Entscheidungsstichwort (Thema)

Abberufung und Kündigung nach Einigungsvertrag

 

Leitsatz (amtlich)

  • Ein vor dem 3. Oktober 1990 durch Berufung gemäß § 61 AGB-DDR begründetes Arbeitsverhältnis kann seit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages nicht nur durch Abberufung, sondern auch durch Kündigung beendet werden.
    • Der Kündigungsgrund einer Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit gemäß Nr. 1 Abs. 5 Ziffer 2 EV ist vom kündigenden Arbeitgeber darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen.
    • Das Gericht darf von der Erhebung zulässiger und rechtzeitig angetretener Beweise nur absehen, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder die Richtigkeit der unter Beweis gestellten Tatsache bereits erwiesen oder zugunsten des Beweisbelasteten zu unterstellen ist. Der völlige Unwert eines Beweismittels muß feststehen, um es ablehnen zu dürfen (vgl. Bundesverfassungsgericht Beschluß vom 28. Februar 1992 – 2 BvR 1179/91 – NJW 1993, 254).
  • Eine ordentliche Kündigung kann nicht gemäß § 140 BGB in eine fristgemäße Abberufung im Sinne von § 62 AGB-DDR umgedeutet werden.
 

Normenkette

Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 1, Abs. 5 Ziff. 2; Einigungsvertrag Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Buchst. c; AGB-DDR 1990 §§ 54, 56, 61-66; ZPO § 286; BGB §§ 140, 611, 626 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Berlin (Urteil vom 13.08.1992; Aktenzeichen 7 Sa 26/92)

ArbG Berlin (Urteil vom 30.01.1992; Aktenzeichen 85 A Ca 18777/91)

 

Tenor

  • Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 13. August 1992 – 7 Sa 26/92 –, soweit es die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. Januar 1992 – 85 A Ca 18777/91 – zurückgewiesen und über die Kosten entschieden hat, aufgehoben.
  • Die Revision des Klägers wird zurückgewiesen.
  • Der Rechtsstreit wird im Umfange der Aufhebung des Berufungsurteils zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen !

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer auf Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 Einigungsvertrag (fortan: Abs. 5 Ziff. 2 EV) gestützten außerordentlichen, einer hilfsweise auf Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 1 Einigungsvertrag (fortan: Abs. 4 Ziff. 1 EV) gestützten ordentlichen Kündigung und über den Anspruch des Klägers auf vorläufige Weiterbeschäftigung.

Der am 13. Juni 1938 geborene Kläger ist Facharzt für Anatomie. Der Ministerrat der ehemaligen DDR berief ihn mit Wirkung vom 1. Februar 1976 zum Hochschuldozenten für Anatomie und mit Wirkung vom 1. Februar 1980 zum ordentlichen Professor für Anatomie an der Medizinischen Falkultät der Beklagten …. Am 1. März 1986 wurde der Kläger zum Direktor des Instituts für Anatomie … ernannt. Der Kläger war von 1978 bis 1980 stellvertretender Parteisekretär und von 1980 bis 1989 Mitglied der Parteileitung der SED an der

Auf eine Anfrage der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung teilte der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes (heute: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, im folgenden: Der Bundesbeauftragte) der Senatsverwaltung mit, aus den überprüften Unterlagen hätten sich Hinweise auf eine Zusammenarbeit des Klägers mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ergeben. Wörtlich heißt es:

“Zu Herrn W… wurde am 08.04.1982 ein IM-Vorlauf der Abteilung XX (Staatsapparat, Kultur, Opposition, Gesundheitswesen) des MfS, Bezirksverwaltung Berlin, Mitarbeiter L… angelegt. Dieser ist am 03.03.1983 in einen IM-Vorgang umregistriert worden, aus dem sich folgende Angaben ergeben:

Herr W… wurde als IMS (Inoffizieller Mitarbeiter für Sicherheit) mit dem Decknamen “J… ” geführt. Der Führungsoffizier G… übernahm Herrn W… am 29.12.1982. Am 11.12.1985 wurde Herr W… weitergeführt vom Führungsoffizier R….

Diese Ergebnisse konnten nur aufgrund der Karteikarteneintragungen (siehe Anlage) ermittelt werden, da der Inhalt der Akten (Teil I und II) entnommen wurde. Die Form und der Zustand der Akten lassen auf einen erheblichen Umfang schließen.

Die Akte Teil I (Personalakte) wurde am 08.04.1982 angelegt, die Akte Teil II (Arbeitsakte) am 02.03.1983.”

Nachdem der Personalrat der Medizinischen Fakultät der Beklagten der beabsichtigten fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses zugestimmt hatte, beschloß die Personalkommission der Beklagten am 22. Juli 1991, der beabsichtigten fristlosen, hilfsweise fristgemäßen Kündigung zuzustimmen.

Mit Schreiben vom 22. Juli 1991, das dem Kläger am 23. Juli 1991 zuging, erklärten die Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung und der Senator als Vorsitzender der Personalkommission der Beklagten die fristlose und vorsorglich auch die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers.

Der Bundesbeauftragte übersandte der Senatsverwaltung mit Schreiben vom 17. Oktober 1991 weitere Ablichtungen aus den Unterlagen seiner Behörde und führte hierzu aus:

“Aus der Kartei F 22 (Vorgangsakte) ist ersichtlich, daß es sich hierbei um den IM-Vorgang “J… ” handelt. Die F 77 (Registrierakte) dokumentiert desweiteren das Anlegen der Teile I und II (Personalakte, Arbeits- und Berichtsakte) zu diesem Vorgang. Die F 78 (Straßenkartei) verweist auf den Wohnsitz der betroffenen Person.

Im Registrierbuch der BV Berlin aus dem Jahre 1982 ist der IM-Vorlauf “J…” mit dem Datum 08.04.1982 für die Diensteinheit XX, Mitarbeiter L…, eingetragen worden. Unter diesem Mitarbeiter wurde vom 01.03.1983 der IM-Vorlauf in einen IM-Vorgang umregistriert. Der Deckname ist dabei beibehalten worden. Aus den Operativgeldbelegen des Mitarbeiter R…, Führungsoffizier des IMS “J…” ab Dezember 1985, ist ersichtlich, daß der IMS “J…” zwischen 1986 und 1988 folgende Zuwendungen erhielt:

Blumen für 11,- M

Sachgeschenk für 191,- M

Blumen für 32,- M.

Vom Mitarbeiter G…, der den IMS “J…” von Dezember 1982 bis Dezember 1985 führte, wurde für den IM anläßlich des 35. Jahrestages des MfS ein Sachgeschenk im Wert von 38,- M verauslagt.”

Mit seiner am 10. August 1991 beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat der Kläger die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung und des Fortbestehens seines Dienstverhältnisses begehrt. Mit seiner Klageerweiterung vom 8. Januar 1992 verlangt er außerdem vorläufige Weiterbeschäftigung für die Dauer des Rechtsstreits.

Der Kläger hat geltend gemacht, er sei in sein derzeitiges Dienstverhältnis berufen worden und könne nur durch ein förmliches Abberufungsverfahren entlassen werden. Eine Kündigung auf der Grundlage des Einigungsvertrages könne ihm gegenüber nicht wirksam ausgesprochen werden. Hilfsweise hat er das Vorliegen eines Kündigungsgrundes bestritten und die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 3 GG gerügt.

Er hat behauptet, zu keiner Zeit repressive oder operative Tätigkeiten für das MfS wahrgenommen zu haben. Er habe zu keiner Zeit Dossiers über Kollegen für das MfS gefertigt und keine Verpflichtungserklärung für das MfS unterschrieben. Er habe niemals Zuwendungen oder sonstige materielle persönliche Vorteile durch das MfS erhalten. Die nach Auskunft des Bundesbeauftragten genannten Führungsoffiziere seien ihm nicht bekannt. Er vermute, daß die Berichte über seine Forschungsarbeit in den USA in den Jahren 1983 und 1984, die er an den Ministerrat der DDR habe schicken müssen, auch dem MfS zugänglich gemacht worden und Bestandteil einer ohne sein Wissen über ihn angelegten Akte geworden seien. Allein so seien die Daten in den Karteikarten zu erklären, nach denen er ab 3. März 1983 als inoffizieller Mitarbeiter beim MfS geführt worden sei. Es könne keine Frage mehr sein, daß sogenannte IM-Akten auch ohne Wissen der abgeschöpften Personen angelegt und die sogenannten inoffiziellen Mitarbeiter insoweit nach Informationen abgeschöpft worden seien.

Der Kläger hat beantragt

  • festzustellen, daß die am 22. Juli 1991 ihm gegenüber ausgesprochene Kündigung unwirksam sei und das Dienstverhältnis ungekündigt fortbestehe,
  • die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluß des hier anhängigen Kündigungsschutzverfahrens zu gleichen Bedingungen weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat geltend gemacht, es sei ihr angesichts der schwierigen Aufgabe des Aufbaus einer nach rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätzen arbeitenden Verwaltungs-, Hochschul- und Klinikstruktur nicht zumutbar, an dem Arbeitsverhältnis mit dem Kläger festzuhalten. Der Kläger sei als Hochschullehrer auch in Forschung und Lehre tätig. Ihm komme eine Vorbildfunktion zu. Sein in der Vergangenheit gezeigtes Verhalten werde diesem Anspruch nicht gerecht. Angesichts des Werdegangs des Klägers könne nicht davon ausgegangen werden, daß er zu einer Mitarbeit beim MfS gezwungen worden sei. Vielmehr habe sich seine Bereitschaft zur Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter aus seiner Überzeugung ergeben. Dafür spreche nicht zuletzt die Tatsache, daß der Kläger schon frühzeitig in wichtigen und herausgehobenen Funktionen für Massenorganisationen und Partei in der ehemaligen DDR tätig gewesen sei. Der Kläger habe mit dem MfS zusammengearbeitet. Dies ergebe sich aus den dem Bundesbeauftragten vorliegenden Unterlagen. Die Auskunft des Bundesbeauftragten sei ein ausreichendes Beweismittel für das Vorliegen des in Abs. 5 Ziff. 2 EV bezeichneten Kündigungstatbestandes. Ein sich hieraus ergebender Beweis bzw. Anscheinsbeweis sei vom Arbeitnehmer zu widerlegen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Es hat angenommen, das Arbeitsverhältnis des Klägers habe ausschließlich durch Abberufung gemäß § 62 Abs. 1 AGB-DDR und nicht durch Kündigung beendet werden können.

Mit Schreiben vom 28. Februar 1992 hat die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut fristlos und vorsorglich fristgemäß gekündigt. Der diesbezügliche Kündigungsrechtsstreit ist ausgesetzt.

Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das arbeitsgerichtliche Urteil hinsichtlich des allgemeinen Feststellungsantrags und des Weiterbeschäftigungsanspruches abgeändert und insoweit die Klage abgewiesen. Im übrigen hat es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zugelassen. Mit seiner Revision begehrt der Kläger Verurteilung der Beklagten zur vorläufigen Weiterbeschäftigung. Die Beklagte strebt mit ihrer Revision die Abweisung der Kündigungsschutzklage an.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Auf die Revision der Beklagten wird das Berufungsurteil zum Teil aufgehoben und die Sache insoweit zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

A. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt:

1. Die Kündigung vom 22. Juli 1991 sei nicht schon deswegen unwirksam, weil das Arbeitsverhältnis der Parteien allein durch Abberufung hätte beendet werden können. Zumindest im Bereich des öffentlichen Dienstes hätten in der Zeit vom 3. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember 1991 die Kündigung und die Abberufung als mögliche Formen der Beendigung von Arbeitsverhältnissen mit berufenen Arbeitnehmern nebeneinander bestanden. Die Übergangsregelung des Einigungsvertrages habe der erleichterten Beendigung von Arbeitsverhältnissen und nicht deren Beschränkung gedient.

