sich aber maßgeblich u.a. nach der Art der Tätigkeit für das MfS, insbesondere dem Inhalt der gelieferten Berichte. Das gilt auch für die Weitergabe von Informationen über Vorkommnisse an der Schule.

bb) Das Landesarbeitsgericht hat die genaue Dauer der Tätigkeit nicht festgestellt („1974 bis 1975”). Keinesfalls durfte es die relativ kurze Dauer mit dem Hinweis abtun, damit sei über Art und Qualität der Mitarbeit nichts ausgesagt; denn es hat Art und Qualität der Mitarbeit gerade nicht gewürdigt. Erst wenn eine intensive oder besonders belastende Tätigkeit festgestellt wird, kann deren kurze Dauer keine Rolle mehr spielen.

cc) Das Landesarbeitsgericht hat auch den Zeitablauf seit Beendigung der Tätigkeit nicht zutreffend berücksichtigt. Der Zeitablauf ist nicht schon deswegen zu vernachlässigen, weil die Weitergabe von Informationen mit der beruflichen Tätigkeit der Klägerin zusammenhing und möglicherweise aktuelle Kollegen betroffen sind. Vielmehr ist der Zeitfaktor in jedem Falle zu berücksichtigen. Längere beanstandungsfreie Zeiträume können auf Bewährung, innere Distanz, Abkehr von früheren Einstellungen und Taten hinweisen (BVerfG Urteil vom 8. Juli 1997 – 1 BvR 2111/94 u.a. – NJW 1997, 2307, 2309, zu C II 2 c bb der Gründe). Das gilt – in abgeschwächter Form – auch dann, wenn die Tätigkeit für das MfS nicht vor dem Jahre 1970 abgeschlossen war und deshalb mehr als nur eine äußerst geringe Bedeutung für den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses haben kann. Die heutige Belastung des Arbeitsverhältnisses ist im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung zudem konkret festzustellen; sie kann je nach den Umständen des Falles unterschiedlich zu bewerten sein. Der abstrakten Möglichkeit, daß aktuelle Kollegen betroffen sind, kommt dabei keine Bedeutung zu. In die Gesamtwürdigung einzubeziehen sind schließlich die Umstände der Beendigung der Tätigkeit für das MfS. Anhaltspunkte hierzu enthalten die in Bezug genommenen Gauck-Akten.

dd) Das Landesarbeitsgericht hat seine Auffassung, es sei als Schutzbehauptung zu werten, wie sich die Klägerin zu den Umständen der Tätigkeitsaufnahme einlasse, nicht nachvollziehbar begründet. Dieser Verfahrensfehler (Verletzung des § 286 ZPO) wird von der Revision zu Recht gerügt. Das Tatsachengericht muß die wesentlichen Grundlagen seiner Würdigung im Urteil nachvollziehbar zum Ausdruck bringen (vgl. nur BAG Urteil vom 30. Mai 1984 – 4 AZR 146/82 – AP Nr. 2 zu § 21 MTL II, zu III 3 der Gründe; Zöller, ZPO, 20. Aufl., § 286 Rz 21; Ascheid, Urteils- und Beschlußverfahren im Arbeitsrecht, 1995, Rz 1021, jeweils m.w.N.). Diesen Anforderungen wird die Begründung des Landesarbeitsgerichts nicht gerecht. Daß sich aus den Unterlagen der Gauck-Behörde keine Anhaltspunkte ergeben, erscheint selbstverständlich und kann nicht zu Lasten der Klägerin gewertet werden. Auch unter Berücksichtigung des in Bezug genommenen Urteils des Arbeitsgerichts bleibt völlig unklar, womit sich die Klägerin hätte auseinandersetzen sollen. Einen Beweis mußte die Klägerin nicht antreten. Vielmehr genügte ein substantiierter Vortrag, ggf. unter Namensnennung, wie die Anwerbung im einzelnen erfolgt ist. Aufgabe des Tatsachengerichts ist es, zu prüfen, ob der Vortrag diesen Anforderungen gerecht wird. Ist dies der Fall, hat grundsätzlich eine weitere Aufklärung zu erfolgen. Sie kann im Rahmen der freien Tatsachen- und Beweiswürdigung nach § 286 ZPO unter dem Gesichtspunkt der Schutzbehauptung ausnahmsweise unterbleiben, wenn das Tatsachengericht die Richtigkeit des Vortrags nach den allgemeinen Denk- und Erfahrungsgesetzen und den weiteren feststehenden Umständen ausschließen kann. Dazu sagt das angefochtene Urteil nichts.

c) Der Senat kann nicht selbst abschließend entscheiden. Zum einen sind, wie dargelegt, noch einzelne Tatsachenfeststellungen erforderlich. Zum anderen ist die notwendige Gesamtabwägung aller Einzelumstände im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung in erster Linie Aufgabe der Tatsachengerichte.

IV. Sofern das Landesarbeitsgericht im erneuten Berufungsverfahren die Wirksamkeit der Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV verneint, wird es die Berechtigung der Kündigung nach § 626 BGB wegen falscher Beantwortung der Frage nach der MfS-Tätigkeit prüfen müssen. Hierfür ist zunächst festzustellen, ob und ggf. inwieweit die Klägerin überhaupt bewußt falsche Angaben im Fragebogen gemacht hat (vgl. BAG Urteil vom 26. September 1996 – 2 AZR 594/95 – n.v.). Die bewußte Falschbeantwortung kann an sich einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung darstellen (Senatsurteil vom 18. Juli 1996 – 8 AZR 523/95 – n.v., zu B III der Gründe; vgl. auch Senatsurteil vom 26. August 1993 – 8 AZR 561/92BAGE 74, 120, 125 ff. = AP Nr. 8 zu Art. 20 Einigungsvertrag, zu B II 5 und 6 der Gründe). Die weiteren Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB müssen umfassend und einzelfallbezogen geprüft werden (vgl. hierzu auch BAG Urteil vom 13. Juni 1996 – 2 AZR 483/95 – AP Nr. 33 zu § 1 KSchG 1969, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; BVerfG Urteil vom 8. Juli 1997 – 1 BvR 2111/94 u.a. – NJW 1997, 2307, 2309, zu C II 2 c der Gründe). Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß der Beklagte die Einhaltung der Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB bisher nicht dargelegt hat.

 

Unterschriften

Ascheid, Müller-Glöge, Mikosch, Krause, E. Schmitzberger

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1093253

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge