Das Wichtigste in Kürze:

1. Im Strafbefehlsverfahren kann sich der Angeklagte nach § 411 Abs. 2 S. 1 auch in der Berufungs-HV durch einen Vertreter vertreten lassen, selbst wenn nach § 236 das persönliche Erscheinen angeordnet worden ist.
2. Umstr. war in Rspr. und Lit., ob über die Zulässigkeit der Vertretung im Strafbefehlsverfahren hinaus eine Vertretung durch einen verteidigungsbereiten Vertreter/Verteidiger, der in der HV anwesend ist, zulässig ist und ob das ggf. der Verwerfung der Berufung entgegenstand.
3. Das "Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe" v. 17.7.2015 hat § 329 zum 25.7.2015 geändert und an die Rspr. des EGMR angepasst.
4. Voraussetzung für die Beschränkung der Verwerfungskompetenz des Berufungsgerichts ist, dass der Angeklagte zu Beginn des Berufungs-HV-Termins von einem mit schriftlicher/nachgewiesener Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten wird.
5. In § 329 Abs. 2 und 4 ist eine Prüfungspflicht für das Berufungsgericht im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungs-HV normiert.
 

Rdn 836

 

Literaturhinweise:

S. die Hinw. bei → Berufung, Allgemeines, Teil B Rdn 640, und bei → Berufung, Verwerfung, Ausbleiben des Angeklagten, Allgemeines, Teil B Rdn 785.

 

Rdn 837

1. Im Strafbefehlsverfahren kann sich der Angeklagte nach § 411 Abs. 2 S. 1 auch in der Berufungs-HV durch einen Vertreter vertreten lassen, selbst wenn nach § 236 das persönliche Erscheinen angeordnet worden ist (OLG Dresden StV 2005, 492 m.w.N.; OLG Düsseldorf StV 1985, 52). Das gilt allerdings nur, wenn das Verfahren durch einen StB eingeleitet worden ist, also nicht im Fall des § 408 Abs. 3 S. 2 (Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 14 m.w.N.).

 

☆ Das gilt nicht in ( sonstigen ) Bagatellsachen (§ 232), wenn der Hinweis an den Angeklagten, dass ohne ihn verhandelt werden könne (§ 231 Abs. 1 S. 1), nicht erfolgt oder sein persönliches Erscheinen angeordnet worden ist.nicht in (sonstigen) Bagatellsachen (§ 232), wenn der Hinweis an den Angeklagten, dass ohne ihn verhandelt werden könne (§ 231 Abs. 1 S. 1), nicht erfolgt oder sein persönliches Erscheinen angeordnet worden ist.

 

Rdn 838

2.a)aa) Umstr. war in Rspr. und Lit., ob über die Zulässigkeit der Vertretung im Strafbefehlsverfahren hinaus eine Vertretung durch einen verteidigungsbereiten Vertreter/Verteidiger, der in der HV anwesend ist, zulässig ist und ob das ggf. der Verwerfung der Berufung entgegenstand. Diese Fragen sind dann durch das "Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe v. 17.7.2015 in § 329 geregelt worden (vgl. Teil B Rdn 847 ff.; krit. zur Neuregelung Jansen StV 2020, 59)."

 

Rdn 839

bb) Zu den mit der Vertretung und/oder der Verwerfung der Berufung auch in den Fällen, in denen ein vertretungsbereiter Verteidiger in der HV anwesend ist, hatte in den vergangenen Jahren mehrfach der EGMR Stellung genommen. Der hat in seiner Rspr. immer wieder das Recht des Angeklagten, sich eines Verteidigers zu bedienen (Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) MRK), betont (vgl. u.a. EGMR NJW 2001, 2387; HRRS 2009 Nr. 981; dazu Gundel NJW 2001, 2380; Meyer-Mews NJW 2002, 1928 in den Anm. zu EGMR, a.a.O. m.w.N. zur Rspr. des EGMR). Der Verzicht des Angeklagten auf Teilnahme an der HV bedeutet danach nicht automatisch auch den Verzicht, sich zu verteidigen oder sich verteidigen zu lassen. Damit war nach Auffassung des EGMR die Verwerfung der Berufung, die allein an das Nichterscheinen des Angeklagten anknüpft, konventionswidrig/unzulässig. A.A. waren in der innerstaatlichen Rspr. die Obergerichte, die u.a. unter Hinweis auf die einen Konventionsverstoß ebenfalls ablehnende Rspr. des BVerfG (StraFo 2007, 190) ebenfalls ausdrücklich einen Konventionsverstoß verneint haben, da es sich nicht um eine "Abwesenheitsverhandlung" im Berufungsverfahren handele (vgl. u.a. BayObLG NStZ-RR 2000, 307; OLG Düsseldorf StV 2013, 299; OLG Hamm StRR 2012, 463). Dazu hatte sich der EGMR im Verfahren Neziraj noch einmal geäußert und die Abwesenheitsverwerfung nach § 329 Abs. 1 S. 1 a.F. in diesen Fällen als einen Verstoß u.a. gegen Art. 6 Abs. 3 Buch c MRK angesehen (s. NStZ 2013, 350 u.a. m. Anm. Püschel StraFo 2012, 490). In der Folgezeit haben dann – soweit ersichtlich sämtliche OLG, die nach dem Urteil des EGMR v. 8.11.2012 (a.a.O.) entschieden haben – die Umsetzung dieser Rspr. auf innerstaatliches Recht abgelehnt (vgl. KG, Beschl. v. 7.2.2014 – 161 Ss 5/14; OLG Brandenburg StraFo 2015, 70 m.w.N.; OLG Bremen StV 2014, 211; OLG Celle NStZ 2013, 615; OLG München NStZ 2013, 358 m. Anm. Gerst StRR 2013, 146). Begründet worden ist das u.a. mit der Bindung der deutschen Gerichte an geltendes Recht, dieses könne nicht gegen seinen eindeutigen Wortlaut ausgelegt werden. Diese OLG-Rechtsprechung hat die Lit. heftig kritisiert (vg...

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