2. Die Beklagte habe die Voraussetzungen des Kündigungstatbestandes nach Abs. 5 Ziff. 2 EV nicht ausreichend dargelegt. Die Angaben des Bundesbeauftragten böten gewichtige Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger seit März 1983 unter dem Decknamen “J… ” für das MfS tätig gewesen sei. Es deute nichts darauf hin, daß alle vom Bundesbeauftragten bezeichneten Unterlagen erst später in die Archive und Akten des MfS hineinmanipuliert worden seien. Unter Umständen könnte eine Verdachtskündigung gerechtfertigt sein, diese scheitere aber an der unterlassenen vorherigen Anhörung des Klägers. Durch Aussagen von Mitarbeitern der Behörde des Bundesbeauftragten könne kein Beweis dafür erbracht werden, daß die Angaben in den Unterlagen sachlich und inhaltlich richtig seien und daß deswegen der Kläger inoffizieller Mitarbeiter des MfS gewesen sei. Aus einer Reihe von Umständen sei anzunehmen, daß die Akten des MfS jedenfalls mitunter unwahr, unrichtig oder verfälscht seien. Es sei immerhin möglich, daß zumindest gelegentlich eine Person in den Akten des MfS als “IM” registriert und geführt worden sei, die tatsächlich nicht für das MfS tätig gewesen sei oder nicht gewußt habe, daß sie vom MfS als Quelle benutzt worden sei.

3. Die vorsorglich ausgesprochene fristgemäße Kündigung sei gleichfalls unwirksam, denn die mangelnde Eignung im Sinne des Abs. 4 Ziff. 1 EV könne nicht aus der behaupteten Tätigkeit des Klägers für das frühere MfS hergeleitet werden.

4. Der allgemeine Feststellungsantrag sei wegen der weiteren Kündigung des Arbeitsverhältnisses unbegründet.

5. Der Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluß des Kündigungsrechtsstreits bestehe nicht, denn durch die weitere fristlose, hilfsweise fristgemäße Kündigung bestehe Ungewißheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses, weil die erste Kündigung vom Arbeitsgericht ohne Beurteilung der Kündigungsgründe aus formalen Gründen für unwirksam erklärt worden sei.

B. Das angefochtene Urteil ist nicht in allen Punkten rechtsfehlerfrei.

1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß seit dem 3. Oktober 1990 ein durch Berufung gemäß § 61 AGB-DDR begründetes Arbeitsverhältnis nicht nur durch Abberufung, sondern auch durch Kündigung beendet werden kann. Mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages traten die §§ 54 und 56 AGB-DDR ersatzlos außer Kraft. Sie wurden durch die Bestimmungen des Kündigungsrechts der Bundesrepublik Deutschland ersetzt. Die besonderen Kündigungsvorschriften des Kapitels XIX der Anlage I zum Einigungsvertrag traten hinzu. Damit wurden die durch Berufung begründeten Arbeitsverhältnisse nach den Bestimmungen des bundesdeutschen Arbeitsrechts kündbar, denn eine diesbezügliche Ausnahmevorschrift enthält der Einigungsvertrag nicht. Insbesondere kann eine derartige Ausnahmebestimmung nicht der befristeten Weitergeltung der §§ 62 bis 66 AGB-DDR gemäß Kapitel VIII Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Buchst. c der Anlage II zum Einigungsvertrag entnommen werden. Durch die Weitergeltung der Vorschriften sollte die Beendigung der durch Berufung begründeten Rechtsverhältnisse erleichtert werden. Diesem Zweck würde es widersprechen, aus diesen Übergangsvorschriften den Ausschluß einer an enge gesetzliche Voraussetzungen geknüpften Kündigung abzuleiten.

2. Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV ist ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung insbesondere dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS bzw. Amt für nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Der Senat hat in den Urteilen vom 11. Juni 1992 (– 8 AZR 537/91 – und – 8 AZR 447/92 – AP Nr. 1 und 4 zu Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX, auch zur Veröffentlichtung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen) begründet, unter welchen Voraussetzungen dieser Kündigungstatbestand erfüllt ist. Danach unterscheidet Abs. 5 Ziff. 2 EV nicht zwischen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Damit gilt auch für inoffizielle Mitarbeiter, daß eine außerordentliche Kündigung nur gerechtfertigt ist, wenn sie bewußt beim MfS mitgearbeitet haben. Dies folgt aus der Verwendung der Präposition “für” anstelle der näherliegenden “beim” in Ziff. 2 des Abs. 5 EV. Ausreichend ist jede Tätigkeit, ohne daß ihre Einzelakte festzustellen wären. Der Kündigungstatbestand des Abs. 5 Ziff. 2 EV stellt nicht auf besondere Einzelakte ab, sondern auf die Tätigkeit als solche. Steht diese in Umrissen fest, kann die Einzelfallprüfung ergeben, daß ein Festhalten der Beklagten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint.

Hiervon ist auch das Landesarbeitsgericht ausgegangen und hat richtig erkannt, daß die den Kündigungsgrund ausmachenden Tatsachen vom kündigenden Arbeitgeber darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen sind. Es hat aber zu Unrecht angenommen, die Beklagte habe zum Kündigungsgrund nicht schlüssig vorgetragen und nicht erheblich Beweis angetreten.

Das Berufungsgericht hat den Vortrag der Beklagten einerseits für erheblich und die zur Beweisbarkeit der Tätigkeit vorgebrachten Indizien nicht für ungeeignet erachtet. Es hat jedoch seine Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen der maßgeblichen Tatsachen gebildet, ohne zuvor festgestellt zu haben, ob die Hilfstatsachen vorliegen. Das Vorgehen des Berufungsgerichts ist widersprüchlich und rechtsfehlerhaft. Das Gericht darf von der Erhebung zulässiger und rechtzeitig angetretener Beweise nur absehen, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder die Richtigkeit der unter Beweis gestellten Tatsache erwiesen oder zugunsten des Beweisbelasteten zu unterstellen ist. Der völlige Unwert eines Beweismittels muß feststehen, um es ablehnen zu dürfen. Nur ausnahmsweise kann dies der Fall sein, wenn beispielsweise nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, daß der übergangene Beweisantrag Sachdienliches ergeben und die vom Gericht bereits gewonnene gegenteilige Überzeugung erschüttern könnte (vgl. Bundesverfassungsgericht Beschluß vom 28. Februar 1992 – 2 BvR 1179/91 – NJW 1993, 254).

Ein Absehen vom Eintritt in eine Beweisaufnahme wäre deshalb nur zulässig gewesen, wenn die behaupteten Hilfstatsachen als ungeeignet erachtet worden wären, das behauptete Verhalten des Klägers zu indizieren. Hiervon ist das Berufungsgericht selbst nicht ausgegangen. Die Beklagte hat unter Vorlage der Stellungnahme des Bundesbeauftragten eine Tätigkeit des Klägers für das Ministerium für Staatssicherheit in nicht unerheblichem Umfang behauptet. Zur schlüssigen Darlegung dieser Tätigkeit bedurfte es keiner Erläuterung der Einzelhandlungen des Klägers. Es war ausreichend, daß die Beklagte vorgetragen hat, der Kläger habe unter dem Decknamen “J… ” als inoffizieller Mitarbeiter bewußt und gewollt mit dem MfS zusammengearbeitet. Zudem hat die Beklagte mit Recht auf die herausragende Stellung des Klägers als Direktor eines Instituts und Hochschullehrer hingewiesen und damit die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses dargelegt.

Das Berufungsgericht wird die notwendige Tatsachenfeststellung nachzuholen haben. Dabei wird die Tätigkeit des Klägers nicht mittels Anscheinsbeweises bewiesen werden können. Es geht nämlich nicht um die Bewertung typischer Geschehensabläufe im Bereich des Verschuldens und der Kausalität. Allerdings wird das Landesarbeitsgericht zu berücksichtigen haben, daß Abs. 5 Ziff. 2 EV die tatsächliche Feststellung und Beurteilung einer geheimdienstlichen Tätigkeit voraussetzt, die sich gewöhnlich nicht vor den Augen unbeteiligter Zeugen oder der Öffentlichkeit zugetragen hat. Die zivilprozessualen Möglichkeiten der Tatsachenfeststellung sind auszuschöpfen. Wenn erhebliche Indizien zulässig vorgetragen und unter Beweis gestellt sind, können gerichtliche Zweifel an der Beweisbarkeit einer behaupteten Tatsache erst greifen, wenn das Gericht festgestellt hat, ob die Indizien vorliegen oder nicht.

Zu den Behauptungen der Beklagten wird das Berufungsgericht zu beachten haben, daß die von der Beklagten behauptete Annahme von Geschenken des MfS, wenn sie bewiesen werden sollte, in Verbindung mit dem unstreitigen Sachverhalt (Existenz und Inhalt der den Kläger betreffenden Karteikarten des MfS sowie Vorhandensein benutzter und danach geleerter Aktendeckel des MfS) den Schluß erlaubt, diesen Geschenken seien Handlungen des Klägers für das MfS vorangegangen. Das Berufungsgericht hat gem. § 286 Abs. 1 ZPO unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer durchgeführten Beweisaufnahme nach seiner Überzeugung zu entscheiden, ob es eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr erachtet. Die Beweiswürdigung muß vollständig, widerspruchsfrei und umfassend sein, ohne daß das Gericht verpflichtet ist, auf jede Einzelaussage eines Zeugen einzugehen. Der Richter hat zu prüfen, ob er an sich mögliche Zweifel überwinden kann, braucht diese aber nicht vollständig auszuschließen (vgl. BGHZ 7, 116, 119; 18, 311, 318). Ausreichend ist ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewißheit – und nicht von Wahrscheinlichkeit –, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (vgl. BGH Urteile vom 18. April 1977 – VIII ZR 286/75 – VersR 1977, 721; vom 9. Mai 1989 – VI ZR 268/88 – NJW 1989, 2948, 2949). Zweifel könnten dann die Gewißheit nur ausschließen, wenn sie sich auf festgestellte Tatsachen stützten. Soweit der Kläger sich darauf berufen hat, seine Kontakte zum MfS hätten nur im Hinblick auf zwei von ihm behauptete Vorfälle bestanden (Flucht eines Mitarbeiters, Auslandsreisen), könnte es auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen den Geschenken und diesen Vorfällen ankommen. Zudem drängt sich die Frage auf, wozu das in Auflösung befindliche MfS (bzw. Amt für nationale Sicherheit) die Akten des Klägers geleert haben sollte, wenn der Akteninhalt nur das “Abschöpfen” des Klägers belegt hätte. Wollten sich die Führungsoffiziere selbst entlasten, hätte die Vernichtung der Karteikarten und der gesamten Akten (einschließlich der Aktendeckel) nähergelegen.

3. Die Wirksamkeit der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung beurteilt sich nach Abs. 4 Ziff. 1 EV. Die Beklagte hat zwar vorgetragen, der Kläger habe sich durch die Übernahme von Parteiämtern besonders mit dem SED-Staat identifiziert, so daß seine behauptete IM-Tätigkeit als konsequent erscheine. Es hat die Nichteignung des Klägers aber allein aus der behaupteten Tätigkeit für das MfS hergeleitet. Insofern sind an die die Wirksamkeit der Kündigung begründenden Tatsachen gleiche Anforderungen zu stellen. Ob das die Eignung im Sinne von Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 1 EV mitbestimmende Vertrauen des öffentlichen Arbeitgebers in die Integrität seiner Bediensteten durch den nach sorgfältiger Sachaufklärung nicht ausräumbaren Verdacht einer Tätigkeit des Mitarbeiters rechtserheblich gestört sein kann, bedarf keiner Beantwortung. Die Wirksamkeit einer auf § 626 Abs. 1 BGB gestützten außerordentlichen Verdachtskündigung ist nicht zu beurteilen, weil die Beklagte ihre Kündigung nicht auf den Verdacht einer MfS-Mitarbeit, sondern auf die Tat gestützt hat (vgl. BAG Urteil vom 26. März 1992 – 2 AZR 519/91 – AP Nr. 23 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung). Der Frage einer unterbliebenen Anhörung des Klägers kommt damit keine Bedeutung zu.

4. Die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung kann nicht in eine fristgemäße Abberufung umgedeutet werden.

Gemäß § 140 BGB kann ein nichtiges Rechtsgeschäft in ein anderes Rechtsgeschäft umgedeutet werden, wenn das nichtige Geschäft den Erfordernissen des Ersatzgeschäftes entspricht und dies dem erkennbar gewordenen hypothetischen Parteiwillen entspricht. Das Ersatzgeschäft darf jedoch in seinem Tatbestand und in seinen Wirkungen nicht über das nichtige Geschäft hinausgehen (vgl. nur BGHZ 20, 363, 370; MünchKomm/Mayer-Maly, BGB, 3. Aufl., § 140 Rz 14). Es kann gegenüber dem nichtigen Geschäft ein aliud, nicht aber ein Mehr ausmachen. Gerade das wäre bei der Umdeutung einer unwirksamen ordentlichen Kündigung in eine fristgemäße Abberufung der Fall. Während die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung bei Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes (§§ 1, 23 KSchG) gerichtlich auf das Vorliegen eines Kündigungsgrundes überprüft werden kann, ist eine gleichartige gerichtliche Wirksamkeitsbeurteilung im Falle der fristgemäßen Abberufung nicht vorgesehen. Dementsprechend ist der gerichtliche Rechtsschutz des abberufenen Arbeitnehmers weitaus schwächer ausgestaltet als der eines gekündigten Arbeitnehmers. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß dem abberufenen Arbeitnehmer ein gesetzlich im einzelnen ausgestaltetes Beschwerderecht zusteht (vgl. § 65 AGB-DDR). Danach ist die Stelle, die die Abberufungsentscheidung getroffen hat, verpflichtet, innerhalb von zwei Wochen nach Beschwerdeeingang ihre Abberufungsentscheidung zu überprüfen. Bei Nichtabhilfe ist die Beschwerde dem übergeordneten Organ zur Entscheidung vorzulegen. Dieses übergeordnete Organ überprüft die Abberufungsentscheidung in jeder Hinsicht und nicht nur auf Rechtsfehler. Dieses Abhilfe- und Beschwerdeverfahren würde dem gekündigten Arbeitnehmer genommen, wenn die Kündigung in eine Abberufung umgedeutet werden könnte.

5. Soweit das Berufungsgericht den allgemeinen Feststellungsantrag auf die Berufung der Beklagten abgewiesen hat, ist das Urteil des Berufungsgerichts rechtskräftig geworden.

6. Das Berufungsgericht hat das erstinstanzliche Urteil hinsichtlich der Verurteilung zur vorläufigen Weiterbeschäftigung abgeändert und die Klage insoweit als unbegründet abgewiesen. Die sich hiergegen wendende Revision des Klägers ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat zu Recht erkannt, daß aufgrund der weiteren außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses und des darüber anhängigen Kündigungsrechtsstreits nach wie vor Ungewißheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses besteht. Dabei hat das Berufungsgericht zutreffend berücksichtigt, daß die erstinstanzliche Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit den Kündigungssachverhalt nicht gewürdigt, sondern allein auf formale Gesichtspunkte abgestellt hatte. Somit konnte die Entscheidung des Arbeitsgerichts nicht die Ungewißheit über den Fortbestand wegen einer weiteren Kündigung ausräumen. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob nicht eine vom Berufungsgericht anzustellende Interessenabwägung gemäß den vom Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgestellten Grundsätzen trotz stattgebender erstinstanzlicher Entscheidung zum gleichen Ergebnis geführt hätte. Hierzu wäre auf die besonderen Interessen des öffentlichen Arbeitgebers bei einer auf Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 EV gestützten außerordentlichen Kündigung abzustellen gewesen. Insofern hat der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts in seinem Beschluß vom 27. Februar 1985 (– GS 1/84 – BAGE 48, 122 = AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht) ausgeführt, daß trotz feststellenden Instanzurteils Umstände hinzukommen können, aus denen sich im Einzelfall ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers ergibt, den Arbeitnehmer nicht zu beschäftigen. Hierbei sei auch an die Gründe zu denken, die im streitlos bestehenden Arbeitsverhältnis den Arbeitgeber zur vorläufigen Suspendierung berechtigten. Insbesondere könne sich aus der Stellung des gekündigten Arbeitnehmers im Betrieb und der Art seines Arbeitsbereiches ein überwiegendes schutzwertes Interesse des Arbeitgebers ergeben, den betreffenden Arbeitnehmer wegen der Ungewißheit des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses von seinem Arbeitsplatz fernzuhalten.

 

Unterschriften

Dr. Ascheid, Dr. Müller-Glöge , Dr. Mikosch, Rheinberger, Harnack

 

Fundstellen

Haufe-Index 856679

BAGE, 257

BB 1994, 218

JR 1994, 220

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